Andrea Lehner-Hartmann: "Wider das Schweigen und Vergessen"

Gewalt in der Familie: Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und praktisch-theologische Reflexionen

"Ich ließ alles vor meinen Augen verschwimmen. Ich nannte das Unwirklichkeit. Zuerst ging die Tiefenschärfe verloren, alles sah eindimensional aus und fühlte sich kalt an. Ich fühlte mich wie ein kleiner Säugling. Dann flog mein Körper wie ein Ballon in den Weltraum."


Bis vor einigen Jahren war das Thema Gewalt in Familien ein Thema, das in der Öffentlichkeit kaum vorkam. Diese Tatsache hat sich in den letzten Jahren geändert, doch von einer ernsthaften öffentlichen Auseinandersetzung mit dieser komplexen Problematik kann nicht wirklich gesprochen werden. In den Medien wird zwar von Gewaltakten aller Art ausführlichst berichtet, aber in einer Weise, die den Zuhörer betroffen macht, aber ihm auch vorspielt, dass sich diese Gewalttaten nur in "nicht-normalen" Familien ereignen. Somit wird ein falsches Bild vorgegaukelt.
Wichtig wäre es in Anbetracht der gesellschaftlichen Dimension von Gewalt, ernsthaft öffentlich zu diskutieren, das Tabu zu brechen und einzugestehen, dass Gewalt in der Familie keineswegs selten vorkommt, sondern bedauerlicherweise fast zur Normalität in Familien und Beziehungen gehört. Woran krankt also unsere Gesellschaft?

Dieser Frage wird ausführlich nachgegangen. Die Autorin versucht eine Auseinandersetzung mit dem Bedrohungsmoment Gewalt, der die gesunde Entwicklung eines Individuums verhindern oder zumindest massiv einschränken kann. Sehr spannend war für mich auch der ernsthafte Versuch, die Themen Gewalt gegen Kinder und Gewalt gegen Frauen, die grundsätzlich immer getrennt behandelt werden, zu verbinden und gemeinsame Auffälligkeiten aufzuzeigen. Dies erfolgt auf einer Metaebene anhand des sozioökonomischen Modells von Urie Bronfenbrenner.

Das Buch besteht aus sechs Teilen, wobei im ersten Kapitel eine Definition des Gewaltbegriffes diskutiert wird. Im zweiten Teil, über den Bereich Gewalt in Partnerschaft, wird auf die unterschiedliche Wahrnehmung von Gewalt seitens Männern und Frauen hingewiesen. Männer sehen Misshandlungen nicht als prozesshaftes Geschehen, sondern als eine Reihe von nichtzusammenhängenden, begründeten Einzeltaten. Frauen hingegen sprechen in der Regel von einem Prozess der Gewalt, in dem Misshandlungen sowohl an Häufigkeit als auch Intensität zunehmen. Es wird auch betont, dass Gewalt in allen sozialen Gruppen vorkommt und die unmoralische Frage gestellt "Warum verlassen misshandelte Frauen ihre Gewalttäter nicht?"

Doch es steht nicht nur physische Gewalt im Vordergrund, auch psychische Gewalt wird behandelt. Diese Form der Gewalt ist davon gekennzeichnet, dass Diskussionsbeiträge von Frauen nicht beachtet oder als unqualifiziert und nichtssagend abgewertet werden. Kritisiert werden Schulausbildung, Aussehen und Verhaltensweisen mit der Absicht, das Selbstwertgefühl der Frau zu demontieren und sie zunehmend abhängiger vom Mann zu machen. Das Thema "sexuelle Gewalt", die Motive der Täter, aber auch Gewalt gegen Ehemänner finden Platz. Eingehend wird im dritten Teil das Thema "Gewalt gegen Kinder" behandelt, wobei auch eines der letzten Tabus, nämlich Täterinnen, nicht ausgespart bleibt. Im letzen Kapitel wird die familiäre Gewalt unter dem Gesichtspunkt der Theologie behandelt und die Erinnerungsarbeit als Leitkategorie pastoraler und religionspädagogischer Praxis vorgestellt.

Insgesamt eine sehr ausführliche, aktuelle Studie zum Thema Gewalt, in die interessante Betrachtungsweisen von verschiedensten FachwissenschaftlerInnen eingeflossen sind. Ein wichtiges Buch für jeden, der bereit ist anzuerkennen, dass Gewalt in Familien ein soziales Problem darstellt, welches ausführlicher und ehrlicher Auseinandersetzung und vor allem auch der Selbstreflexion bedarf. Sicher auch eine geeignete Unterlage, um diese Thematik schon im Schulbereich anzusprechen und so bereits junge Menschen hellhörig zu machen und wichtige Lernziele zu vermitteln. Nämlich einerseits Gewalt als inadäquates Mittel für die Lösung von Problemen, für den Umgang mit Frustration, für den "normalen" Umgang zwischen Männern und Frauen und Kindern zu begreifen und andererseits ausgeübte Gewalt nicht zu entschuldigen und zu tolerieren, sondern als das zu erkennen, was es ist : GEWALT!
Die Autorin, Univ.-Ass. Dr. Andrea Lehner-Hartmann, geboren 1961, ist katholische Theologin am Institut für Religionspädagogik und Katechetik an der Universität Wien.

 (margarete; 04/2003)


Andrea Lehner-Hartmann: "Wider das Schweigen und Vergessen"
Tyrolia, 2002. 290 Seiten. 
ISBN 3-7022-2429-7.
ca. EUR 23,90.
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