Andrea Lehner-Hartmann: "Wider das Schweigen und Vergessen"
Gewalt in der
Familie: Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und praktisch-theologische Reflexionen
"Ich
ließ alles vor meinen Augen verschwimmen. Ich nannte das Unwirklichkeit. Zuerst
ging die Tiefenschärfe verloren, alles sah eindimensional aus und fühlte sich
kalt an. Ich fühlte mich wie ein kleiner Säugling. Dann flog mein Körper wie ein
Ballon in den Weltraum."
Bis
vor einigen Jahren war das Thema Gewalt in Familien ein Thema, das in der Öffentlichkeit
kaum vorkam. Diese Tatsache hat sich in den letzten Jahren geändert, doch von
einer ernsthaften öffentlichen Auseinandersetzung mit dieser komplexen Problematik
kann nicht wirklich gesprochen werden. In den Medien wird zwar von Gewaltakten
aller Art ausführlichst berichtet, aber in einer Weise, die den Zuhörer betroffen
macht, aber ihm auch vorspielt, dass sich diese Gewalttaten nur in "nicht-normalen"
Familien ereignen. Somit wird ein falsches Bild vorgegaukelt. (margarete; 04/2003) Andrea
Lehner-Hartmann: "Wider das Schweigen und Vergessen"
Wichtig wäre
es in Anbetracht der gesellschaftlichen Dimension von Gewalt, ernsthaft öffentlich
zu diskutieren, das Tabu zu brechen und einzugestehen, dass Gewalt in der Familie
keineswegs selten vorkommt, sondern bedauerlicherweise fast zur Normalität in
Familien und Beziehungen gehört. Woran krankt also unsere Gesellschaft?
Dieser
Frage wird ausführlich nachgegangen. Die Autorin versucht eine Auseinandersetzung
mit dem Bedrohungsmoment Gewalt, der die gesunde Entwicklung eines Individuums
verhindern oder zumindest massiv einschränken kann. Sehr spannend war für mich
auch der ernsthafte Versuch, die Themen Gewalt gegen Kinder und Gewalt gegen Frauen,
die grundsätzlich immer getrennt behandelt werden, zu verbinden und gemeinsame
Auffälligkeiten aufzuzeigen. Dies erfolgt auf einer Metaebene anhand des sozioökonomischen
Modells von Urie Bronfenbrenner.
Das Buch besteht aus sechs Teilen, wobei
im ersten Kapitel eine Definition des Gewaltbegriffes diskutiert wird. Im zweiten
Teil, über den Bereich Gewalt in Partnerschaft, wird auf die unterschiedliche
Wahrnehmung von Gewalt seitens Männern und Frauen hingewiesen. Männer sehen Misshandlungen
nicht als prozesshaftes Geschehen, sondern als eine Reihe von nichtzusammenhängenden,
begründeten Einzeltaten. Frauen hingegen sprechen in der Regel von einem Prozess
der Gewalt, in dem Misshandlungen sowohl an Häufigkeit als auch Intensität zunehmen.
Es wird auch betont, dass Gewalt in allen sozialen Gruppen vorkommt und die unmoralische
Frage gestellt "Warum verlassen misshandelte Frauen ihre Gewalttäter nicht?"
Doch es steht nicht nur physische Gewalt im Vordergrund, auch
psychische
Gewalt wird behandelt. Diese Form der Gewalt ist davon gekennzeichnet, dass
Diskussionsbeiträge von Frauen nicht beachtet oder als unqualifiziert und nichtssagend
abgewertet werden. Kritisiert werden Schulausbildung, Aussehen und Verhaltensweisen
mit der Absicht, das Selbstwertgefühl der Frau zu demontieren und sie zunehmend
abhängiger vom Mann zu machen. Das Thema "sexuelle Gewalt", die Motive der Täter,
aber auch Gewalt gegen Ehemänner finden Platz. Eingehend wird im dritten Teil
das Thema "Gewalt gegen Kinder"
behandelt, wobei auch eines der letzten Tabus, nämlich Täterinnen, nicht ausgespart
bleibt. Im letzen Kapitel wird die familiäre Gewalt unter dem Gesichtspunkt der
Theologie behandelt und die Erinnerungsarbeit als Leitkategorie pastoraler und
religionspädagogischer Praxis vorgestellt.
Insgesamt eine sehr ausführliche, aktuelle Studie zum
Thema Gewalt, in die interessante Betrachtungsweisen von verschiedensten FachwissenschaftlerInnen
eingeflossen sind. Ein wichtiges Buch für jeden, der bereit ist anzuerkennen,
dass Gewalt in Familien ein soziales Problem darstellt, welches ausführlicher
und ehrlicher Auseinandersetzung und vor allem auch der Selbstreflexion bedarf.
Sicher auch eine geeignete Unterlage, um diese Thematik schon im Schulbereich
anzusprechen und so bereits junge Menschen hellhörig zu machen und wichtige Lernziele
zu vermitteln. Nämlich einerseits Gewalt als inadäquates Mittel für die Lösung
von Problemen, für den Umgang mit Frustration, für den "normalen" Umgang zwischen
Männern und Frauen und Kindern zu begreifen und andererseits ausgeübte Gewalt
nicht zu entschuldigen und zu tolerieren, sondern als das zu erkennen, was es
ist : GEWALT!
Die Autorin, Univ.-Ass. Dr. Andrea Lehner-Hartmann, geboren 1961,
ist katholische Theologin am Institut für Religionspädagogik und Katechetik an
der Universität Wien.
Tyrolia, 2002. 290 Seiten.
ISBN 3-7022-2429-7.
ca. EUR 23,90.
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