Renate Welsh: "Die schöne Aussicht"


Renate Welsh ist eine mehrfach ausgezeichnete Autorin von engagierter Kinder- und Jugendliteratur. 1937 in Wien geboren, hat sie als Tochter eines Arztes die letzten Jahre der Naziherrschaft, deren Ende 1945 und den schwierigen Weg Österreichs zur vollen Selbstständigkeit bewusst miterlebt.

"Die schöne Aussicht" ist ein Buch, in dem sie diese Erfahrung reflektiert. Die Idee dazu kam ihr durch die Begegnung mit Rosa, die - eben gerade in Rente gegangen - gegen Ende der 1970er Jahre auf eine Anzeige von Renate Welsh antwortet, und fortan für fast 20 Jahre den Haushalt der Schriftstellerin mehr oder weniger übernimmt.

Zunächst war diese Zusammenarbeit nur vorgesehen, bis Renate Welsh von einer längeren Krankheit genesen sein würde, und dann dauerte sie fast zwei Jahrzehnte bis zu Rosas Tod.
Renate Welsh hat uns mit der Geschichte der Rosa, die sie sicher und mit großer literarischer Freiheit ausgestaltet hat, eines der schönsten und bewegendsten Bücher dieses Jahres geschenkt. Ein Buch, das nicht nur ein Frauenschicksal schildert, sondern uns auf hohem literarischem Niveau eine hervorragende Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts aus österreichischer Sicht bietet.

Der Erste Weltkrieg ist kaum vorbei, Europa liegt in Trümmern, die alten Monarchien sind durch wackelige Demokratien abgelöst, die schon den Keim der nächsten Katastrophe in sich tragen, da wird Rosa geboren. Sie ist ein unerwünschtes Kind und wird von ihren Eltern auch so behandelt. Ihre Mutter ist fast 50 Jahre alt, als Rosa als Tochter eines alkoholabhängigen und von der Enttäuschung des verlorenen Krieges zerstörten Wirtes zur Welt kommt. Ihre Geschwister sind um etliches älter als sie, und so verwundert es nicht, dass die Ungeliebte ihr Herz an ihren treuen Hund Barry hängt. Mit seinem Tod und einer traurigen Rosa an seinem Grab beginnt das Buch. Barry, den sie ihr Leben lang nicht vergessen wird, ist das erste Lebewesen, von dem sie Abschied nehmen muss. Viele werden im Laufe des Buches und ihres Lebens nachfolgen.

Als Nächste verschwindet ihre Schwester Marianne aus ihrem Leben. Als diese ungewollt schwanger wird, wird sie von den Eltern verstoßen, und Rosa wird sie nie mehr wiedersehen.

Sie beginnt eine Lehre als Weißnäherin bei Frau Michallek, zu der sie bald tiefes Vertrauen fasst und die ihr zu einer zweiten Mutter wird. Bald lernt sie Josef kennen und verliebt sich in ihn. Josef ist Schreiner und hat einen Hund, der Rosa an das erste Wesen erinnert, das sie liebte, ihren Hund Barry. Rosa ist zum ersten Mal in ihrem Leben glücklich. Doch das Glück ist brüchig. Josef stirbt bei einem tödlichen Arbeitsunfall, und Frau Michallek emigriert nach Prag. Sie ist Jüdin und flieht nach dem "Anschluss" Österreichs vor den Häschern der Gestapo und der SS.

In der Wirtsstube der Eltern, wo sie neben ihrer Arbeit als Weißnäherin immer wieder aushelfen muss, lernt sie den älteren Witwer Ferdinand kennen, der sofort um ihre Hand anhält. Doch als sie gerade beginnt, diesen stillen, aufrechten Mann zu lieben, wird er von der Gestapo verhaftet und verschwindet in einem der immer zahlreicher werdenden Todeslager. Er war im Widerstand aktiv und hatte vielen Flüchtlingen und Verfolgten Unterschlupf gewährt.

Und hier erkennt sie, dass sie zu keinem der Wesen, die sie verloren hat, jemals gesagt hat, dass sie sie liebt:
"Ich schleppe sie alle in mir herum, hab ja keinen begraben dürfen, von denen, die mir ganz nahe waren ..."

Nach dem Krieg wird sie Straßenbahnfahrerin und lebt ein stilles, zurückgezogenes Leben immer im inneren Dialog mit ihren Toten.

Als sie nach ihrer Berentung zu den Welshs kommt, erfährt sie noch einmal neuen Lebenssinn - und Renate Welsh bekommt nach ihrem Tod durch ihre Person und ihr Wesen den letzten Anstoß für dieses wunderbare Buch.

"Ich glaube", sagte Renate Welsh in einem Interview, " dass Bücher der Hoffnung mehr Platz einräumen können, dass sie die Grenzen des Verstehens und der Einsicht ausdehnen können, dass sie denen eine Sprache geben können, die noch nicht für sich selbst reden. In der Hoffnung auf Hoffnung schreibe ich - und weil mir gar nichts Anderes übrigbleibt."

"Die schöne Aussicht" ist ein außerordentliches gutes Buch über ein Schicksal, wie es wohl Hunderttausende gab in jenem Reich, das 1000 Jahre währen wollte, und das die größte Katastrophe und das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte hinterlassen hat.
Bücher wie dieses werden auch in der Zukunft nötig sein, damit die Erinnerung an die Gequälten und Vernichteten nicht verblasst.

(Winfried Stanzick; 12/2005)


Renate Welsh: "Die schöne Aussicht"
dtv, 2005. 240 Seiten.
ISBN 3-423-24494-1.
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Leseprobe:

Rosa hockte an Barrys Grab unter den Fliederbüschen am Hintereingang zum Gasthaus, zupfte verwelkte Blüten von den Kapuzinerkressen, nicht daß sie gerade an den Bernhardiner dachte, es war nur der Platz geworden, an den ihre Füße gingen, ohne besondere Aufforderung. Auch wenn die Büsche längst kahl waren, wenn es von den Zweigen tropfte und ihre Schuhe in der nassen Erde einsanken, hockte sie hier, mit gespreizten Beinen, manchmal stützte sie die Hände auf und vergaß, daß sie es getan hatte, dann schimpfte die Mutter über den verkrusteten Matsch auf dem Mantel. Rosa mußte den Fleck ausbürsten, bis nichts mehr davon zu sehen war. Ansonsten schüttelte die Mutter zwar immer wieder den Kopf über die Tochter, doch wunderte sie sich nicht mehr. Ein altes Ei und alter Samen, sagte sie, was konnte man da erwarten? Sie sagte es auch, wenn Rosa in Hörweite war. Mich dürfte es eigentlich nicht geben, dachte Rosa oft. Die Mutter war fünfzig, als sie geboren wurde, ihre älteste Schwester dreißig.
Die Prüfung in Geschichte war nicht gut ausgegangen, unter dem Blick der Lehrerin wurde Rosas Kopf leer, sie hatte gelernt, gestern wußte sie, wann der Siebenjährige Krieg begann, jetzt wußte sie es wieder, 1756, natürlich 1756, nur in der Klasse stand sie blöd und stumm, und die anderen kicherten, und Hanna stupste Bärbel mit dem Ellbogen an und verzog das Gesicht. Hanna mit den dicken braunen Zöpfen, Hanna mit den großen dunklen Augen, Hanna mit der zarten Nase, Hanna mit den schmalen Fingern und den ovalen rosaroten Nägeln, kein einziger abgebissen oder eingerissen. Hanna, die so gut roch, die radschlagen konnte und immer eine Antwort wußte. Wenn die Lehrerin Hanna aufrief, um ein Gedicht vorzutragen oder ein Lied zu singen, sträubten sich die Härchen auf Rosas Armen und sie spürte etwas wie einen sanften Wind im Nacken. Alle Mädchen wollten neben Hanna sitzen, alle wollten ihre Hand halten, wenn sie sich in Zweierreihen aufstellen mußten. Hanna lächelte dann gleichmütig in die Runde. Auch die Erwachsenen lächelten, wenn sie Hanna ansahen, sogar die strenge Handarbeitslehrerin und der finstere Schulwart. Ein einziges Mal war es Rosa gelungen, als erste neben Hanna zu stehen, da merkte sie, wie schweißnaß ihre Hände waren, und trat schnell zur Seite. Rosa wußte, daß sie kein schönes Kind war. Ihre Nase war zu klobig, ihr Gesicht zu breit, ihr ganzer Körper zu gedrungen, ihre Füße und Hände zu groß, die Haare zu strähnig. Die riecht doch immer nach Wirtshaus, hatte Marianne gesagt, laut genug, daß Rosa es am anderen Ende des Turnsaals hören konnte. An dem Abend zog sie die Tuchent über den Kopf, zuerst merkte sie nichts, aber dann roch sie es: schales Bier, Tabak, Zwiebeln und brutzelndes Schmalz. Von da an hatte sie den fettigen Dunst in der Nase, sobald sie die Haustür öffnete, der ließ sich auch nicht hinausschneuzen, selbst wenn sie Wasser hochzog und wieder ausprustete. Die Mutter verbot ihr, öfter als einmal in vierzehn Tagen den Kopf zu waschen, davon würden die Haare dünn, sagte sie, und fielen aus. Rosas Haare waren ohnehin dünn.
Rosa zog eine Brennessel aus dem Boden, wunderte sich, wie lang und wie gelb die Wurzel war, zerkrümelte Erde zwischen den Fingern. Kühl fühlte sie sich an.
Die Mutter steckte den Kopf aus der Hintertür, rief Rosa. Semmeln solle sie holen. Zum Bäcker ging sie gern, zum Fleischhauer nicht, von dem Geruch nach Blut wurde ihr übel. Als sie zurückkam, saß die alte Frau Wiesner am Tisch in der Fensternische und schlürfte schmatzend Gulyassuppe. Rings um ihren Mund glänzte der rote Saft. Sie grabschte eine frische Semmel aus Rosas Korb, putzte den Teller aus, schob ihn mit einer ungeduldigen Bewegung bis an die Tischkante, so daß Marianne herlief, um ihn vor dem Fallen zu retten. Die Wiesner verlangte Kaffee mit viel heißer Milch, ohne Haut, und einen kleinen Cognac. Während sie darauf wartete, nahm sie ihr Strickzeug zur Hand und begann mit klappernden Nadeln an einem grünen Socken zu stricken. Rosa schauderte es. Sie hatte gehört, wie die Schwester mit ihren Freundinnen flüsterte, die Wiesner mache noch ganz andere Dinge mit ihren Stricknadeln. Die jungen Frauen scheuchten Rosa weg, bevor sie Genaueres erfuhr, aber aus ihren fahrigen Gesten, den geröteten Wangen, den gesenkten Stimmen wußte sie, daß es sich um Da-unten handeln mußte, um das unaussprechliche Geheimnis, um Männer und Frauen und die schrecklichen Dinge, die sie miteinander anstellten. Früher hatte Rosa manchmal Geräusche aus dem Zimmer der Eltern gehört, vor denen sie sich unter der Decke verkrochen hatte, seit langem schon hörte sie nur mehr Vaters schwere Schuhe auf den Boden plumpsen, aber als die Eltern am Ruhetag im Kino waren, hörte sie noch beängstigendere Geräusche aus dem Zimmer, das sie mit der Schwester teilte. Sie riß die Tür auf; noch bevor sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie mehr sah als den hellen Fleck des Bettes, drohte eine Männerstimme mit Prügeln, wenn sie nicht sofort verschwände. Rosa blieb auf halber Höhe der Treppe sitzen, döste irgendwann ein und wachte erst auf, als der Mann über sie hinwegstieg, sich umdrehte, sie unters Kinn faßte und dabei laut und gurgelnd lachte. Später steckte ihr Marianne eine Kokoskuppel zu und legte den Finger an den Mund.
Die Wiesner verlangte eine Kokoskuppel. Rosa erschrak. Konnte die Frau Gedanken lesen? Die Wiesner setzte ein Grinsen auf, vor dem Rosa heiß und kalt wurde, und zeigte mit der Stricknadel auf sie. Rosa solle die Kokoskuppel bringen, sie habe jüngere Beine, sagte die Wiesner. Mit abgewandtem Gesicht stellte Rosa den Teller auf den Tisch, die Wiesner ließ die Stricknadeln fallen, packte Rosas Kinn, betrachtete sie und schüttelte den Kopf. Rosa schämte sich, sie wußte nicht recht wofür, sie fühlte, wie sie rot wurde, häßliche rote Flecke bekam sie im Gesicht und am Hals, vor ein paar Tagen hatte sie sich im Spiegel erblickt, als sie genau diese Hitze spürte, und war erschrocken, weglaufen wollte sie und konnte nicht, blieb stehen vor diesem bösen, anklagenden Spiegel, bis Marianne ärgerlich nach ihr rief und sie aus der Erstarrung löste.
Die Wiesner lachte. In ihrer linken Mundecke bildeten sich Bläschen, in einem davon war ein Kokosschnipsel, eins glitzerte bräunlich-rosa von der Kakaocreme. Die dicken weichen Finger der Wiesner hielten immer noch Rosas Kinn, sie mußte dableiben und die Bläschen anstarren, als sie den Kopf zur Seite drehte und die Mutter hilfesuchend anschaute, ließ die Wiesner los und sagte zur Mutter, es werde nimmer lang dauern. Die Mutter strich sich die Haare aus der Stirn und von den Wangen, verschränkte die Hände über dem Bauch und senkte den Kopf. Der Nagel am Mittelfinger ihrer rechten Hand war eingerissen. Wie rot ihre Hände waren, wie dick die blauen Venen an den Handrücken. Hannas Mutter hatte ganz schmale Hände und lange rosarote Fingernägel. (...)

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