Hans Georg Wegener: "Seltsamia"
Sieben seltsame Geschichten diesseits und jenseits des Gefühls
Das schmale in Tschechien gedruckte
Büchlein wird schon auf den ersten Blick rein äußerlich seinem Titel gerecht,
denn "seltsam" muten sowohl Format als auch Gestaltung des Buchdeckels an:
Zwischen schwarzblauen Längszickzackleisten auf orangerotem Untergrund prangt
eine Zeichnung, die einen übernächtigen bartstoppeligen Glatzköpfigen im
gestreiften Schlafanzug zeigt, der, ein Gewehr umklammernd, auf einem Bett
sitzt.
Die Seiten aus grobem Papier wurden, für Bücher untypisch, jeweils
zweispaltig bedruckt.
"Seltsamia", erschienen in der Reihe
"mutabor. phantastische Bücher", die mit "Mumien, Monstren,
Mutationen" aufwartet, beinhaltet, wie der Untertitel besagt, "sieben
Geschichten diesseits und jenseits des Gefühls".
Man kennt
"mutabor" nicht zuletzt aus Wilhelm Hauffs Märchen "Kalif
Storch", wo es als Zauberwort gebraucht wird.
"Seltsamia",
laut Verlagstext "entstanden in Russland in der ersten Dezemberhälfte des
letzten Kriegsjahres", erstmals 1919 erschienen, bietet buchstäblich
schnelle, reißerische Lektüre, knallige Exponate aus der einstmals schicken
Kollektion der deutschsprachigen
Fantastik, die
heutzutage ein Aschenputteldasein fristet, dennoch gelegentlich aufblitzt,
beispielsweise - wiewohl auf weitaus höherem Niveau und überwiegend ohne
genreübliche Effekthascherei - in "Dunkle Gesellschaft. Roman in zehn
Regennächten" von Gert Loschütz.
Ganz selbstverständlich und in
nüchternem Ton breitet darin ein Erzähler seine bizarren Erinnerungen im Verlauf
von zehn innerlich regen Nächten aus, blickt auf befremdende Erlebnisse und
Begegnungen mit rätselhaften Gestalten zurück.
Übrigens fanden selbst für
meinungsmachende Blätter literaturvorkostende Kritiker, oftmals auffallend
berührungsängstlich im Umgang mit fantastisch angehauchten Werken, Gefallen an
"Dunkle Gesellschaft".
So schrieb Sei
es, dass Menschen scheinbar völlig grundlos verschwinden, Doppelgänger
sowie undurchsichtige Verfolger auf der Bildfläche erscheinen, brenzlige
Ereignisse aus der Vergangenheit schlagartig gegenwärtig werden, dass der
Erzähler ebenso kurzfristig wie unfreiwillig als Sektenführer auf einem Thron
landet, oder dass er sich in einem nur vermeintlich geheimen Dreiecksverhältnis
wiederfindet: Gert Loschütz entschleiert nicht, er lässt sowohl den Geschichten
als auch den Charakteren ihre innersten Geheimnisse, nötigt dem Leser keinerlei
banale Erklärungsmodelle auf. "Dunkle Gesellschaft" stellt einen der
raren Lichtblicke im nicht selten spröden, bemüht sachlichen Schaffen
zahlreicher zeitgenössischer Literaten dar.
Doch zurück zu
"Seltsamia":
Wie Hans Georg Wegener in seinem Vorwort erläutert,
wählte er den Untertitel des Bandes mit Bedacht: "Wenn ich nun die
Geschichten diesseits und jenseits des Gefühls benenne, so soll das heißen, dass
Ethisch-Kurzsichtige die üblichen Sehbrillen zuweilen mit schärferen Gläsern
vertauschen müssen, um die Situationen zu erfassen und sich in der Ferne zu
orientieren. Krieg und Frieden haben ja schon für alle die, die nicht in diesen
Ereignissen ein Strafgericht Gottes sehen, Perspektiven über die
Siebenmeilengrenze hinaus eröffnet (...)."
Nicht zu unterschätzenden
Anteil am Reiz fantastischer Literatur haben bekanntlich jene Handlungsträger,
für die eigene
Regeln gelten, was das Verständnis von sowie den Umgang mit Recht und Moral,
Gewissen und Anstand anbelangt. Häufig bewegen sich diese Figuren im
Grenzbereich dessen, was für biedere Bürger gerade noch vorstellbar sein mag,
bisweilen setzen sie sich freilich mit schaurigem Vergnügen über Gebote wie
Verbote hinweg und werfen alle Hemmungen über Bord.
"Ob Tatsachen
wahr oder nur möglich sind, welcher Phantast würde an diesem Unterschied Anstoß
nehmen?"
(Hans Georg Wegener)
Allem Anschein nach schrieb sich
Hans Georg Wegener innerhalb kurzer Zeit allerhand beklemmende Düsternis von der
Seele, denn seine von Zynismus und Morbidität durchtränkten Kurzgeschichten
steuern allesamt schnurstracks auf ziemlich vorhersehbare Höhepunkte bzw.
Abschlüsse zu. Wie der Verleger anmerkt, "entzieht sich Hans Georg Wegener
unseren biografischen Untersuchungen gänzlich. Wir wissen nur, dass er im Ersten
Weltkrieg als Frontsoldat beteiligt war und dass dieser Krieg, wie seine Prosa
zeigt, Spuren hinterlassen hat."
In der ersten Geschichte, "Das
Erbbegräbnis der Grafen von Sorms", gestehen einander der frisch verwitwete
fünfzigjährige Graf Görg Sorm und dessen junge Nichte Ursula ausgerechnet
anlässlich der Beisetzung der verstorbenen Gräfin in der Familiengruft, wo die
Leichname der Ahnen der Sorms an langen Tafeln auf hochlehnigen Stühlen sitzen,
ihre Liebe.
Eine aufreizende, hexenhafte Wirtin, für das Verschwinden
zahlreicher ansehnlicher Burschen verantwortlich, steht mit wogendem Busen in
"Das Geheimnis des Luchhainer Moores" im Zentrum des Geschehens, und nur
unter Aufbietung all seiner Kräfte vermag der verwegene Vetter des Staatsanwalts
einer ebenso erregenden wie lebensbedrohlichen Situation im Moor zu
entkommen.
Tobias Murg, "Der Kirchenschänder von Groß-Ettern",
steigert sich in einen tobsüchtigen zerstörerischen Veitstanz und begeht gar
abscheuliche Freveltaten, bevor er die verwüstete Bergkirche mit gestohlenen
Messkelchen verlässt: "Dann schritt er, wie er gekommen, in den jungen
taufrischen Morgen hinaus."
Auf sein gewaltsames Ableben treibt im
"Rattenhaus an der Beresina" der eigensinnige Hauptmann Holleisen
aufgrund einer Wette zu, alle Warnungen vor einer unheilbringenden Ratte hinter
der Wandverschalung in den Wind schlagend, sich dreizehn schlaflose Nächte lang
zunehmend irrlichternden perversen Gedanken hingebend. ("Da fiel Holleisen
ohnmächtig hinterüber, aber er bemerkte noch in der Dämmerung des Geistes, wie
sich jemand über ihn warf, ein ekliges Etwas, das ihn küssen und lieben wollte
...")
In der wohl gelungensten Geschichte des Bandes, "Der
Sammler", lernt man Dr. Frobenius, seines Zeichens Vertrauensarzt einer
Versicherungsgesellschaft, kennen, der eine einzigartige Sammlung sein Eigen
nennt: In Glaskästen bewahrt er präparierte Finger, Hände, Zehen, Füße, Nasen
und Ohren auf. Hans Georg Wegener rüttelt einmal mehr provokant am kranken
Wertesystem der Moderne, indem er Dr. Frobenius erläutern lässt: "Geld ist
alles! Wenn ich heute eine schöne oder charakteristische Hand sehe, deren Typus
ich noch nicht in meiner Sammlung habe, so kaufe ich sie von dem Lebenden. (...)
Und alle, die Geld brauchen, sind käuflich, verkaufen ihre Gliedmaßen, wie sie
ihre Überzeugung feil halten. Für mich gibt es nur eine Frage, wie viel ich
aufwenden kann und will." Konsequenterweise unterbreitet der Arzt auch dem
Erzähler einen diabolischen Vorschlag ...
Ein Gemälde ist das hasserfüllte
Vermächtnis und die Rache des armen, schwindsüchtigen Malers Fritz Elsner an
seiner triebhaften, mit einem weibstollen Kommerzienrat verheirateten
Vermieterin. Das Bild, in nächtelangen Sitzungen mit einem ermordeten
Nebenbuhler als Modell entstanden, gibt der vorletzten Geschichte ihren Titel:
"Der moderne Totentanz".
Aufgrund von Krieg und Grippe floriert
"Das Bestattungsinstitut Selke", dessen Inhaber, von Profitstreben
getrieben, betrügerische Machenschaften nicht scheut, bis er sich schließlich
unsterblich in eine Leiche verliebt und sein Schicksal besiegelt
...
Den Geschichtenreigen beschließt ein originelles Nachwort des
Autors, worin Hans Georg Wegener von Begegnungen mit seinen unauslöschlichen
Kopfgeburten berichtet, die ihn ob der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften und
Geschicke tadeln, und das mit dem Satz "So gehen wir an uns selbst zu
Grunde." endet.
(kre; 02/2006)
Hans Georg Wegener: "Seltsamia"
Sieben Erzählungen mit einem Vor- und Nachwort des
Autors.
Mit Reproduktionen der farbigen Holzschnitte von Heike
Küster.
Achilla Presse, 2004. 80 Seiten.
Erschienen in der Reihe "mutabor
- phantastische Bücher", Band 4/5.
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Buchtipp:
Gert Loschütz:
"Dunkle Gesellschaft. Roman in zehn Regennächten"
Thomas, den
Binnenschiffer, hat es von den Flüssen weg in die niedersächsische Provinz
verschlagen, wo das Land weit ist, der Himmel tief hängt und ihn nachts die
Unruhe aus dem Haus treibt. In zehn Regennächten erinnert er sich an
fantastische Begebenheiten, an Stationen seiner Reise, auf die ihn das Leben
geschickt hat. Immer wieder ist er dabei einer Gruppe von schwarzgekleideten
Leuten begegnet, deren Auftauchen Unheil und Katastrophen ankündigt, eben jener
dunklen Gesellschaft, vor der ihn schon sein Großvater gewarnt hatte.
In zehn
geheimnisvollen Kapiteln entfaltet sich eine magische Spannung und
apokalyptische Suggestivkraft, entsteht eine beklemmend dichte, immer wieder ins
Magisch-Surreale hinübergleitende Welt. Jede Geschichte spielt zu einer anderen
Zeit, an einem anderen Ort - Berlin, London, New York, Rom, Wien, in einer
brandenburgischen Kleinstadt, an der östlichen Spree -, und überall ist die
Bedrohung allgegenwärtig, die von dieser starren und dunklen Gesellschaft
ausgeht, auch da noch, wo sie gar nicht selbst auftritt, sondern nur wie ein
Menetekel auf einem Bild erscheint. Bis Thomas, nach einer letzten Begegnung mit
den Dunklen, die in einem sintflutartigen Regen untergegangene Gegend wieder
verlassen darf ... (Frankfurter Verlagsanstalt)
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Weitere Bücher der Reihe "mutabor.
phantastische Bücher":
Franz Kreidemann: "Der Fluch"
Erzählung, dem Band "Pan's Marionettenspiel. Seltsame
Liebesgeschichten" von 1921 entnommen.
Franz Kreidemann entzieht sich
biografischen Untersuchungen nicht mehr gänzlich. 1870 in Brandenburg geboren,
lebte und arbeitete Kreidemann viele Jahre als Schauspieler in Hamburg, wo er an
allen renommierten Bühnen der Stadt zu Hause war. Er starb 1953 in
Hamburg.
In "Der Fluch" schuf Franz Kreidemann eine düstere Atmosphäre um
seine Protagonisten. Im nebligen London der Jahrhundertwende fällt Mr. Allibone
seinem lange prophezeiten Schicksal, einem Fluch, zum Opfer. Von zwanghaften
Vorstellungen, Alpträumen und einer fortschreitenden grauenvollen
Verwandlung
seines Körpers gepeinigt, stürzt er sich, und in der Verstrickung der
Ereignisse, auch seine Freunde ins Unglück. Robert Coleridge wird von zwei
Schicksalsschlägen schwer getroffen: Seine Verlobte verlässt ihn und
verschwindet unter mysteriösen Umständen. Doch eines Tages taucht sie wieder
auf, ausgemergelt, bleich und sterbend, da ihr Körper kaum mehr einige Tropfen
Blut aufweist. Coleridge schwört Rache ... ("mutabor - phantastische Bücher",
Band 1)
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Arno Hach: "Die
Menschenhaut"
Paris nach der Französischen
Revolution: Die "Schreckensherrschaft" des Konvents lässt selbst den Leichnamen
guillotinierter Staatsfeinde und Übeltäter keine Ruhe. In der kleinen Gerberei
zu Meudon enthäutet der Bürger Vinaigre nicht nur Vieh, auch die sterblichen
Überreste von Menschen werden zu Leder und Kleidung verarbeitet. Eines Tages
erhält er den Auftrag eines gewissen Marquis Rochell, aus der Haut einer jungen,
hingerichteten Dame eine Hose zu schneidern ... ("mutabor - phantastische
Bücher", Band 2)
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Leopold Günther-Schwerin: "Der
Kleptomane"
Erzählung, entnommen dem Band
"Wahr oder Wahn" von 1910.
Leopold Günther-Schwerin wurde 1865 geboren. Er
war Kunstmaler. Seinerzeit veröffentlichte er einige Geschichten in der
fantastischen Zeitschrift "Der Orchideengarten". "Der Kleptomane" ist ein
unmögliches, durchgeknalltes Erzeugnis der zehner Jahre des 20. Jahrhunderts,
das dem Autor offensichtlich großen Spaß bereitet hat.
In der fantastischen
Buchreihe "mutabor" debütierte Christoph Feist aus Leipzig, der eine ganz
eigene, grafische Bildsprache entwickelt hat. Die mehrfarbigen Linolschnitte
wurden in Echtfarben gedruckt, so dass die Authentizität und Strahlkraft der
Farben besser zur Geltung kommen. ("mutabor - phantastische Bücher", Band
3)
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Noch ein Buchtipp:
Robert
Bloch: "Bibliographie der Utopie und Phantastik 1650-1950 im deutschen
Sprachraum"
Mit einem Vorwort von Franz
Rottensteiner.
Die deutsche fantastische, unheimliche und utopische Literatur
vor 1950 ist bis heute weitgehend unerschlossen geblieben. Nur wenige Autoren
wurden bisher in modernen Ausgaben verlegt. Die wissenschaftliche Erforschung
des Genres steckt noch in den Kinderschuhen. Eine der Hauptursachen hierfür ist
das Fehlen einer maßgeblichen Bibliografie, welche über den Korpus der deutschen
Fantastik Auskunft gibt.
Robert N. Bloch, der führende Kenner auf diesem
Literaturgebiet, legt das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Recherchen vor, eine
Bibliografie, welche das weite Feld der utopischen, übersinnlichen, grotesken,
surrealen, mystischen und märchenhaften Fantastik über drei Jahrhunderte
dokumentiert. Auch Übersetzungen wurden mit Originaltitel und Übersetzer
berücksichtigt. Man findet hier die fantastischen Werke berühmter Literaten wie
Charles
Dickens, Dostojewski,
Gerhart Hauptmann oder Ludwig Tieck, die Werke der einschlägig bekannten
Verfasser wie Hans Dominik,
Hanns Heinz Ewers,
Kurd Lasswitz oder
Jules
Verne und in reichem Umfang die Namen unbekannter, vergessener Autoren,
deren Werke der Wiederentdeckung harren.
Eine Titelaufnahme setzt sich wie
folgt zusammen: Laufende Nummer, Name des Autors, Lebensdaten, Bürgerlicher Name
bei Pseudonym, Titel, Untertitel (alternative Titel späterer Ausgaben),
Verlagsort, Jahr, Verleger, Seitenzahl, Verlagsreihe, Illustrationen,
Inhaltsangabe bei Erzählungsbänden. Der Band ist mit Titelindex und
chronologischem Index versehen. (Achilla Presse)
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