Jakob Wassermann: "Die Juden von Zirndorf"
"Nun, das ist doch jüdische Degeneration, wie sie im Buch steht."
Als Jakob Wassermann im Jahre 1897 "Die
Juden von Zirndorf" veröffentlichte, erging sich die Kritik über dieses Werk
des bis dahin noch unbekannten Romanciers in Lobeshymnen, obgleich das Buch
zuerst beim Leser nur mäßig gut ankam. Namentlich
Arthur Schnitzler prophezeite
dem jungen Prosaisten aus Fürth eine glänzende Zukunft und Stefan Zweig prämierte
das Frühwerk des Süddeutschen in einer 1912 verfassten Würdigung als schlichtweg
genial. Solch enthusiastische Urteile mögen uns heute befremden, zumal, bei
aller unzweifelhaft gegebenen Kunstfertigkeit, der Text seine Schwächen hat,
sowohl formal als auch inhaltlich.
Aus der Sicht des Germanisten betrachtet, handelt es sich bei gegenständlicher
Erzählung um einen klassischen Entwicklungsroman, wonach die Hauptfigur über
das Spannungsverhältnis zu der sie umgebenden Lebenswelt zur Entfaltung gebracht
wird. Konkret erzählt der Autor in zwei periodisch getrennten Teilen die Ortsgeschichte
der Juden von Zirndorf. Der erste Teil spielt im 17. Jahrhundert, der zweite
- dominante - Teil im 19. Jahrhundert. Abgesehen von der Einheit des Handlungsortes,
ergibt sich zwischen den Teilen keine Handlungskontinuität. Der erste Teil beschreibt
den Einbruch religiöser (und gleichwohl krimineller) Wahnideen in den armseligen
Alltag der Judengemeinde von Zirndorf. Die Handlung bricht nach einigen Dutzenden
Seiten unvollendet ab und es bleibt dem Leser überlassen, ein furchtbares Verbrechen
zu erahnen, das seine eigentliche Ursache in religiösem Stumpfsinn hat. Einzig
das geistige Elend des beschriebenen Milieus wuchert von dem ersten Teil in
den zweiten über und illustriert solcherart die schiere Zeitlosigkeit menschlicher
Niedrigkeit. Der zweite Teil bietet zudem einiges an dramatischer Handlung und
philosophischer Kulturkritik. So kommt es zum Mord, begangen von einem Juden
an einem völkisch "reinrassigen" Deutschen, was in diesem besonders gelagerten
Fall deswegen ein Sakrileg ist, weil es sich bei dem Mordopfer gewissermaßen
um eine Art von Edelgermanen handelt, dessen Wesensmerkmale, in ihrem Grundcharakter
überaus amoralisch deswegen auch ebenso rücksichtslos wie übermenschlich kraftvoll,
intuitiv an Friedrich Nietzsches "blonde Bestie" gemahnen. Der Akt des Mordens
ist als Akt zur Selbstbefreiung von moralischer Repression skizziert. Gewissermaßen
also "jenseits von Gut und Böse" vollzogen, womit jene gleichermaßen rigorose
wie grandiose Freiheitsphilosophie der Tat vorweggenommen ist, welche fast ein
halbes Jahrhundert später bei Jean Paul Sartre in seiner Orestie "Les mouches"
(1943; dt. "Die Fliegen") auf ein Neuerliches thematisiert wird. Der Mörder
emanzipiert sich über seine (bewusst amoralische) Tat zu bewusster Individualität,
vereinsamt dabei, was jedoch erst wirkliche Humanität, weil losgelöst von normativen
Bindungen an das Kollektiv, möglich macht. Weder den Orest bei Sartre, noch
den Agathon Geyer bei Wassermann, plagt ein schlechtes Gewissen ob seiner Bluttat.
Der souveräne Mensch nimmt sich sein Recht den Mitmenschen zu töten, wenn es
denn so sein muss.
Gott ist tot,
alles ist erlaubt!
Eine fortschrittlich anmutende Kritik an der autoritären Schulpädagogik jener
Tage, als Einrichtung zur Verdummung und Aufzucht gesichtsloser Marionetten,
wie denn auch eine verhaltene Annäherung an die als vielschichtig begriffene
Problematik der Sinnenlust und des Geschlechterverhältnisses, rundet den Romantext
zur Aufklärungsliteratur ab, wobei die Freude am philosophischen Tiefsinn keineswegs
der dramatischen Spannung schädlich wird. Atemlos liest sich die Entwicklung
des jungen Agathon Geyer vom ebenso einfachen wie unauffälligen Schuljungen
zum rebellischen Quergeist und wundertätigen als auch aufrührerischen Messias,
welcher gekommen ist, um den Menschen den Himmel zu nehmen und ihnen die Erde
zu geben. "Sie müssen die reine Erde haben, ohne Kreuz, ohne Abfall, ohne Verzicht,
ohne Abrechnung mit einem Droben", deklamiert der gottlose Heiland. Und als
die blitzende Urkraft donnergrollender Naturgewalten ein Gotteshaus in Flammen
setzt, skandiert Agathon dem allezeit furchtsam frömmelnden Volk die Parole:
"Lasst sie brennen, die Kirche!"
Individuelle Freiheit und selbstregulierte Sexualität, Gesellschaftskritik und
Antiklerikalismus, mit diesen Schlagworten ist die eigentliche Brisanz des Romans
noch nicht einmal angedeutet. Bevor man jetzt in der Textbetrachtung fortschreitet,
ist es notwendig sich zu vergewissern, dass Jakob Wassermann jüdischer Herkunft
war und sich bis an sein Lebensende darum bemühte, als deutscher Schriftsteller
anerkannt zu werden. Dies muss man wissen, denn sein Buch "Die Juden von Zirndorf"
ist durchsetzt mit antijudaistischen Äußerungen, Anschuldigungen und Anfeindungen,
wie sie ärger nicht denkbar sind und wie sie heutzutage nach Maßgabe geltender
Sprachregelungen politischer Korrektheit alles Andere als noch zulässig wären.
Der Jude steht im Zentrum der Betrachtung und kommt schlecht dabei weg. "Die
meisten [Juden]", lässt Wassermann eine seiner Figuren, den Schriftsteller Gudstikker,
räsonieren, "sind Würmer, Schlangen, Mistzeug." Und weiter: "Ich bin der Ansicht,
es lässt sich auch gar nicht leugnen, dass unsere ganze Kulturkrankheit Judentum
heißt." Denn das den Menschen verkümmernde und knechtende Christentum sei als
Ausgeburt des Judentums auch nur eine besondere Variante desselbigen. In einem
Gespräch zwischen dem menschlich degenerierten Juden Nieberding und dem freigeistigen
Lehrer Bojesen lässt Wassermann Bojesen scharfzüngige Kritik an der jüdischchristlichen
Lebensethik üben: "Was ist schuld, wenn wir den natürlichsten und erhabensten
Vorgang unseres Lebens zu einem Akt der Lüsternheit machen? Wenn wir in den
Schulen Maschinen züchten statt Menschen? Wenn Tausende von wahrhaft großen
Weibern auf der Gasse und in Spezialitätentheatern lungern, und eine anämische
Herde tummelt sich im Salon? Wenn wir nicht hinauskommen über die niedrigen
Begriffe von Ehre und Nächstenliebe, wenn unsere Dichter Hysterie für Tragik
nehmen? Sie, moderner Jude, sind daran schuld mit Ihrem Mystizismus und Ihrem
asketischen Verlangen, der Sie im Schnee stehen und Ihre Geliebte nur seelisch
begehren, der Sie das frevelhafte Wort von Selbstüberwindung neu prägen werden.
Ja, ja! Richten Sie nur das neue Christentum wieder auf! Hauen Sie nur die Renaissance,
von der große Menschen geträumt haben, in Stücke, bevor sie geboren ist! Nur
zu!" Christentum und Judentum seien geboren aus ein und demselbigen Ungeist,
weil: "Alle Religionen von dort drüben [aus dem orientalischen Morgenland] entbehren
der Freude." Jedoch sei es borniert einfach nur Judenfeind zu sein; im Gegenteil:
"Der wirkliche Antisemit müsste ein noch feurigerer Antichrist sein." Wassermann
stellt sich an dieser Stelle dezidiert gegen das "geistige Christentum" eines
Leo Tolstoj, dessen
christlich geprägtes Spätwerk als "greisenhaftes Gewimmer" diffamiert wird.
Schlussendlich bleibt kein auch noch so übles Klischee ausgespart: "Der russische
Jude ist ein großer Trunkenbold und meist ein übler, verwerflicher Charakter.
Die Galizier sind scheußliche Mädchenhändler, und was sie sonst noch treiben,
weiß Gott." Wassermanns Held, Agathon Geyer, emanzipiert sich über sein ganzes
Gehaben von seiner jüdischen Herkunft, ist sodann weder Jude noch Christ (allerdings
genauso wenig Atheist [dieser wendet doch bloß die Gottesidee in ihr Gegenteil]),
fühlt jedoch eine eherne Zusammengehörigkeit mit seinem Volk, das er als "Schmarotzer
auf einem fremden Stamm" ("inmitten deutschen Lebens") hasst.
Der Leser, welcher Wassermann als Verfasser von so mitfühlender und engagierter
Literatur wie "Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens" kennt, mag jetzt
einigermaßen irritiert sein. Das über den Roman manifest gewordene antijudaistische
Ressentiment erklärt sich für ihn am ehesten aus der biografischen Betrachtung
historischer Lebens- und Zeitumstände des Dichters. Jakob Wassermann wurde am
10. März 1873 als Sohn des jüdischen Spielwarenfabrikanten Adolf Wassermann
geboren, der sich als assimilierter Jude verstand. Schon in Knabenjahren, wie
auch später bei Ableistung seines Militärdienstes, litt der junge Jakob Wassermann
unter antisemitischen Anfeindungen durch die Mitwelt. Zugleich fehlte ihm jeder
Bezug zum authentischen
Judentum
orientalischer Prägung, wie es vor allem im Ostjudentum überdauert hatte.
Der assimilierte "Krawattenjude", welcher Wassermann nun einmal war, empfand
das traditionelle Judentum jedenfalls als rückständig und primitiv, wenn nicht
sogar als abstoßend. Traditionelle Juden bieten einen Anblick "hässlicher Gesichter
voll Schachereifers und Glaubensheuchelei" und ihre alte Religion ist "etwas
Totes". Sein Problem dabei: Er wurde von der deutschen Leitkultur als Teil des
Judentums, als orientalischer Schriftsteller begriffen und musste sein
Bekenntnis zum Deutschtum folglich immerfort zur neuerlichen Nachweisführung
bringen. Reden und Schriften zum Thema "Nationalgefühl" und "Deutscher und Jude",
sowie seine unter dem Titel "Mein Weg als Deutscher und Jude" 1921 erschienene
Autobiografie, legen ein beredetes Zeugnis davon ab.
Der Jude Jakob Wassermann befand sich mit seinem krassen Antisemitismus zu seiner
Zeit keineswegs in Isolation von seinen jüdischen Standeskollegen, sondern durfte
in diesem Belange auf eine durchaus breite und stabile Geistesgenossenschaft
zählen. Zum Einem wurde schon eingangs erwähnt, dass ausgerechnet die Juden
Arthur Schnitzler und
Stefan Zweig
das Buch "Die Juden von Zirndorf" besonders enthusiastisch begrüßt hatten. Zudem
gab es unter nicht so wenigen assimilierten Westjuden ein massiv empfundenes
Bedürfnis, sich von der fremdartigen jüdischen Kultur des europäischen Ostens
zu distanzieren und zugleich das eigene Deutschtum als besonders unverbrüchlich
zu betonen. Als beispielgebend sind dazu nebst Jakob Wassermann die Schriftsteller Alfred Döblin (1878-1957) und Karl Emil Franzos (1848-1904) anzuführen, wobei
Letzterer, also Franzos, in seinen Schriften (Hauptwerk: Roman "Der Pojaz")
wiederholt den Schmutz und kriminelle Machenschaften, den Alkoholismus und den
eifernden Aberglauben im traditionellen jüdischen Milieu anprangerte und im
Gegenzug Anpassung an die höhere deutsche Kultur forderte, welche als einzige
geeignet sei, in einem Akt kultureller Kolonialisierung dem Ostjudentum die
Errungenschaften einer aufgeklärten Zivilisation zu bringen.
Wassermanns Versuch seine jüdischen Wurzeln zu übersteigen mag letztlich relativ
erfolgreich gewesen sein. Jedenfalls waren seine Bücher bei der deutschen Leserschaft
sehr beliebt und sind bis in unsere Tage hinein populär geblieben. Seine an
Dostojewski orientierte
Erzählkunst ist nach wie vor exemplarisch für Literatur, die es fertig bringt
an der "moralischen Trägheit" der Menschen zu rütteln. Die Ächtung seines letztlich
doch "jüdischen" Werkes im Dritten Reich des
Adolf Hitler hat der
am 1. Januar 1934 in Altaussee, Steiermark, verstorbene Moralist nicht mehr
miterleben müssen.
Und um noch einmal zu "Die Juden von Zirndorf" zurückzukommen: Sein Romanerstling
(den wirklich ersten Roman "Melusine" wollte Wassermann am liebsten vor aller
Welt verleugnen), der ihm die Denunziation als "orientalischer Schriftsteller"
schlussendlich doch nicht ersparen half, endet gewissermaßen in Jugendsünden
des handwerklich noch unerfahrenen Romanciers. So macht sich auf den letzten
Seiten eine ebenso unnötige wie nicht zum Thema passende Huldigung an den bayerischen
Märchenkönig
Ludwig II. breit. Wassermann preist hierin den Monarchen als unvergleichlichen
Aristokraten im Geiste, dessen wirkliche Majestät sich aus einer tief empfundenen
Misanthropie speist, zumal das wahrlich plebejische Volk - wie denn überhaupt
die plebejische Menschheit dieser Erde - seiner vornehmen Seele nicht würdig
sei. Und bei aller Distanzierungswut gegenüber dem Judentum (worin das Christentum
noch allemal eingeschlossen ist), bleibt Wassermann doch - solcherart etwas
inkonsequent - der Messias-Typologie jüdischen Denkens treu, indem er seinen
Hauptdarsteller, Agathon Geyer, zum Heiland stilisiert, zu einem gottlosen und
antiklerikalen, das sehr wohl, welcher zuletzt in Ermangelung einer griffbereiten
Heilsidee kurzum in die mehr oder weniger bewährt heile Welt der idyllischen
Kleinfamilie abbiegt.
Blamabel inszeniert sich abschließend das Finale, wenn sich, auf der letzten
Seite des Romans, Vater, Mutter und Kind unter einem Apfelbaum einfinden um
dort heimelig vereint auf bessere Zeiten zu warten.
Der
Apfel vom Baum der Erkenntnis, er ist noch nicht zur vollen Frucht gereift.
(Harald Schulz; 06/2004)
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Zirndorf"
Gebundene Ausgabe:
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