Reinhard Kaiser & Elena Balzamo: "Warum der Schnee weiß ist"
Märchenhafte Welterklärungen
Gesammelt und mit einem Essay von Reinhard Kaiser und Elena Balzamo
Als Gute-Nacht-Lektüre nur
bedingt geeignet
In Frankreich sitzt eine pfiffige Büchermacherin mit Namen Galina Kabakova.
1998 verfiel sie auf die Idee, eine Reihe mit dem Titel "Aux origines du
monde" zu starten. Jeder Band dieser Reihe besteht aus volkstümlichen Erzählungen
eines Landes, in denen Welterklärungen geboten werden. Bislang fehlte in diesem
Kosmos ein Land: Deutschland. Durch die von Hans Magnus Enzensberger
herausgegebene "Andere Bibliothek" ist diese Lücke nun geschlossen
worden. Das neue Werk heißt "Warum der Schnee weiß ist" und ist eine
Gemeinschaftsarbeit des mit dem Eichborn Verlag und der "Anderen Bibliothek"
langjährig verbundenen Frankfurter Schriftstellers Reinhard Kaiser - "Eos'
Gelüst" (1995), "Königskinder" (1996), "Dies Kind soll
leben" (2000) und "Unerhörte Rettung" (2004) - und der
schwedisch-französischen Übersetzerin Elena Balzamo, die in Chartres lebt.
Die Titelgeschichte ist wirklich bezaubernd, weshalb ich sie hier als Textprobe
einfüge:
WARUM DER SCHNEE WEISS IST. Als Unser Herr alles erschaffen hatte, Gras
und Kräuter und Blumen, und ihnen die schönen Farben gegeben, in denen sie
prangen, machte er zuletzt auch den Schnee und sagte zu ihm: "Die Farbe
kannst du dir selbst suchen, denn du frisst ja sonst alles." - Der Schnee
ging also zum Gras und sagte: "Gib mir deine grüne Farbe." Er ging
zur Rose und bat um ihr rotes Kleid, dann zum Veilchen, und wieder zur
Sonnenblume, denn er war eitel und wollte einen schönen Rock haben. Aber Gras
und Blumen lachten ihn aus und schickten ihn seines Weges. Da setzte er sich zum
Schneeglöckchen und sagte betrübt: "Wenn mir niemand eine Farbe gibt, so
ergeht es mir wie dem Winde, der nur darum so bös ist, weil man ihn nicht
sieht." Da erbarmte sich das Blümchen und sprach bescheiden. "Wenn
dir mein schlechtes Mäntelchen gefällt, magst du es nehmen." Und der
Schnee nahm es und ist seitdem weiß; aber allen Blumen bleibt er feind, nur
nicht dem Schneeglöckchen.
Die Buchgestaltung ist auch in diesem Band gewohnt prächtig und bibliophil. Die
Geschichten sind gegliedert in die Themenbereiche "Weltall",
"Menschenwelt", "Tierwelt" und "Pflanzenwelt". Ob
die neugierigen Fragen von Kindern über dies und jenes damit abgedeckt werden,
ist ein bisschen die Frage. Bei den Pflanzen zum Beispiel wird man wenige Kinder
finden, die etwas über Schlehdorn, Espe oder Morchel wissen wollen - aus dem
einfachen Grund, weil die meisten Kinder diese Pflanzen gar nicht mehr kennen.
Überhaupt werden die Fragen, die Kinder heute so haben, in dem Buch naturgemäß
nur ausnahmsweise beantwortet werden können, denn die meisten Geschichten,
deren Ursprung Jahrhunderte zurück liegt, spielen in einer versunkenen Welt, zu
der heute nur mehr der differenzierte Leser Zugang hat, den kuriose Nachrichten
zum Thema Muttergottesgläschen, Zaunkönig oder Gimpel und Kreuzschnabel bei
der Kreuzigung Christi interessieren.
Noch etwas fehlt mir in dem Band: Ein Anmerkungsteil. Obwohl sich das Buch in
eingeschränktem Maße als Märchenbuch zum Vorlesen eignet, ist es doch im
Wesentlichen für historisch Interessierte zusammengestellt worden. Die
Geschichte "Warum die Bäume nicht mehr reden" weckte bei mir das
Interesse, ob sich darin eine Botschaft über die christliche Überfremdung
einer germanisch-keltischen Kultur verstecken könnte. Schließlich sprachen zu
unseren Vorfahren die Bäume, und in der Geschichte verbietet ihnen Jesus das
Wort, weshalb sie heute nur mehr rauschen. Hier wäre ein sozioethnologischer
Anmerkungsteil, der diese Geschichte in den historischen
Kontext
einordnet, faszinierend gewesen. Das konnten oder wollten die Autoren aber, die
wohl in ihrem ausführlichen Anhang unverbindlich philosophisch betrachtend die
Texte kommentieren, nicht liefern. Ich frage mich, ob ein literarischer
Schnellschuss dieser Art, der sich darauf beschränkt, alle Märchensammlungen
zu plündern, Bestand haben kann. Immerhin hat er mich neugierig auf die Bände
gemacht, die in anderen Ländern erschienen sind.
Insgesamt bleibt das Buch eine reizvolle Lektüre für Minuten, und ist
vielleicht auch als Gute-Nacht-Vorlesebuch für ältere Kinder geeignet. Dabei würde
ich aber nicht Geschichten wie "Warum die Menschen Fische quälen dürfen"
auswählen, in denen sich Unchristliches mit Bestialischem verbindet, eine
Lehre, die wahrscheinlich nur für Eltern geeignet ist, die ihre Kinder mit
aller Macht zu Neonazis oder Randalierern erziehen wollen. Überhaupt kommen
Fische in dem Band nicht gut weg. Aus der Oberpfalz heißt es in einer anderen
Geschichte, sie hätten kaltes Blut, weil sie beim Tode des Herrn im Wasser
lustig "geschnalzt" hätten, weshalb man sie auch lebendig
aufschneiden dürfe. Hier müssen sich die Autoren schon die Frage gefallen
lassen, ob man manche "Welterklärungen" nicht lieber im Mülleimer
der Geschichte begraben lassen sollte.
(Berndt Rieger; 05/2005)
Reinhard Kaiser & Elena Balzamo: "Warum
der Schnee weiß ist"
Eichborn, 2005. 298 Seiten.
ISBN 3-8218-4558-9.
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Leseprobe:
DIE STERNE. Das Himmelsgewölbe war einst ohne
Sterne; nur Sonne und Mond leuchteten. Da warfen die Riesen mit Kugeln nach der
Sonnenscheibe und durchlöcherten den Himmel. Aus diesen Löchern, den Sternen,
sieht man das Licht des inneren Himmels. (Oberpfalz)
URSPRUNG DER STERNSCHNUPPEN. Die Riesinnen haben
ihr schönes Haar mit Roßgerippen gekämmt. - Eine schöne Riesin, die einen
himmelhohen Stuhl hatte, strählte ihr blondes Seidenhaar mit der Sichel des
Mondes: die Stäubchen, welche vom Haare fielen, flimmerten in der Luft: es sind
die Sternschneutzen. (Oberpfalz)
SIEBENGESTIRN, ABENDSTERN UND KUCKUCK. In alten
Zeiten lebten ein Mann und eine Frau, die hatten sieben Kinder. Der Mann war
unverträglich und mißhandelte Weib und Kind. Da flüchtete die Frau in ihrer
Not mit den sieben Kindern zum lieben Gott und rief ihn um Hilfe an. Der liebe
Gott war sehr entrüstet über die Roheit des Gatten und Vaters und wollte ihn
zur Rechenschaft ziehen. Doch dieser war in seinem Hause nicht zu finden. Als
aber Gott seinen Namen rief, antwortete eine Stimme aus dem Backofen:
"Kuckuck!" Und Gott sprach: "Da du deine Frau und deine Kinder so
schlecht behandelt und nun auch mich noch verhöhnt hast, sollst du ein
Vogel
sein, der nur Kuckuck ruft - der Welt zum mahnenden Beispiel. Deine Frau und
Kinder aber will ich zu mir nehmen und zu Sternen machen. Hüte dich nun, daß
dich deine Kinder nie sehen, sie würden sonst Rache an dir nehmen." Wie
der Herrgott gesagt, so ist es geschehen. Der Kuckuck ruft seinen Namen noch
heute durch die Welt. Die Frau glänzt als Abendstern am Himmel, und die sieben
Kinder leuchten als "Siebengestirn". Aber sobald sie sich am Himmel
zeigen, versteckt sich der Kuckuck und hütet sich wohl, seinen Ruf erschallen
zu lassen. (Ostpreußen)