Martin Walser: "Angstblüte"


Verspekuliert

Täuschung, Aufhörenmüssen, Scheinheiligkeit, Freundschaft, Liebe und Geld - das sind die Themenanteile in Walsers neuestem Roman. Der Münchner Anlageberater Karl von Kahn verliert seinen besten Freund und zwei Frauen. Tragik im Kapitalismus-Milieu - wieso sollte uns Normalverdiener das berühren - den Leuten, die mit vielstelligen Geldbeträgen spekulieren und jonglieren, kann unser Mitgefühl kaum gelten. Die Spekulation mit der Fallhöhe wird nicht aufgehen, die Ständeklausel ist seit Lessing schon außer Kraft gesetzt. Oder handelt es sich hier bei Walser um ein ironisches Unterlaufen dieser eigentlich dramaturgischen Renaissance-Kriterien? Hier hätte jedenfalls mehr Satire rein gehört wie bei Heinrich Manns "Untertan" etwa - lasset uns die Karikaturen der Welt der Reichen und der Schönen mit Schadenfreude beäugen. Damit da erst gar kein Neid auf deren Reichtum und Schönheit aufkommen möge.

Man muss unterstellen, dass Walser weiß, was er hier tut. Dieser Roman könnte bestenfalls eine Vorlage für einen ZDF-Dreiteiler zur besten Sendezeit abgeben. Eine Firma wird unter Vortäuschung von unheilbarer Lähmung verhökert, die Finanzierung eines Möchtegernfilmprojekts wird unter Vortäuschung von erwiderter Seitensprungliebe zugesagt. In welche Boulevardniederungen hat sich Walser hier begeben - wieso vergeudet er seine Sprachkompetenz an solche Illustriertenthematik? Nun, auf die Frage, worum es in diesem Roman geht, sagt der Autor selbst: "Ums Aufhörenmüssen. Angstblüte ist ein den Förstern bekannter Begriff. Wenn Tannen sterben, schlagen sie noch einmal aus, zu ihrer Angstblüte. Das Leben möchte enden. Und dann zeigt diese Angstblüte, was zustande kommt, wenn ein Wesen, und sei es ein Baum, spürt, dass die Beschränkung des Lebens erlebbar wird. Davon handelt mein neuer Roman." Das klingt recht treuherzig, mag aber als Metapher für naives Spekulantentum und Altherrenerotik kaum tragen. Womöglich hat sich hier der Autor selbst verspekuliert.

Die Fallhöhe aktualisiert sich leider am Autor Walser - den wir einstmals in der Literatur-Eliteliga mit Grass, Böll und Lenz gesehen haben. Wieso tut Walser sich und uns das an? Der vorliegende Roman scheint nichts Anderes als Walsers persönliche "Angstblüte" zu sein - warum verplempert er seine knapper werdende Zeit mit solch nichtswürdigen Charakteren und Inhalten? Und selbst wenn dies ein Abgesang auf den Kapitalismus hätte werden sollen - so ist es nur ein schwacher marginaler - denn die effektiven Transaktionen finden mittlerweile bekanntermaßen global statt. Da ist ein Karl von Kahn eben auch schon ein Fossil mit wenig Beweiskraft. Und man müsste fragen: Wieso kriegt so einer ein Requiem mit allen Nachsichtigkeiten geblasen? Nein, Kollege Walser, Kapitalismuskritik muss heute heftiger daher kommen - mit allzu subtiler Ironie kommt man den brutalen Machenschaften der Finanzhaie, Heuschrecken und global players längst nicht mehr bei! Dem Zynismus des Kapitals müsste hier mindestens der Sarkasmus der Literatur entgegengeschleudert werden! Wenn schon Geld als Thema - dann doch sehr viel drastischer und schmutziger! Aufzeigen, wie das Geld die Kultur, die Zivilisation, die Humanität zerstört! Die Zeit drängt!

Von Moral ist schon gar nicht mehr die Rede in diesem Milieu von Großbürgern, überlebten Adelstitelträgern, Kunsthändlern, Schlösserverwaltern, Freizeittennisspielern, Fernsehmoderatorinnen, Spekulanten, Filmproduzenten und Scheidungsexperten: die demografische Torschlusspanik paart sich mit Schicki-Micki-Unverschämtheiten zu einem realschwülstigen Klon aus Vordergründigkeit und Borniertheit. Der anspruchsvollste Dialog geht ums Geldverdienen, wobei Karl von Kahn vor der Schauspielerin Joni Jetter buhlerisch doziert: "Das ist das Einzigartige, also Unvergleichliche des Geldes. Kunst um der Kunst willen weiß nicht mehr, ob sie noch Kunst ist oder schon Wahn. Politik um der Politik willen wäre asozial, zynisch, absurd oder verbrecherisch. Wissenschaft um der Wissenschaft willen wäre menschenfeindlich. Geldvermehren um des Geldvermehrens willen entgeht diesen Gefahren. Es produziert. Es produziert Wert. Und da ist keine philosophische Diskussion nötig, was das für ein Wert sei. Dafür steht die Zahl. Die Zahl ist die Hauptsache. (...) Die Zahl ist das Geistigste, was die Menschen haben, was über jede Willkür erhaben ist. (...) Der Zins ist die Vergeistigung des Geldes. (...) Wenn wir aber den Zinseszins-Zins erleben, erleben wir Religion. (...) Spürbar wird Gott."

Es wäre soviel aus dieser Passage allein zu diskutieren - leider drückt sich der Autor davor, indem seine Figuren offensichtlich zu unpolitisch und zu dumm sind, um diesem pseudointellektuellen Geschwätz Paroli bieten zu können. Das war eben beispielsweise im "Zauberberg" ziemlich anders! Und die Frage muss wohl schon erlaubt sein, was Walser hier eigentlich bezweckt bzw. vom Leser erwartet?! Hier wird formal und sprachlich - wie von Walser gewohnt - ordentlich gearbeitet, aber inhaltlich werden weder die Figuren noch ihre Aussagen ernst genug entwickelt. Wir lesen hier bestenfalls die Parodie auf eine Satire, in der die Zielrichtung unklar bleibt. Der alternde Karl von Kahn scheitert auf allen Ebenen dermaßen, dass ihn weder Betroffenheit noch Gelächter zu retten vermögen. Er ist einfach keine Romanfigur von Relevanz, und die thematische Verzwirbelung von Geld und Liebe ist sowieso nicht mehr origenell oder unterhaltsam. Ein Tipp als Rettungsversuch: als Novelle auf ein Viertel gekürzt wäre es eventuell akzeptabel. Der Rezensent, bisher bekennender Walser-Fan, überdenkt jedenfalls seine Zuneigung.

(KS; 07/2006)


Martin Walser: "Angstblüte"
Rowohlt Reinbek, 2006. 477 Seiten.
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Hörbuch:
Hoffmann und Campe, 2006. 6 CDs, Laufzeit ca. 460 Minuten.
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