Hans Hintz: "Liebe, Leid und Größenwahn"
Eine integrative Untersuchung zu Richard Wagner, Karl May und Friedrich Nietzsche
Brüder
im Größenwahn
Es gibt von Hans Hintz eine Untersuchung 'Zum Zweikampf bei Karl May',
in welcher darauf verwiesen wird, dass nach Hegels
'Phänomenologie des Geistes' die Anerkennung als Prozess, als
idealtypischer Kampf auf Leben und Tod ablaufe - und dieses Motiv der
Anerkennung bildet auch den Kern des vorliegenden Buches, welches 'Eine
integrative Untersuchung zu Richard Wagner, Karl May und Friedrich
Nietzsche' (Untertitel) präsentiert. Bereits das 13-seitige
Inhaltsverzeichnis (!) verrät eine extrem differenzierte
Beschäftigung mit den Gemeinsam- und Unterschiedlichkeiten
dieser drei wahrhaft auffälligen Persönlichkeiten des
19. Jahrhunderts. Ist es Zufall oder nicht, dass alle drei Sachsen
waren?! Hintz jedenfalls sieht eine elementare Gemeinsamkeit
über die Größenwahnfantasien bei
Hölderlin - der Drachentöter, die Schmetterhand, der
Übermensch. Nur einmal ganz nebenbei gedacht: welche typisch
deutschen Überlegenheitsfantasien und -philosophien und
-ideologien ergeben sich wohl daraus?!
Richard Wagner
(1813-1883) hätte heutzutage nach der Schwere und
Basslastigkeit seiner Musik zu schließen womöglich Heavy
Metal (Rammstein?)
komponiert respektive spielen lassen. Als er mit seinen Finanzen
Probleme bekam, soll er den Kommentar abgelassen haben: "Ich bin ein
Genie. Für mich gelten andere Werte!" Mit 20 Jahren war er
noch von den Ideen des Jungen Deutschland beeindruckt. Wagner lernte
Heine persönlich kennen, er beschäftigte sich mit
Feuerbach und Proudhon - und befreundete sich mit dem russischen
Anarchisten Bakunin. Zu fragen bleibt beispielsweise, ob der
'Sängerkrieg auf der Wartburg' so eine Art Vorläufer
des heutigen Poetry Slams gewesen sein
könnte?! Im Jahre 1849 musste Wagner als steckbrieflich von
der Polizei gesuchter "Revolutionär" ins Exil (Paris,
Zürich, Bordeaux) flüchten. Im Mai 1852 trank Wagner
Bruderschaft mit Liszt und Herwegh, ab 1867 begann die Bekanntschaft
mit Nietzsche. 1871 kündigt Wagner Bayreuth als Festspielort
an und favorisiert den heute noch existierenden Holzbau mit den
ungepolsterten Sitzen aus akustischen Gründen. Wagner reiste
durch viele europäische Länder und starb
schließlich in Italien. Problematisch waren seine Schriften
'Das Judentum in der Musik' (1850) und 'Was ist deutsch?' (1865) -
Wagner ließ sich durch biologisierende Rassisten beeinflussen
- der englische Wahldeutsche H.S. Chamberlain, der die
Überlegenheit der arischen Rasse gegenüber dem
Judentum behauptete, heiratete Wagners Tochter Eva.
Karl May (1842-1912)
wurde von Kindheit an als fantasievoller Junge speziell
gefördert - er hatte allerdings auch immer wieder Probleme
kleptomanischer Natur. Er behauptete, er habe die Abenteuer als Old
Shatterhand selbst erlebt, war allerdings erst 1908 das einzige Mal in
Amerika, an der Ostküste. Nach seiner Orientreise (1899/1900)
wollte er die Menschen vom Bösen zum Guten erheben, 1912
erlebte er jubelnde Anerkennung für seinen Vortrag 'Empor ins
Reich der Edelmenschen'. Nicht ganz unproblematisch ist auch sein
Verhältnis zum Rassismus im wilhelminischen Deutschland seiner
Zeit. Nichtsdestotrotz gehört er zu den meistgelesenen
Schriftstellern der Welt - mit Übersetzungen in mehr als 40
Sprachen.
Friedrich Nietzsche
(1844-1900) brach sein Theologiestudium nach einem Semester ab, weil er
lieber die Werke der Junghegelianer las, dann allerdings schwenkte er
zu Schopenhauer über. Im Jahr 1868 begann seine Verehrung
Wagners, welche allerdings ab 1878 in Gegnerschaft umschlug - auch mit
Schopenhauer brach er wieder. Etliche seiner Werke ließ
Nietzsche in kleiner Auflage auf eigene Kosten drucken. In den
späten 80er Jahren verfällt er in geistige
Umnachtung. In Umkehrung der Schopenhauer'schen Verneinung des Lebens
propagiert Nietzsche eigentlich die Lebensbejahung ("amor fati").
Als eine gewisse Peinlichkeit erweist sich die Tatsache, dass der mit
dem Nationalsozialismus "sympathisierende" Germanist Josef Nadler
offensichtlich der Erste war, der bei Wagner, May und Nietzsche
Gemeinsamkeiten zu entdecken vermeinte - was Hintz "jenseits
ideologischer Verdächtigung (...) als Anregung aufgreifen"
wollte. Und so charakterisiert Hintz die drei von ihm Behandelten: "sie
waren große Schauspieler, Selbstinszenierer, Narzissten und
Egomanen; familiengeschädigt in hohem Grade: vaterverlassen je
nachdem oder vom Vater geprügelt, Muttersöhne ein
jeder auf seine Art, kurz: mehr leid- als liebeserfahrene Menschen, die
kompensatorisch ihre Frustrationen in Wunschfantasien ihres
Größenselbst transformierten."
Etwas verquält kommt dennoch bei aller ideologiekritischen
Euphorie daher "zwischen Hölderlin, dem mehrdeutigen Propheten
eines deutsch-vaterländischen Gemeinwesens, und Hitler, dem
eindeutigen Vollstrecker der deutschen Nationalstaatsideologie in ihrer
selbstzerstörerischen Konsequenz." Und so geriert sich dieses
vorliegende Buch zwischen wahrheitlicher Polarisierung und
detailsprudelnder Forschungsübersteigerung. Der Autor dieses
vorliegenden Buches hat wohl etwas abbekommen vom Überwahn
seiner hier behandelten Phänotypen. Das vorliegende Werk ist
dickleibig und wirkt manisch in vorauseilender Erfüllung
gewisser Ideologievorurteile. Die Sache mit der Ideologiekritik ist
doch die: wenn sie aufdringlich daher kommt, wirkt sie eher
kontraproduktiv. Und man kann die sächsische Kultur keineswegs
verantwortlich machen für individuelle
Selbstüberhöhungen, die es in Schwaben und
Österreich ebenso gab wie in Bayern oder ...?!
Hintz macht den Sachsen fast schon zum Vorwurf, dass neben ihrer
Entwicklung in den Bereichen Musik, Literatur und Philosophie auch "ein
ausgeprägt religiöser Zug in der Mentalität
der Menschen" sowie "eine besondere Wertschätzung der
deutschen Sprache" zu beobachten gewesen sei. Das muss doch aber nichts
Schlimmes bedeuten - andererseits lässt sich die oben
behauptete Dominanz eines Volksstammes gegenüber anderen wohl
kaum nachweisen. Auffällig erscheint Hintz das
zahlenmäßige Übergewicht der Frauen in
allen drei Großfamilien. So habe sich aus
übertriebener Infantilität eine narzisstische
Fixierung ergeben. Wie sich Wagner immer auch als Dichter
gefühlt hatte, zeigte May früh ein musikalisches
Talent. Allerdings lagen er und Wagner in ihrem Musikgeschmack so weit
auseinander, dass May im 'Ölprinz' mit dem Kantor
Matthäus Aurelius Hampel eine Karikatur Wagners schuf - will
doch Hampel im Wilden Westen eine "Heldenoper von zwölf Akten
komponieren"! Immerhin hat ja Nietzsche den berühmten Satz
gesprochen: "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum"! Ach ja,
Woody Allen soll einmal gesagt haben: "Ich kann nicht soviel Musik von
Wagner anhören. Ich hätte sonst den Drang, Polen zu
erobern."
Eine verblüffende Gemeinsamkeit entdeckt Hintz in der
"Dialogizität" im Werk der drei Besprochenen: die
"dialogisierte Melodie" Wagners, die "dialogisierte Handlung" bei May
und die "dialogisierte Argumentation" bei Nietzsche. Und Hintz
behauptet, dass alle drei Kunst als persönliche Affekt- und
Bedürfnisbefriedigung stark empfunden und in Anspruch genommen
hatten. Dass Wagners 'Ring der Nibelungen' mit Mays 'Winnetou' eine
Affinität aufweist, mag ein wenig überraschen. Nimmt
man Nietzsches "Übermenschen"
aus dem 'Zarathustra'
dazu, ergibt sich die Analogie Siegfried - Winnetou -
Übermensch. Wobei May mit Old Shatterhand respektive Kara Ben
Nemsi eigentlich den deutschen Übermenschen geschaffen hat.
Seit 1906 sprach May übrigens vom "Edelmenschen".
Während er allerdings als Gegenpol den "Gewaltmenschen" hat,
will Nietzsche letztendlich den Menschen "überwinden".
Interessant dabei erscheint noch die Deutung, dass sich in Winnetou
Charakterzüge von May selbst, sowie seiner Mutter und seiner
beiden Ehefrauen widerspiegeln. Vergessen wir nicht, dass bei George
Bernard Shaw der Begriff im Titel 'Man and Superman' auftaucht und bei
Ralph Waldo Emerson von einem "plus-man" die Rede ist. Der sogenannte
"große Einzelne" ist Programm - als Gutmensch oder
Bösewicht - ebenso der "neue Mensch" - in moralischer oder
fortschrittsgläubiger Ausprägung.
Nicht überraschend, aber bestürzend mag scheinen,
dass ausgerechnet
Adolf
Hitler ein fleißiger Rezipient Karl Mays war,
ebenso Richard Wagners und ebenso Friedrich Nietzsches! Das kann man
allerdings im Nachhinein diesen dreien nicht zum Vorwurf machen - oder
doch?! Nach Albert Speers Tagebüchern soll Hitler gerade in
anscheinend aussichtslosen Situationen Zuflucht zu Karl May genommen
haben - Nietzsches "Übermensch" wurde rassistisch umgedeutet -
und Wagners Musik diente der Untermalung von Wochenschauen,
Parteifilmen und als Begleitmusik bei diversen Veranstaltungen. Am Ende
des Buches wird noch die Rezeption der drei Behandelten im Dritten
Reich generell und nach 1945 bewertet.
Arno Schmidt und Hans
Wollschläger versuchten ja v.a. über das
Spätwerk einen Zugang zu Karl May zu finden. Mit Nietzsche
beschäftigten sich v.a. Jaspers und Heidegger - Wagner bekam
sozusagen sein Denkmal in den Bayreuther Festspielen.
Die drei hier Behandelten sind sicherlich eine Herausforderung an jeden
Beflissenen - Leser, Musikliebhaber, Philosophiebeschäftigten.
Hans Hintz arbeitet hyperakribisch dermaßen viele Details
heraus, dass wir ein sehr intensives Bild der kulturellen Gegebenheiten
im 19. Jahrhundert vermittelt bekommen. Und so ist dies eine
lesenswerte Fundgrube für Liebhaber dieser Epoche.
(KS; 06/2007)
Hans
Hintz: "Liebe, Leid und Größenwahn.
Eine integrative Untersuchung zu Richard Wagner, Karl May und Friedrich
Nietzsche"
Königshausen & Neumann, 2007. 650 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Hans Hintz, geboren 1948, studierte Pädagogik, Germanistik und Philosophie in Essen und Düsseldorf und unterrichtet seit 1978 an einem Düsseldorfer Gymnasium die Fächer Deutsch und Philosophie.