Jerker Virdborg: "Eis"

Dieses Romandebüt wurde in Schweden gefeiert wie kaum ein anderes Buch. Tatsächlich ist Jerker Virdborg ein erstaunlicher Erstling gelungen, dessen Themen durchweg existenzieller Natur sind:
Gehorsam und Verantwortung, Verrat und Vertrauensbruch, Liebe und Einsamkeit.


Das Land (es ist wohl Schweden, wird aber wie auch die Namen der Feinde nie ausdrücklich erwähnt) befindet sich seit langer Zeit im Kriegszustand. Große Teile des Landes sind vom Feind besetzt, Städte sind zerstört worden, man munkelt von atomarer Verseuchung einiger Gebiete, fast alle Kommunikationswege funktionieren nicht mehr. Gleichzeitig denken viele, dass das noch lange so weitergehen wird.

In dieser verzweifelten und fast aussichtslosen Situation erhalten vier Männer, die sich vor gerade mal einigen Stunden erst kennen gelernt haben, den militärischen Auftrag, auf Schlittschuhen in ihren Rucksäcken ein Material durch die feindlichen Linien zu transportieren, das es ermöglichen könnte, dem Krieg eine Wendung zu bringen. Es wird angedeutet, dass es sich um Datenmaterial (CDs) handelt.

Ihr Weg wird sie bei tiefen Minusgraden quer durch die Schären über das Eis führen. Schon vor ihrem Abmarsch ist das gegenseitige Misstrauen und der Vorabverdacht - "Jeder gegen Jeden" - groß. Dennoch: sie raufen sich zusammen und machen sich auf.

Was unterwegs alles geschieht , soll nicht verraten werden, denn der Roman lebt von seiner, durch eine ganz eigene, immer wieder durch unvollendete Sätze und Andeutungen versetzten Sprache bewirkten Spannung, die den Leser bis zum Ende nicht loslässt und ein ums andere Mal in regelrechte Verwirrung stürzt.

Das Eis und die Kälte, der Krieg und die Zerstörung, der gegenseitige Verrat und die Einsamkeit der Menschen sind, so wird im Verlauf des Buches immer deutlicher, Metaphern in einer wundervollen Parabel auf den Zustand der schwedischen Gesellschaft, wie wir sie in Andeutungen auch von anderen schwedischen Autoren geschildert bekommen.

An einer Stelle überlegen die vier Geheimboten, wie das bestimmte Wort heißt für einen Zustand des Eises, wo es weder trägt noch bricht. Eine schöne Metapher nicht nur für die schwedische Gesellschaft, die durch keine echte innere Kraft mehr zusammengehalten wird, sondern nur durch die Kälte von Gesetzen, Regeln und Strukturen und dem Kampf nach dem Motto "Jeder gegen Jeden".

Ein beklemmendes, sehr lesenswertes Buch von einem Autor, von dem man gerne bald mehr lesen würde.

(Winfried Stanzick; 04/2005)


Jerker Virdborg: "Eis"
Aus dem Schwedischen übersetzt von Susan Bindermann und Pär Hakeman.
Reclam Leipzig, 2005. 255 Seiten.
ISBN 3-379-00812-5.
ca. EUR 19,50. Buch bei amazon.de bestellen

Jerker Virdborg, geboren 1971, lebt in Stockholm. "Eis" ist sein erster Roman, der in Schweden hervorragende Kritiken erhielt und sofort in mehrere Länder verkauft wurde.

Leseprobe:

Das Frühstück hatten sie hastig hinuntergeschlungen: Knäckebrot, dünnen Kaffee, getrocknete Apfelstücke.
"Zieht alles an, was ihr habt", sagte Börjesson, "heut nacht waren gut und gern zwanzig Grad unter null. Und nehmt eure Sachen mit, vielleicht kommen wir nicht hierher zurück."
Der Himmel war noch immer von einer bläulich schimmernden Schwärze.
"Wir richten uns nach dem Wachtrupp", fuhr Börjesson fort, "und kein Wort! Vor allem nicht, wenn wir im Wald sind! Kein Wort, wenn es nicht absolut notwendig ist. Im offenen Gelände bei den Klippen können wir wieder reden. Außerdem will ich euch in Kasaviken etwas zeigen."
Als sie aus der Hütte traten, hatten sich Forsbergs Leute schon am Brunnen versammelt, alle in weißer Schneekleidung. Auf Forsbergs Befehl legten die Soldaten darüber hinaus einen weißen Gesichtsschutz an.
Sie liefen durch einen dicht bewachsenen Waldabschnitt mit Unterholz und hohen Büschen. Die Vorhut schwärmte aus, erkundete die Gegend und bedeutete dann dem Rest, ihr zu folgen. Edh presste das Kinn gegen das Halstuch und versuchte, ruhig ein- und auszuatmen, seine Blase drückte. Ein paar Mal kreuzte sich sein Blick mit dem eines der Wachsoldaten. Es fiel ihm schwer, Forsbergs Männer auseinander zu halten, alles was er im Halbdunkel ausmachen konnte, waren runde Löcher in weißen Masken, durch die sie ihn ansahen. Er versuchte, nicht mehr zu ihnen hinüberzuschauen.
Der helle Streifen am Horizont verbreiterte sich zusehends. Als sie die Klippen erreichten, sog Edh tief die Luft ein. Es roch nach Salz und etwas Metallischem. Das muss ein Traum gewesen sein, dachte er. Geträumt hab ich, letzte Nacht ... Von jemandem, der ... der jemand anderem den Mund zuhält. Irgendjemand. Ein Fremder.

"Können wir reden?"
Sie liefen über einen flachen Felsen. Börjesson nickte Edh bejahend zu.
"Kennst du hier draußen auf Tessenoy jemanden, der Pedersen heißt?"
Börjesson sah kurz auf. Die Grübchen in seinen Wangen leuchteten feuerrot, sonst war sein Gesicht bleich.
"Wieso? Pedersen?"
Edh ließ einen Augenblick verstreichen. Die Kälte trocknete die Haut aus, straff spannte sie sich über die Wangenknochen und verengte die Augen zu Schlitzen.
"Ich hab einem Mädchen, das ich getroffen hab, versprochen, einen Pedersen von ihr zu grüßen. Ob er ausgerechnet hier in der Gegend stationiert ist, weiß ich natürlich nicht."
"Wo hast du das Mädchen getroffen?"
"In Daga drinnen."
"Und dieser Pedersen soll hier auf Tessenoy sein?"
Edh bedachte sich einen Moment.
"Ich hab keine Ahnung, sie konnte nichts Genaueres sagen. Ich habe ihr nur versprochen, mich umzuhören - egal, wo ich landen würde. Nicht mehr und nicht weniger."
"Solche Grüße geben wir selbstverständlich nicht weiter, das ist dir sicher klar."
Sie setzten sich wieder in Bewegung, die Stiefel glitten durch eine dünne Schicht aus Raureif und Schnee.
"Davon mal abgesehen weiß ich nicht, ob es hier einen Pedersen gibt. Ich glaube nicht, dass ich jemanden kenne, der so heißt. Pedersen? Nein."
Edh fiel ein Stück zurück, sah sich forschend um und tastete nachdenklich mit dem Handschuh über die Innentasche der Jacke.
"Was solltest du diesem Pedersen denn ausrichten?", rief Börjesson.
"Nichts Besonderes, nur einen Gruß."
"Und das Mädchen, wie hieß sie?"
"Das ... hat sie nicht gesagt. Sie hat gemeint, Pedersen wüsste schon, worum es geht. Das war alles."

"Hoffentlich gibt' s was Warmes zu trinken, wenn wir ankommen."
Granvik hatte zu Edh aufgeschlossen. Auf seinem Kinn und unter seinen Wangenknochen glitzerten helle Bartstoppeln, an denen der Atem zu winzigen Kristallen gefroren war.
Sie liefen ein Stück nebeneinander her. Einige der Klippen waren vereist und sie mussten sie umgehen, wenn sie nicht abrutschen wollten.
Forsberg stoppte. Sie deutete auf eine Plattform, von der aus ein steiler Steg an der Felswand entlang zum Wasser hinunterführte.

"Und jetzt schaut genau her", sagte Börjesson.
Er wartete in einer eisfreien Ecke an der Spitze des Stegs. Am Horizont hinter ihm erstreckte sich eine Inselkette, auf der Wasserfläche davor lag eine glänzende Eisschicht.
Er kletterte eine schmale Badeleiter hinunter, machte einen letzten langen Schritt und stand auf dem Eis, lief zurück zum Ufer und brach einen länglichen Brocken ab, der aus einer Spalte ragte. Er warf Edh und Granvik einen Blick zu, beugte sich vor, holte Schwung und schoss den Klumpen über die Eisfläche. Er raste mit einem feinen Kratzen davon, das bald in ein gedämpftes Sirren überging. Edh folgte ihm mit dem Blick, der Brocken glitt weiter und weiter, bis er nicht länger zu erkennen war. Licht und Eis, Himmel, Sonne und spiegelnde Fläche flossen ineinander, weit draußen sauste etwas dahin. Das Brausen wurde schwächer, war aber nach wie vor vernehmbar.
"Ich wollte, dass ihr das seht", sagte Börjesson, als er wieder neben ihnen auftauchte. Seine Augen waren leicht gerötet und blitzten, und sein Mund hatte sich zu einem Lächeln verzogen. Er klaubte etwas aus der Jackentasche und reichte es Edh.
"Teilt sie euch."
Edh wickelte das Stanniolpapier auseinander und hielt eine kleine dünne Schokoladentafel in der Hand. Börjesson wies auf die Inseln und das Meer, in die Richtung, in die das Eisstück verschwunden war. Edh ließ eine Ecke Schokolade im Mund zergehen und gab Granvik die andere Hälfte der Tafel.
"Wie gesagt." Börjesson zwinkerte Edh zu und lief dann die Brücke hinauf zu Forsberg.
"Das war's, was ich euch zeigen wollte."
Edh rührte sich nicht vom Fleck. Er sah hinaus aufs Meer. Sie wissen Bescheid, dachte er. Die Wettkämpfe, das Eis. Dass ich gelaufen bin, sie wissen von den Rennen. Das Eis?

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