Barbara Vine: "Heuschrecken"


Vom Schrecken der Heuschrecken und der Freiheit auf den Dächern Londons - von Ruth Rendell alias Barbara Vine, der Meisterdetektivin der Seele

Clodagh Brown, Anfang dreißig, glücklich verheiratet, als Elektrikerin höchst erfolgreich und Besitzerin eines Penthouses mit prachtvollem Blick über London, blickt mit Hilfe von Tagebüchern auf ihre tragische Vergangenheit zurück. Beim Klettern auf den von ihnen liebevoll "Heuschrecken" getauften Hochspannungsmasten im ländlichen England verunglückte einst ihre Teenagerliebe Daniel tödlich. Später, am Beginn eines Studiums in London, prägten immer noch Schuldgefühle und die Erinnerung an das schreckliche Ereignis ihr Leben. Als Clodagh schließlich zufällig dem charismatischen Silver und seinen durch die Leidenschaft für Höhen und die Flucht vor der Vergangenheit vereinten Freunden begegnete, eröffnete sich ihr eine aufregende neue Welt über den Dächern der Stadt. Doch was als idealistisches, liebes- und freiheitstrunkenes Abenteuer begonnen hatte, endete in einer Katastrophe ...

In kunstvoll verschachtelten Zeitebenen und Handlungssträngen erzählt die 1930 geborene Ruth Rendell, die seit Mitte der 1980er-Jahre auch unter dem Pseudonym Barbara Vine veröffentlicht, vom oft schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens, vom Verlust von jugendlichem Idealismus und dem Gewinn an Einsicht in sich selbst.

Obwohl es in dieser fesselnden Geschichte Verbrechen und Tote gibt, ist "Heuschrecken" kein Krimi im herkömmlichen Sinn, sondern ein faszinierendes Psychogramm höchst unterschiedlicher Menschen, die versuchen, in der vom Alltag entrückten Gegenwart hoch über London die schwierige Balance zwischen der Bürde der Vergangenheit und den unausweichlichen Veränderungen der Zukunft zu finden. Die genau gezeichneten Charaktere leiden, ganz typisch für Figuren der Autorin, unter Ängsten, Obsessionen und Neurosen, und auch in diesem Buch kommen Leute eher durch die unglückliche Verkettung von Zufällen ums Leben als durch kaltblütig geplanten Mord.

Spannung entsteht vor allem aus wohldosierten Andeutungen und dem aus der Konstruktion des Romans entstehenden Wissen um die Unabwendbarkeit von furchtbaren Geschehnissen. Der Leser weiß die Erzählerin Clodagh in einer zufriedenen, sicheren Gegenwart, aber nicht allen ist ein glückliches Ende vergönnt, manches bleibt dabei unklar oder gar völlig im Dunklen und lässt dadurch die Geschichte um so realistischer erscheinen.

Einer der großen Vorzüge von Vines Werk, das in diesem Punkt besonders an ihren in der Londoner U-Bahn spielenden Roman "König Salomons Teppich" erinnert, liegt in der detailreichen Schilderung von Aussehen und Atmosphäre des Ortes der Handlung, des Londoner Stadtteiles Maida Vale - so mancher neugierig gewordene Leser wird beim nächsten Besuch in der britischen Hauptstadt wohl auch dieses nicht zu den großen Sehenswürdigkeiten zählende Viertel erforschen.

Mit "Heuschrecken" beweist die 1997 zur Baroness geadelte Ruth Rendell nach über 50 Büchern erneut, wie gerechtfertigt ihre Verkaufszahlen, zahlreichen Preise und Ehrungen sind. Wie meinte schon Donna Leon, selbst ja - zumindest im deutschsprachigen Raum - keine Unbekannte in diesem Genre: "Die beiden größten Krimiautorinnen der Welt sind Ruth Rendell und Barbara Vine."

(sb)


Barbara Vine: "Heuschrecken"
Übersetzt von Renate Orth-Guttmann.
Diogenes. 656 Seiten.
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