John Vermeulen: "Zwischen Gott und der See"

Roman über das Leben und Werk des Gerhard Mercator


Es wäre völlig verkehrt zu behaupten, John Vermeulen würde sich in seinen Romanen nicht ständig wiederholen. Er tut dies sehr wohl; und das auf geradezu vorsätzliche, wenn nicht sogar besessene Art und Weise. Ganz so, als ob Vermeulen insgeheim, weil unausgesprochen, eine quasi pädagogische Zielsetzung verfolgte, die es den Lesern seiner Bücher durch ständige Wiederholung eines Kerngehalts einzutrichtern gelte.

Das Handlungsgeschehen spielt sich bei Vermeulen allemal in den Niederlanden des 15./16. Jahrhunderts ab, wo in jener Epoche religiösen Aufruhrs und grassierender Häresien (Luther, Calvin) die Heilige Inquisition jegliche Absonderung oder gar Emanzipierung der Menschen von der gottgewollten Fürsorge durch die katholische Kirche zu Rom nach Kräften zu unterbinden suchte. Und wie schon in seinen vorangehenden Romanen über Leben und Werk von Pieter Bruegel und Hieronymus Bosch geht es auch in "Zwischen Gott und der See" um die Porträtierung einer historischen Person, diesmal namens Gerhard Mercator, dessen aus dem Geiste einer frühen Aufklärung geborenen Charakter der Autor mittels dementsprechender und in den Text wie beiläufig eingeflochtener Akzentuierungen herauszuarbeiten trachtete.

Als intellektueller Held verkörpert die Charakterfigur des Mercator eine Souveränität des Humanen in Kontrast zu einer klerikal vermittelten Unduldsamkeit, wie sie für dieses Zeitalter blutiger Religionskriege so typisch war. Es ist der Geist der intellektuellen Revolte gegen den Ungeist mystischer Vernunftwidrigkeit, der, wie schon in den früheren Romanen, auch diesmal wieder aus den Zeilen von Vermeulens Prosa spricht. Und solcherart durch sein aufrührerisches Gehaben den ducksamen Bürger zur Nachahmung jener vorgelebten Haltung innerer Freiheit animiert.

Handelte es sich bei den Romanen über Bruegel und Bosch noch um charakteristische Künstlerporträts, also um die literarische Skizzierung von Personen mit aufgrund ihrer Profession primär anarchisch-ästhetischer Weltsicht, wiewohl von hellwachem Skeptizismus geprägt, so tritt uns diesmal in der Gestalt Gerhard Mercators ein wirklicher Intellektueller mit akademischer Graduierung entgegen. Ein Rationalist vom Scheitel bis zur Sohle. Als Typ bzw. Typisierung des emanzipierten Bürgers ähnelt er den beiden Vorgängerfiguren, im Detail variiert er im Vergleich zu jenen, ist bedächtiger als diese, gleichermaßen von ökonomischer wie sittlicher Vernunft geleitet, relativ geschäftstüchtig und ein gewissenhafter Bürokrat seiner Wissenschaft.

Vermeulens Mercator ist ein Mann des Verstandes und gleichwohl ein Mann der Vernunft - somit also doppelt begabt, was, wie wir alle wissen, nicht selbstverständlich sein muss, gewahrt man sich der häufig zu beobachtenden Tatsache, dass nicht jedem Verständigen immer auch ein genügend hohes Maß an Vernünftigkeit eingegeben ist.

Der Leser erfährt in der Gestalt Mercators folglich einen Ausnahmemenschen, welcher in seiner kontrollierten Gefasstheit als Person aber schon fast ein wenig hölzern bzw. - salopp ausgedrückt - langweilig wirkt. Was ihm nicht zuletzt seine eigene Ehefrau zum Vorwurf macht, die sich weniger einen Denker denn einen Stier im ehelichen Bett wünschte: Es ermangle ihrem Ehemann nämlich an männlichem Charisma, ja, er sei überhaupt kein ganzer Mann, beklagt das von ihm angeödete Weib, dessen umgekehrt viehisches Gemüt den weltflüchtigen Kopfmenschen an ihrer Seite antithetisch kontrastiert, ohne dass dies deswegen nach dialektischer Logik auf eine die Widersprüche versöhnende Synthese hinauslaufen würde.

Und so bedurfte es schon eines Romanciers vom Format eines John Vermeulen, um aus dieser tendenziell faden (fade, insoweit wir in unserem Bedürfnis nach aufregender Aktion bloße "Denker" als mangelhaft empfinden), jedenfalls aber eher ereignisarmen und lediglich über das Denken brillierenden Gestalt des Professor Gerardus Mercator eine dramatische Handlung zu entwickeln, die dem Leser nicht so rasch aus dem Sinn gehen will.

Vermeulen bewirkt diese Dramatisierung des Romanstoffes unter Anderem über die geschickte Einflechtung von teils aufreizenden und teils abenteuerlichen Persönlichkeiten in das Handlungsgewebe. Welches ist nun die Dramaturgie zum Leben eines Mannes, der ein wahrlich protestantisches Leben innerweltlicher Askese führte, also Zeit seines Lebens ganz im Dienste einer beruflichen Werkserfüllung stand, worin er so weit ging, dass er selbst sein kartografisches Detailwissen aus zweiter Hand bezog, zumal ihm jede Reisetätigkeit als unnötige Mühsal und Unterbrechung seines selbstausbeuterischen Arbeitszwangs zuwider war.

Zweckrationalität bestimmte Mercators Tun und Lassen zu einer Zeit, als die Vertreter einer gottgefälligen Wertrationalität nur noch blutige Rückzugsgefechte lieferten. Der aufkommende Frühkapitalismus offenbart sich über diese werktätige Gestalt des Gerhard Mercator, wenn Vermeulen beschreibt, wie sich dieser zwecks besserer Vermarktung seiner Arbeiten einem in seinem Gehaben modern anmutenden Managertypen anvertraut, dann auch infolgedessen eine gewaltige Umsatzsteigerung erfährt, oder wenn man sich jene eindrücklichen Szene im Rahmen der Frankfurter Buchmesse vergegenwärtigt, die den eher menschenscheuen Intellektuellen Gerardus dabei zeigt, wie er aus notwendigem Geschäftsinteresse, zwar widerwillig aber doch, sein Schrifttum einer interessierten Öffentlichkeit präsentiert. All das sind nun Aspekte, angesichts derer man sich unweigerlich an Max Webers Kapitalismusstudie "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" verwiesen meint. Mercator symbolisiert in diesem Sinne die Morgenröte zu einem bürgerlichen Zeitalter der Aufklärung und Kapitalisierung aller Lebensbereiche.

Gerardus Mercator (latinisiert, weil eigentlich 1512 als Gerard de Cremer im flämischen Rupelmonde geboren; 1594 im nordreihn-westfälischen Duisburg gestorben) war Mathematiker und Kartograf, lehrte an höheren Schulen und Universitäten, verfügte über eine gediegene philosophische Bildung und hing gleichermaßen freigeistigen wie reformatorischen Ansichten an, was ihn, obgleich er keineswegs mit provozierend kirchenlästerlichen Thesen auftrat und erst im Greisenalter mit seiner theologischen Schrift Harmonisierung der Evangelien päpstlichen Unmut erregte, in Widerspruch zur Heiligen Inquisition und deren weltlichen Erfüllungsgehilfen brachte. Einige Monate Kerkerhaft war die Konsequenz daraus.

Für Vermeulen handelt es sich hierbei übrigens um die Episode einer gemeinen Intrige. Es ist demnach die heimtückische Tat eines unversöhnlichen Nebenbuhlers, welche Mercator in Schwierigkeiten bringt und weniger sein ketzerisches Mundwerk. Inwieweit hier Dichtung und Historie zueinander gehen oder voneinander abweichen, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten. Zu gewahren ist allerdings, dass Vermeulen bei Verfassung seines biografischen Romans wohl keineswegs an den strengen Kriterien einer peniblen Biografie Maß genommen haben wird, sondern einzig Belletristik zum Ziel hatte. Womit ihm ein Mindestmaß an dichterischer Gestaltungsfreiheit jedenfalls zugestanden sein sollte.

Dass Mercator in dieser für ihn so brenzligen Situation überhaupt mit dem Leben davon kam, verdankte er in erster Linie der Bedeutsamkeit seines Kartografenhandwerks für seinerzeitige militärische und imperialistische Zielsetzungen der herrschenden Habsburgerdynastie. Die hohen Herrschaften benötigten seiner noch, weshalb sie nicht anstanden, zu seinen Gunsten zu intervenieren. Man bedurfte einfach seiner rühmlichen Sachkenntnis als Kartograf, wie Vermeulen es schildert, denn brauchbares Kartenmaterial und insbesondere dessen innovative Weiterentwicklung war zu jener Zeit in höchstem Maße dringlich, weil - im einsetzenden Wettlauf um die globale Kolonialisierung der Erde - unentbehrlich für die angestrebte Vorherrschaft zu Land und zur See.

Womit sich letztlich auch der Klerus abzufinden hatte. Interessen der Machtpolitik waren im Zweifelsfalle schon damals dem religiösen Anspruchsdenken gegenüber vorrangig gestellt. Wertrationales Handeln und Denken wurde zusehends zu einer antiquierten Lebensauffassung, hingegen der Geist der Moderne Hand in Hand mit dem Geist imperialistischer Welterschließung marschierte und solcherart für die Durchsetzung eines globalisierten europäischen Hegemonialanspruchs sorgte - worüber wir uns vielleicht noch unsere Gedanken machen sollten.

Folgt man einer in der Wissenschaftsgeschichte vertretenen gängigen Meinung, so verdankt die Zunft der Kartografen dem Gerardus Mercator einiges an bedeutsamen Erkenntnissen, Impulsen und Innovationen ("Mercator-Projektion", "Atlas"), obgleich die neuere Forschung dieses verklärende Bild heroischen Geistesschaffens zuletzt doch gehörig angekratzt hat. Man meint nämlich, die eine oder andere Werksimitation entdeckt zu haben.

Wie auch immer es nun in der Tat um die historisch festzustellende Genialität der Handlungsperson bestellt sein mag, für den Roman des John Vermeulen ist diese sowieso ohne besonderes Gewicht. An einem Disput mit kritischen Wissenschaftern ist es dem Autor nämlich keineswegs gelegen, und er wäre als Literat wohl auch nicht die richtige Bezugsperson für solcherart akademisches Gezänk.

Vermeulens - übrigens gelungene - Absicht war es viel mehr zuerst einmal, einen durchgängig unterhaltsamen und streckenweise überaus spannenden Roman zu schreiben, der, wohl dosiert in seiner Gelehrsamkeit, in weiterer Folge den Leser insbesondere mit der Idee sozialen Fortschritts als Prozess der Mündigwerdung vertraut zu machen sucht. Dieses vollzieht sich bei Vermeulen regelmäßig (und historisch korrekt recherchiert) in Widerstreit zu religiösen Anmaßungen gegenüber dem nach Selbstbestimmung strebenden Einzelnen, dessen herausragende Genialität nicht zuletzt die köstliche Frucht seiner Unbeugsamkeit ist.

Denn so kraftvoll lebendig, blutwarm und überaus menschlich, weil über ihre scheue Empfindsamkeit stilisiert, die Person des Gerardus Mercator auch immer gezeichnet ist, so ist er doch - wie schon Bruegel und Bosch zuvor -, und trotz aller biografischer Treue zur lebensgeschichtlichen Vorlage, letztlich hauptsächlich ein leidenschaftlicher Animator, eine, bei aller sich selbst bescheidenden Biedermeierlichkeit des Handlungsträgers, vorbildliche Ermutigung zur Selbstwerdung.

Mehr im Sinne einer archetypischen Betrachtungsweise aufgefasst, werden Vermeulens Romanhelden zuweilen als zur kämpferischen Agitation bestimmte Reduktionismen erkenntlich, also als in Uniformen gesteckte Kriegertypen, als Soldaten der Aufklärung und als solche als ein bloßes Mittel zum Zweck seiende Kopfgeburten in historischer Gestalt. Somit sich in Vermeulens Schriftwerk gewissermaßen ein antihumanistischer Zug im Namen eines aufgeklärten Humanismus einschleicht.

Ein humanistischer Antihumanismus bzw. antihumanistischer Humanismus so denn, der aus ideellem Ansporn den Handlungsträger wiederholt zum primären Funktionsträger reduziert, welcher sich ob knechtender Herrschaftsverhältnisse gegen - die Knechtung stabilisierende und legitimierende - religiöse Denkmuster und Rituale empört; was zwar allfällig erheitern mag, doch ebenso bedenklich stimmen sollte, etwa wenn Vermeulen seinen Mercator in wahrlich ketzerischer Weise über den "zweifelhaften Charakter" des Sakraments der Beichte sinnieren lässt. Hierbei handle es sich nämlich, so Mercator in Vermeulens Diktion, um einen gar fabelhaften Gewissensersatz, wie ihn nur ein Verbrecher ersonnen haben könnte.

Es ist unschwer zu erkennen, dass sich Religionskritik nach der Manier John Vermeulens gelegentlich nicht frei von Aggression zur Darstellung bringt, doch ist dem Buchautor in diesem Zusammenhang anzurechnen, solcherart einem noblen Zweck dienen zu wollen, der in die herzhafte, obgleich nur sinngemäß ausformulierte Ermahnung mündet, entgegen aller Einschüchterungsversuche durch die allzu rührigen, weil meist eifernden Vorkämpfer der Gegenaufklärung, stets dem Vermögen zur eigenen Verstandeskraft die Treue zu halten, sich redlich und vorurteilsfrei eine Kenntnis von den Dingen zu erwerben, den Intellekt zu schärfen und nicht aus bequemer oder sklavischer Haltung auf die Schalmeien irgendwelcher Repräsentanten höherer Gnaden hereinzufallen.

Und mögen sich diese auch zwecks Legitimierung ihrer Herrschaftsansprüche auf ein allfällig höchstes Prinzip von wegen Schönheit, Gerechtigkeit, Güte und Wahrhaftigkeit berufen, in letzter Instanz zähle einzig der zur Mündigkeit gelangte Einzelmensch - als unbestechlicher Souverän seines Selbst. So die Botschaft Vermeulens an seine Leser, denen der Autor mit seinem jüngsten Roman einmal mehr ein Stück fesselnde Aufklärungsprosa zur genüsslichen Lektüre vorlegt.

(Tasso)


John Vermeulen: "Zwischen Gott und der See"
(Originaltitel "Tussen God en de Zee")
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
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