John Vermeulen: "Die Elster auf dem Galgen"
"Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"
(Immanuel Kant; 1724-1804)
Granvelle wandte sich
wieder den drei Gemälden zu. Als hätte er den Vikar nicht gehört, sagte er: "Pieter
Bruegel verfügt zweifellos über ein beachtliches Talent, er könnte schon bald
zu den Großen dieser Zeit gehören. Es mangelt ihm nur noch an geistiger Reife,
seinem Werk fehlen starke Emotionen, seine Seele hat noch zu wenig Narben."
Der so spricht, ist niemand Geringerer als Kardinal Perrenot de Granvelle, väterlicher
Gönner und allmächtiger Schutzherr des jugendlichen Kunstmalers Pieter Bruegel.
Wie sich schon bald herausstellen wird, ist das lauernde Sinnieren des Kirchenfürsten
mehr als nur der Tonfall einer grausamen Eingebung. Wenige Tage später liegt der
übel zugerichtete Leichnam eines geliebten Menschen dem verzweifelten Künstler
zu Füßen. In Antwerpen geht das Grauen um.
Bei dem Roman "Die Elster auf dem Galgen" handelt es sich um eine stimmungsvolle Lebensbeschreibung der historischen
Person des Pieter Bruegel (1528-1569), welcher - einfachsten bäuerlichen Verhältnissen
entstammend und Zeit seines Lebens kaum des Lesens und Schreibens mächtig - in
seiner kurzen Lebensspanne zum bedeutendsten niederländischen Maler im 16. Jahrhundert
avanciert. Seine Werke finden begierige Aufnahme in die Kunstsammlungen von Feudalherren
und des aufstrebenden Bürgertums, was nicht nur materiellen Reichtum sondern auch
die Würden einer gehobenen sozialen Stellung mit sich bringt.
John Vermeulen skizziert den genialen Maler als loses Lästermaul, als unbotmäßigen
Humanisten, der den Anmaßungen katholischer Inquisitoren
und spanischer Fremdherrschaft mit beißendem Spott begegnet, was ihn öfter als
nur einmal in gröbere Schwierigkeiten bringt. Dass er schlussendlich nicht schon
vor der Zeit über seine eigene Spottlust zu Tode stolpert - wegen seiner Spottzeichnungen
landet er zwischenzeitlich immerhin im Kerker - liegt nicht allein an dem Respekt
vieler hoher Herrn vor dem erhabenen Talent des großen Künstlers, sondern insbesondere
an der gleichermaßen peinigenden wie fürsorglichen Protegierung durch den allmächtigen
Kardinal Granvelle, einen großen Kunstfreund, der es zudem vorzüglichst versteht,
materielle Interessen mit persönlicher Neigung und politischer Verpflichtung in
Verbindung zu bringen.
Das besonders geartete Verhältnis zwischen dem zur Unbesonnenheit neigenden Künstler,
Pieter Bruegel, und dem despotischen Kirchenfürsten, Perrenot de Granvelle, macht
schließlich auch den außerordentlichen Reiz dieses Historienromans aus. Es handelt
sich bei dieser zwischenmännlichen Beziehung nicht um ein Miteinander von Brüderlichen,
sondern um die Wirklichkeit herrschaftlicher Willkür im hierarchischen Gefüge,
um Unterordnung freischaffender Kunst unter das Diktat einer zum sakralen Prinzip
erstarrten Praxis religiösen Terrors, dessen grausamer Eifer proportional zur
Kritik an seinen ewigen Wahrheiten zunimmt. (Es ist die Zeit religiöser Irritationen,
bedingt durch das oppositionelle Wirken von Lutheranern, Kalvinisten und frühen
Aufklärern.)
Den Kunstschaffenden ist es in jenen Tagen noch nicht geglückt, sich
von der angemaßten Vormundschaft durch die Kirche zu emanzipieren. Darstellungen
biblischer Motive dominieren allemal den künstlerischen Ausdruck, und theologische
Kritik spricht im Regelfall das letzte Wort über Wert oder Unwert eines Werkes.
Pieter Bruegel ist zu wenig Untertan und viel zu sehr Rebell, um sich in die Widrigkeiten
einer doch so völlig verkehrten Welt gänzlich widerspruchslos dreinzufügen. Insgeheim
lästert er mit dem Zeichenstift den Mächtigen und scheut auch nicht davor zurück,
diese seine Bild gewordenen Lästerungen unter das Volk zu bringen. Und nicht zuletzt
beteiligt er sich an konspirativen Verschwörungen eines zum Bewusstsein seiner
politischen Rechte gelangenden Bürgertums; ein angesichts zahlreicher eingeschleuster
Spitzel äußerst gefährliches Unterfangen.
Der Roman "Die Elster auf dem Galgen" ist alles in allem betrachtet die ungemein spannende Geschichte eines
verzweifelten Aufbegehrens gegen die Unterdrückung durch traditionelle Kräfte
der Repression. Aufrüttelnd und gelehrig in einem Guss; das leidenschaftliche
Manifest eines freien Geistes, den das Dunkel mystischer Versuchung nicht zu betören
vermag und der das Obszöne so sieht, wie es sich der Erkenntniskraft einer erwachenden
Kritikfähigkeit sowieso immer schon von selbst zu erkennen gibt. Gilt es doch
einfach nur zu sehen was ist und nicht bloß zu glauben was scheint.
Ein Buch, das den Menschen dazu ermutigt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen
und darüber hinaus einen erfrischenden Zugang zum besseren Verständnis des Kunstschaffens
von Pieter Bruegel bietet, deren bedeutendster Teil sich heute im Wiener Kunsthistorischen
Museum befindet.
(Torquato Tasso)
John Vermeulen: "Die Elster auf dem Galgen
(Originaltitel: "De Ekster op de galg")
Aus dem Niederländischen von Susanne George.
Diogenes.
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