Nirmal Verma: "Ausnahmezustand"
Nirmal
Verma gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen
Schriftstellern und Intellektuellen Indiens. Er genießt auch
international hohes Ansehen, was sich unter anderem darin zeigte, dass
er der Jury des "Ulysses Award" der renommierten Zeitschrift "Lettre
International" mehrfach angehörte. Er ist als Querdenker in
vielen Genres zu Hause. Viele Reisen, die ihn auch nach Europa und in
die USA führten, fanden ihren Niederschlag in mehreren
Sammlungen von Reiseberichten und bestimmten auch die Themenwahl vieler
seiner Romane und Erzählungen, in denen es häufig um
die indische Diaspora im Westen geht, dargestellt in oft tragischen
Einzelschicksalen.
Nirmal Verma hat sich auch als Übersetzer verdient gemacht.
Während seines Aufenthaltes in der CSSR von 1959 bis 1968
übersetzte er Werke von
Milan
Kundera, Karel Čapek
und Bohumil
Hrabal ins Hindi. Verma wurde mit den beiden renommiertesten
indischen Literaturpreisen ausgezeichnet, und seine Werke stehen auf
vielen Lehrplänen europäischer und amerikanischer
Universitäten. Obwohl bereits mehrfach ins Deutsche
übersetzt, blieb seinem Werk eine entsprechende Wirkung bisher
versagt.
Dem mutigen Versuch des kleinen Heidelberger Draupadi Verlages, in
seiner neu gestarteten Reihe "Moderne indische Literatur" dem Werk
Nirmal Vermas auch im deutschen Sprachraum zum Durchbruch zu verhelfen,
kann man deshalb nur Erfolg wünschen.
Vor dem historischen Hintergrund des politischen Ausnahmezustandes, den
Indira Gandhi 1975 ausrufen ließ und in dessen Folge
Hunderttausende von kritischen Köpfen festgenommen wurden,
schildert Verma in seinem kleinen, etwa 150 Seiten umfassenden und 1979
erstmals veröffentlichten Roman in einem an
Franz Kafka erinnernden
Sprachstil, wie sein Protagonist, der Journalist Rishi, in einen
Teufelskreis aus Angst, Verfolgungswahn und Selbstzweifel
gerät, nachdem er von einem gleichsam aus dem Nichts
auftauchenden, zunächst namenlosen Herrn eine dringende
Warnung vor dem Geheimdienst erhält, die angeblich wie ein
Damoklesschwert über ihm schwebt.
Rishi, dessen Ehe ruiniert ist, dessen Frau seit Monaten in einer
psychiatrischen Klinik liegt und sich von ihm trennen will, kann mit
niemandem über seine Gefühle und seine Angst reden,
auch nicht mit seiner alten Mutter, mit der er zusammenlebt. Nur seiner
Geliebten Bindu erzählt er davon, aber er kann von ihrem
tragfähigen Beziehungsangebot keinen Gebrauch machen. Er ist
unfähig zu irgendeiner Form von Bindung oder gar Vertrauen.
Sein Chef, Ray Sahib aus dem Verlagshaus, für das beide
arbeiten, spürt, dass irgendetwas nicht mit Rishi stimmt,
ahnt, dass er sich verfolgt fühlt, und will ihn ein weiteres
Mal mit einer Reportagereise aus Delhi heraus in Sicherheit bringen.
Doch Rishi blockt ab, befindet sich in einem von Verma genial
geschilderten inneren "Ausnahmezustand", der ihm aber sehr luzide An-
und Innensichten über seine Tätigkeit und seine
Existenz vermittelt:
"Zuzuschauen ist ein gewagtes Unterfangen; wenn du sie beobachtest,
verändern sich die Leute, sie bleiben nicht, wie sie sind.
Deine Lüge verbreitet sich wie
Gift in ihnen, jeder Bericht
zeugt von deiner Lüge, nicht von ihrer Wahrheit ... Da beginnt
die eigentliche Anmaßung - wenn man erwartet, durch andere
seine eigene Wahrheit zu finden! Mit ihrer Wahrheit haben deine
Berichte so wenig zu tun wie das Geheimdienst-Dossier etwas mit deinem
Leben zu tun hat ..."
Verma pflegt in diesem Buch einen eigenen Stil, der dem fortlaufenden
Text des Erzählers feine Nuancen verleiht, in Form von Rishis
Gedanken, die in der Ich-Form berichtet werden. Da im Verlauf auch
immer wieder ausgiebig von direkter Rede Gebrauch gemacht wird,
gerät die Zeichensetzung der einfachen und doppelten
Anführungsstriche zeitweise sehr verwirrend, zumal beim wohl
zu schnell ausgeführten Drucksatz viele Fehler gemacht und
andere übersehen wurden.
Dem Draupadi Verlag ist zu wünschen, dass er mit seinen
Büchern auch wirtschaftlichen Erfolg hat, um seine
künftigen Neuerscheinungen in etwas anspruchsvollerer Form zu
editieren.
(Winfried Stanzick; 06/2006)
Nirmal
Verma: "Ausnahmezustand"
Übersetzt aus dem Hindi von Hannelore Bauhaus-Lötzke
und Harald Fischer-Tiné.
Draupadi Verlag, 2006. 160 Seiten.
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