Annelies Verbeke: "Schlaf!"
Annelies Verbekes in Belgien
und den Niederlanden hochgelobtes Romandebüt erinnert in seiner Sprache und in
der Schilderung seiner hoffnungslosen Protagonisten stark an ein anderes
niederländisches Romandebüt aus dem Jahr 1992:
Arnon Grünbergs "Blauer
Montag".
Maya kann nicht schlafen. Alle
Versuche, durch Meditation, Medikamente und Alkohol zum Schlafen zu kommen,
schlagen fehl. Ihre Beziehung scheitert.
Sie ist einsam. Schlaflos wandert Maya nachts durch die Straßen der Stadt und
klingelt wahllos Menschen aus dem Schlaf. Das verschafft ihr aber nur eine
befristete Genugtuung.
Benoit leidet ebenfalls unter Schlaflosigkeit. Der Zufall will es, dass Maya
eines Nachts bei ihm klingelt. Er hat sie schon seit Tagen beobachtet, wie sie
um den Mietblock geschlichen ist, in dem er wohnt. Er öffnet ihr:
"Endlich. Warte. Ich komme." Sie erinnert ihn an seine Mutter,
und sie hofft, in ihm einen Leidensgenossen und neuen Partner zu finden.
Doch ihre Beziehung scheitert: es kann keine echte Kommunikation zwischen
ihnen geben, und so wandern beide wieder auf getrennten Wegen, gefangen in ihrer
jeweiligen Welt, beide unfähig sich zu artikulieren oder anderen Menschen zu
öffnen.
Je länger ich über dieses nicht leicht eingängige Buch nachgedacht habe,
desto mehr wurde es für mich zu einem Bild einer verlorenen Generation, die
angesichts ihrer verzweifelten und absolut hoffnungslosen Situation keine
wirkliche Ruhe und Integration in der Gesellschaft findet. Ich bin in Kliniken
solchen Menschen begegnet. Zwischen 20 und 30 Jahren alt, manchmal auch älter,
mehrfache Aufenthalte und Therapien hinter sich (so wie Benoit), eine furchtbare
Kindheit nicht bewältigt (wie Benoit), hangeln sie sich durch das Leben, das
sie nur wie eine schlaflose Nacht erleben können.
Es gibt keine tatsächliche Hoffnung für sie, denn selbst für gutgemeinte
therapeutische oder soziale Interventionen sind sie nicht mehr zugänglich.
Und so endet auch das Buch. Beide Hauptfiguren bleiben
in ihrer Welt gefangen,
und man hat keine einzige Leseminute die Hoffnung, dass sich das jemals in ihrem
Leben ändern wird.
Annelies Verbeke hat Menschen eine Sprache gegeben, die in unserer Welt nicht
mehr wahrgenommen werden, die in die Nacht, auf die dunkle Seite abgedrängt
werden; ein Ort, vor dem alle sogenannten "Normalen" eine
Höllenangst haben. Vielleicht ist es auch deshalb nicht einfach, die nur 160
Seiten von "Schlaf!" zu bewältigen. Es zehrt, dieses Buch.
Ein beachtliches Debüt. Ich bin auf das zweite Buch dieser Autorin gespannt.
(Winfried Stanzick; 04/2005)
Annelies Verbeke: "Schlaf!"
Aus dem Niederländischen von Heike Baryga.
Reclam Leipzig, 2005. 160 Seiten.
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Annelies Verbeke wurde 1976 in
Dendermonde/Belgien geboren.
Weitere Buchtipps:
Dr. med. Michael Feld: "Schlafen für Aufgeweckte. Mehr Lebensenergie durch
guten Schlaf"
In einer immer schneller und bunter werdenden global vernetzten Welt müssen
Schlaf- und Erholungszeiten bewusst und aktiv (ein)geplant und gestaltet werden,
damit wir unsere Kräfte und Ressourcen nicht erschöpfen und entladen. Nur wer
seinen Organismus (also Körper, Geist und Seele) heute effektiv (wieder)
aufzuladen versteht, kann die heute geforderten Leistungen mittel- und
langfristig bringen und durchhalten. Wer hier "schlampt", den bestraft das Leben
in Form von Leistungseinbußen, Erschöpfung, Gereiztheit, Schlafstörungen,
Libidoverlust und diversen "Nervenüberreizungs-Symptomen". Wie man diese
negativen Begleiterscheinungen vermeidet, erfährt man in diesem Buch. (Südwest
Verlag)
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Dietmar Bittrich:
"Einschlafbuch für Wutbürger" Leseprobe:
Genügend Energie vorausgesetzt, sind wir alle Wutbürger. Gründe für Ärger und
Aufregung gibt es schließlich überall. Allerdings stören Ärger und Aufregung den
Schlaf. Da ist es aufmunternd zu erfahren, dass berühmte Wutbürger von
Sokrates
bis
Simone de Beauvoir und von
Martin Luther bis Alice Schwarzer mühelos zum
Tiefschlaf fanden. Dietmar Bittrich verrät die Einschlaftricks der
Revolutionäre, der edlen Rächer und der Rosenkrieger. Er erzählt von den
Schlafgewohnheiten ruhmreicher Jugendrebellen, professionellen Protestlern, all
den Kämpfern, Sturmläufern und Künstlern des Krawalls. Alle, die vor Groll oder
Enthusiasmus nicht schlafen können, finden in diesem Buch Begleitung, Trost und
Tricks von preisgekrönten Teilnehmern am globalen Aufstand der Anständigen. (dtv)
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Meine Nächte waren länger als meine Tage, denn nachts war ich allein. Ich sah
zu Remco hin, der neben mir schnarchte. Er war der Grund, warum ich noch einen
letzten Rest Gleichgewicht besaß, aber er konnte schlafen, und das machte den
Unterschied aus. Von der warmen Innenseite meines Bauches glitt er direkt ins
Land der Träume, einen Ort, an den ich mich kaum noch erinnern konnte.
Während der ersten Wochen meiner Insomnie habe ich zahlreiche Ärzte und
Freunde um Rat gefragt. Ich habe ihre Ratschläge streng befolgt. Joggen vor dem
Schlafengehen. Warme Milch mit Honig. Atemübungen. Eine Alprazolam. Fünf
Alprazolam. Einen Joint. Eine Flasche Wein. Stapel Bücher.
Aber nachts fühlte ich, wie mein Körper mich piesackte, meine Nerven sich
anspannten. Mein Bewusstsein erreichte eine Klarheit, die es tagsüber selten
hatte. Ich konnte jedem Gedankenstrom einzeln nachgehen. Meistens begannen sie
guten Mutes und endeten dann in unangebrachten Lebensfragen und Selbstmitleid.
Es ist gut, dass man seine Zukunft nicht deutlich vor Augen sieht. Eine
Beziehung sollte nicht die Ewigkeit versprechen. Kinder, nein Danke. Ein Job,
das dürfte kein Problem sein. Bei meinen Zeugnissen. Bei meiner Angst. Liebte
ich überhaupt jemanden richtig? Kümmerte ich mich nicht seit Jahren fast
ausschließlich um mich, meistens verbohrt und verärgert?
Gegen Morgen gelang es mir dann manchmal, doch noch kurz wegzusinken, in einen
Zustand zwischen Schlafen und Wachsein, doch war das noch weit entfernt vom Land
der Träume.
Keine Qual ist zu schrecklich für ein Video. Remco fand es notwendig, mich mit
der Geschichte von Roger zu konfrontieren, einem Schulleiter, der ein halbes
Jahr lang nicht geschlafen hatte. Seine Familie hatte alles sorgfältig gefilmt,
von den ersten schlaflosen Nächten bis zu den letzten Verdrehungen seiner
wilden Augen im Krankenhaus. Die Ärzte waren machtlos. Nachdem sie ihn tagelang
unter Beobachtung hatten, beschrieben sie ihn als einen Schalter, den man nicht
mehr betätigen konnte. Sie gaben ihm Schlafmittel in unverantwortlichen Dosen,
ausreichend um eine Ochsenherde lahm zu legen. Aber Rogers Schalter reagierte
nicht. Die Ochsen glotzten ihm ins Hirn und bepissten seinen Mund mit Geifer.
Sein Hinscheiden bedeutete eine langverdiente Ruhe, darüber waren sie sich alle
einig.
Uns ließ das verstummen. Remco legte sein Gesicht in meine Handfläche, sie
ruhte in meinem Schoß, und streichelte meine Schenkel. Ich streichelte sein
Haar, mechanisch, so wie jede Bewegung in jenen Tagen.
"Wieviel Stunden heute Nacht?", fragte er mich mit einem Kloß im
Hals.
"Vier", log ich. Es war eine gewesen. Wie immer bei einer Notlüge,
bekam ich einen hemmungslosen Lachanfall. Anfangs hat Remco noch mitgelacht,
denn wenigstens schien ich glücklich zu sein. Jetzt hörte er nur noch die
Unkontrolliertheit meines Geschüttels, sah er die Härte meiner Tränen. Er
wusste, aber verstand nicht. Ich auch nicht, aber das war ja gerade das Lustige.
Wie damals, als sich vor meiner Nase ein Esel zweimal am selben Stein gestoßen
hat. Oder als in der Stadt ein Zwerg auf der Schale einer Babybanane
ausgerutscht ist. Oder als ein Geschäftsmann während einer meiner Putzjobs in
meinen Wassereimer getreten ist. Das war auch lustig.
"Das war auch lustig", sagte ich und wiederholte das die ganze Nacht.
Remco schluchzte sich in den Schlaf. Es war weit nach fünf vor zwölf, höchste
Zeit für ein Nachtleben.
Ich radelte durch die dunklen Straßen, auf der Suche nach Leben, erfüllt von
Energie. Es war drei Uhr morgens. Leere Plätze, schwarze Gassen, hier und dort
eine wache Taube. Seit dem Aufkommen der Straßenlaternen waren die Viecher
vollkommen durch den Wind. Ob der wohl schnell bricht, so ein Taubenhals?
Wahrscheinlich nicht. Zähe Burschen, diese
Luftratten.
Natürlich sah ich ab und zu einen Menschen. Die Stadt schläft sozusagen nie.
Allerdings fand ich es höchst unangenehm, feststellen zu müssen, dass es sich
nicht um Kollegen handelte. Sie hatten ihre Nachtruhe bereits gehabt oder zumindest
ein Nickerchen gehalten. Falls nicht, würden sie es noch tun. Diese Scheißkerle.
Denen werd ich' s zeigen. Mein Zorn richtete sich nicht gegen die Nachteulen
oder die frühen Vögel.
Noch weniger gegen die Besitzer der erleuchteten Fenster, die ich sah. Etwa
die der Huren.
Wann schlafen Huren eigentlich? Diese Frage bekam ich nicht mehr aus dem Kopf.
Ich fuhr in die "Gläserne Straße" und spazierte mit dem Fahrrad an der Hand
hindurch. Die meisten der Damen schienen wenig Freude an meinem Auftauchen zu
haben. Einige betrachteten mich mit einem hochmütigen und zugleich bemitleidenden
Blick. Traust du dich nicht? Traust du dich nicht?