Dragan Velikic: "Dossier Domaszewski"
Domaszewski, Viktor von: geb. am 18.2.1821 in Galizien als Sohn eines Edelmanns ohne Vermögen. Eintritt in die k.k. Armee am 20.9.1839. In verschiedenen Garnisonen tätig; von 1842 bis 1852 in Pula. Von dort wegen eines "Vorfalls" nach Wien beordert. Verbleib unbekannt.
"Also wissen Sie: Niveau hat das ja
nicht sehr viel. Aber SO (geballte Faust zur Hervorhebung) ein Reißer!"
Diese in der "Tante Jolesch" tradierte Äußerung Ferenc Molnars gegenüber
Hugo
von Hofmannsthal anlässlich dessen Lesung des "Turms" würde auch zu Dragan
Velikics "Dossier Domaszewski" passen.
Oder besser in Torbergs Worten gesagt: Sie
würde da wie dort den Kopf auf dem Nagel treffen.
Dragan Velikic war
Chefredaktor des legendären Anti-Milosevic-Radiosenders B 92. Durch Balkankrieg
und Bombardierung Belgrads im Frühjahr 1999 wurde er zum zeitweiligen Emigranten
zwischen Budapest, Wien und Berlin. Diese Erfahrungen spielen auch im
vorliegenden Roman eine Rolle, der - selbstverständlich unter anderem - eine
groß angelegte Beschwörung des Mitteleuropagedankens aus Sicht eines serbischen
Weltbürgers, "begabt mit der Sensibilität eines mediterranen Menschen", so
Velikics zutreffende Selbstzuschreibung in seinem Essay zur jugoslawischen
Tragödie, "Stimme aus der Erdspalte" von 1991/92, zum Inhalt hat.
Gerade der
Umstand, dass dieser Versuch aus einer Randlage Mitteleuropas (soferne es
anlässlich der Unbestimmtheit dieses Raums eine solche überhaupt geben kann)
erfolgt, verleiht dieser Spurensuche ein gewisses Interesse, denn an und für
sich kann der Mitteleuropagedanke als gründlich ausgeschöpft gelten.
Aber
Oberpullendorf zum Beispiel erscheint für uns nicht eben als Kernbereich
Mitteleuropäertums und dessen nicht einmal ironisch gemeinte Nennung im Kontext
mit Zagreb, Budapest oder anderen Zentren entbehrt nicht einer gewissen
originellen Skurrilität, fernab jeglichen
Herzmanovsky-Orlandos. Wirklich völlig
fernab von ihm, dies mag man bedauern oder als große Stärke ansehen - aber von
"tarockanischem Lokalkolorit" ist bei Velikics nichts zu spüren, auch nicht
zeitgemäßen Problemstellungen, die sich ja irgendwie geradezu aufdrängen würden,
wie der jüngste tragische Bürgerkrieg.
Nun, Aufdringlichkeit ist Velikics
Sache nicht, schon gar nicht im vorliegenden Roman, der ein extrem sperriges,
sprödes und schwierig zu lesendes Werk ist, fernab jeglicher Gefallsucht oder
überhaupt nur Rücksichtnahme auf den Leser.
"Das Archiv oder das Dossier als
(auto)biografische Hohlformen, die beim Aufbau der Figuren literarisch gefüllt
werden, sind etwas modisch gewordene Vehikel für die Vermittlung von
Vergangenheit und Gegenwart. Bei Velikic kommt noch die Vorstellung vom
geheimnisvollen, nur im Kopf existierenden Bauwerk mit seinen Festungswällen und
den vom vergangenen Leben erfüllten Zimmern als Metapher für den Schichtenaufbau
der Existenz hinzu." (Bernhard Fetz in der Neuen Zürcher Zeitung)
Tatsächlich
ist die Brüchigkeit des Stils, die Aneinanderreihung von auf erstem Blick
zusammenhangslosen Episoden der einzig mögliche Vorwurf an Velikic, sich in
irgendeiner Form modisch zu gerieren. Aber dies erscheint mir schon als einziger
Fehler, und auch nur, wenn dieser Umstand einen besonders stört
...
Imgrunde handelt es sich bei diesem Roman um den galizischen
Baumeister Viktor Domaszewski, der von einer absoluten Hafenanlage träumte, die
jedoch mit Ausnahme einiger tatsächlich errichteter Magazine niemals
verwirklicht wurde, um ein gelungenes Abbild unserer menschlichen Existenz, mit
all ihren Hoffnungen, Plänen. Am Ende verflüchtigten sich nicht nur diese Pläne,
auch von Domaszewski als Person weiß man nicht allzuviel ...
Daran wird auch
die Lektüre dieses Romans nicht viel ändern, der nur Freunden sehr
anspruchsvoller Literatur empfohlen werden kann. Diesen jedoch
uneingeschränkt.
(Franz Lechner; 08/2004)
Dragan Velikic: "Dossier
Domaszewski" Velikic
Aus dem Serbischen von
Bärbel Schulte.
Marebuch, 2004. 192 Seiten.
ISBN 3-936384-11-8.
ca. EUR
18,50.
Buch bei amazon.de
bestellen
Dragan Velikic wurde 1953 in Belgrad
geboren, verbrachte seine Jugend in Pula und lebte
in Budapest, Wien, München
und Berlin. Studium der vergleichenden Literatur in Belgrad. Als Kosmopolit
und Essayist zählt er zu den wichtigsten zeitgenössischen Stimmen Mitteleuropas.
Seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt; darunter "Dante-Platz" (1999)
und "Der Fall Bremen" (2002).
Ergänzende Buchempfehlungen:
"Lichter der Berührung"
Wien 1994: Olga, eine junge Serbin aus Belgrad, flieht den Krieg in Bosnien
und folgt ihrem Mann Andrej ins Wiener Exil. Belgrad, das ist für sie das zurückgelassene
Zimmer mit den Büchern ihrer Lieblingsschriftsteller:
Pessoa und Joyce; das
ist die Zentralbibliothek, in der sie zuletzt gearbeitet hat, das sind die Familie
und die Freunde. Wien versucht sie sich durch endlose Straßenbahnfahrten zu
erobern, doch sie vermag nicht Fuß zu fassen in dieser Stadt, deren Sprache
sie nicht spricht, und versinkt immer mehr in Hoffnungslosigkeit, an der ihre
Ehe zu zerbrechen droht. Auf meisterhafte Weise verwebt Dragan Velikic das Schicksal
Olgas mit einer anderen Erfahrung des Exils: mit der Geschichte von
James
Joyce und seiner Frau Nora, die im Jahre 1904 das politische und soziale
Elend Irlands fliehen, um in Triest ein neues Glück zu suchen. Auch in diesem
Roman erweist sich Dragan Velikic als begnadeter Erzähler, der wie kein anderer
mit den Erzählformen des 20. Jahrhunderts spielt und seine Protagonisten vor
der unheilvollen Kulisse des vergangenen Jahrhunderts in ein sinnliches Netz
aus Wahrnehmungen, Erinnerungen und Empfindungen verstrickt. (Ullstein)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Dante-Platz"
Der Schriftsteller Labud Ivanovic verbringt die letzten Jahre seines Lebens
in der Emigration, wo er auch stirbt. Der Bibliothekar
Damjan Savic lebt in Belgrad, er arbeitet im Magazin der Bibliothek, bis er
die Aufgabe erhält, den Nachlass des verstorbenen Ivanovic zu ordnen und zur
Veröffentlichung vorzubereiten. Der Literaturhistoriker aus Übersee Adam Rosenberg,
dessen Vorfahren in früheren Zeiten aus Europa emigrierten, will einen Roman
schreiben, dessen Protagonist die Vita dreier Autorenbiografien (eine davon
das Leben Ivanovics), die sich auf ungewöhnliche Weise berühren, in sich vereinigt.
Velikic zeigt parallele Geschichten, zeitlich gebrochen, fragmentiert, in Rückblicken
auf die Herkunftsgeneration der Handlungsträger, die sich annähern und auseinander
entwickeln vor dem Hintergrund des Zerfalls von Jugoslawien, der Rahmen für
einige der gezeichneten Lebenswege. Reisewege, Eisenbahnnetze und Wasserwege,
werden für Velikic nicht zuletzt vor diesem Hintergrund zu Ordnungsmetaphern,
die mehr strukturieren als die Handlungsräume in Belgrad,
Istrien, Triest, in
der Umgebung Münchens und in Amsterdam. (Wieser)
zu
einer Leseprobe
Buch bestellen
"Das
Astragan-Fell"
Dieser Roman leuchtet ins
Geheimnis der Verführung, ins Herz der Finsternis dieses Jahrhunderts. Der Traum
von Identität, das Trauma der Irreführung.
Als ein Geheimoffizier das Haus einer Rijekaer Bürgerfamilie untersucht und
den Kragen eines Pelzmantels - seidig wie Astragan-Fell - berührt, beginnt eine
Liebesaffäre und eine Geschichte von Wahlverwandtschaft. Ein Sproß spürt von
Kind an den Trugschein, der durch das Geäst dieses weitverzweigten Stammbaumes
fällt, in ein Leben der Grenzüberschreitungen und Identitätswechsel: was geschah
seiner nach Italien geflüchteten Mutter, was verbirgt die Doppelexistenz des
Vaters? - der junge Marko wird ein »Durchläßiger«, im Erinnerungsschimmern entstehen
Knoten und Protokolle des Verdachts. Er gerät in die Kreise der weltweit, wie
Löwenzahnsamen, verstreuten »Zürcher Wanderer«. Hat ihr geheimnisvolles Wirken
wirklich nur mit botanischen »Studien über das Unkraut« zu tun? Was vermessen
Kartographen im »Hotel Lux«?
Die Suche nach Herkunft wird zur Versuchung von Identität, aus einem Suchenden
wird ein Verfolgter, aus Marko Francesco. Velikic verknüpft, zwischen Familiensaga
und Politthriller vibrierend, Verstrickungen von Menschen und Mächten. Schauplätze
dieses Schelmenromans zwischen Traum und Trauma, Geheimnis der Verführung und
Geheimwissen der Verführer, sind das »Studio Belgrad« (ein Drehort), Zagreb,
Pula, Moskau
und London, Vatikan
und Buenos Aires.
Der Autor unterläßt jedwede Deutung des Geschehens, Identifizierung mit den
Geschilderten. Sein Roman, Ende der Achtzigerjahre geschrieben, erweist sich
im aktuellen Bezug zum Drama in Südosteuropa, als wahrlich prophetisch: So birgt
Dichtung Geschichte, Widersprüche des Heute werden, erzählt, zu Enterhaken des
Künftigen.
Dieser Roman der Verführung, der politischen, erotischen und poetischen, ist
auch veritable Leseverführung. Meisterhafte Prosakunst webt aus feinen Satzfäden,
dichten Bildern den Stoff, aus dem der Mantel dieser Geschichte ist.
Buch bestellen
"Der Fall Bremen"
"Bremen", fragt einmal Ivan, der Held des Romans, "ist das Stadt,
Pension,
Hafen oder Lager?" Dragan Velikic verwebt die Schicksale dreier Generationen
von Emigranten
und erzählt vom ungewöhnlichen Leben des Straßenbahnfahrers Emil Kohot, vom
absoluten Gehör Ivan Bazarovs, vom Verschwinden Johann Kastendieks und von Belgrader
Hotels und Karlsbader Pensionen.
In einer mehrstufigen Komposition entwirft Velikic
seinen Roman vor der morbiden und wechselhaften Geschichtskulisse namens Europa.
(Ullstein)
Buch bestellen
"Jeder muss doch irgendwo sein" zur Rezension ...
"Das russische Fenster" zur Rezension ...