Hubert Wolf: "Index"
Der Vatikan und die verbotenen Bücher
Als der Index der verbotenen Bücher
erfunden und die römischen Zensurkongregationen gegründet wurden, galt Zensur
als "geplante und vollzogene, autoritäre Kontrolle von allen denkbaren
Kommunikationsformen mit dem Ziel, eine öffentliche Wirkung unerwünschter
Meinungen zu verhindern" (Fitos, "Zensur"), als eines der selbstverständlichen
und wenig hinterfragten Instrumentarien staatlicher und kirchlicher
Ordnungspolitik. In diesem Sinne nahm der französische König dieses Recht ebenso
in Anspruch wie der Kaiser des heiligen römischen Reiches, die Römische Kurie
oder universitäre Fakultäten. Zensur ist in europäischen Gesellschaften der
Neuzeit auch von Intellektellen meist positiv beurteilt worden. Argumentiert
wurde mit der "notwendigen moralischen Korrektur eines irregeleiteten Autors"
(ebenfalls Fitos, "Zensur"). Der negative Aspekt der Zensur wurde erst im
Kontext der Aufklärung augenscheinlich. Hierzu formulierte Goethe in "Wilhelm
Meisters Wanderjahre" folgendermaßen: "Zensur und Pressefreiheit werden
immerfort miteinander kämpfen. Zensur fordert und übt der Mächtige,
Pressefreiheit verlangt der Mindere. Jener will weder in seinen Plänen noch in
seiner Tätigkeit durch vorlautes, widersprechendes Wesen gehindert, sondern
gehorcht sein; diese wollen ihre Gründe aussprechen, den Ungehorsam zu
legitimieren."
Es dauerte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts,
bis die Zensur in Mitteleuropa allgemein abgeschafft wurde. Heutzutage ist
Zensur in vielen totalitären Regimen nach wie vor eine tägliche Praxis. Ein
gutes Beispiel dafür mag Internetzensur in China sein, wo der einzelne Bürger
durch eine extreme "Firewall" derart "geschützt" ist, sodass er nicht in
Versuchung geraten kann, Seiten westlicher Prägung oder auch chinakritische
Artikel zu lesen.
Zensur ist weit älter als
die
Schrift. Es wurden freilich schon in schriftlosen Gesellschaften abweichende
Meinungen bekämpft. Doch mit der Schriftlichkeit ergab sich eine neue Dimension
und Qualität von Zensur. Bereits im frühen Christentum spielt Zensur eine entscheidende
Rolle. Die Bildung des Kanons des neuen Testaments ergab, dass nur bestimmte
Bücher von der Kirche angenommen worden sind, während
andere
verworfen wurden. Als Bücher noch von Hand geschrieben und von nur wenigen Menschen
gelesen werden konnten, war es keine große Schwierigkeit, angeblich häretische
Werke unschädlich zu machen. Die ein oder zwei bestehenden Exemplare (meist
waren Mönche damit beschäftigt, Bücher oft jahrelang abzuschreiben) brauchten
nur dem Feuer überantwortet zu werden. Mit der Erfindung des Buchdrucks und
der langsamen Etablierung des Buches als taugliches Massenmedium war es möglich,
ein Buch in Tausenden Exemplaren zu drucken und somit eventuelle Häresien und
antikatholische Schriften zu tilgen. Die Reformation gilt als medienpolitische
Revolution, da sich durch die Qualität der Schriftlichkeit das Christentum als
Buchreligion etablieren konnte. Dadurch wurde sozusagen ein Kontrollbedürfnis
alter Autoritäten "provoziert". Karl V. fühlte sich durch die Reformation bedroht
und ging gegen
die "ketzerische" Bewegung des Neuerers Martin Luther vor. Luthers
Schriften waren bereits massenhaft verbreitet, als durch das Wormser Edikt im
Jahre 1521 ihre Produktion, ihr Verkauf, ihre Lektüre und ihr Besitz unter Androhung
harter Strafen verboten wurden.
Heinrich VIII.
ließ 1526 eine Liste mit 18 verbotenen Werken publizieren. Fünf davon waren von
Luther geschrieben worden. In Frankreich beschäftigte sich Franz I. 1521 mit der
Zensur theologischer Werke und übertrug diese Aufgabe der Sorbonne. Es erfolgte
buchstäblich eine Überwachung des französischen Buchmarktes mit dem Ergebnis,
dass zwischen 1723 und 1774 insgesamt 661 Bücherverbote ergingen. Zensur gehörte
also in der Frühen Neuzeit bis zur Aufklärung und der Französischen Revolution
von 1789 zur beschriebenen kirchlichen und staatlichen Ordnungspolitik.
Vorzensuren, Bücherverbote und Indizierungen als Nachzensur waren an der
Tagesordnung. Als im Jahre 1544 also erstmals die Reinerhaltung der Lehre
angestrebt und der Index aus der Taufe gehoben wurde, war dies keineswegs eine
Besonderheit. Innerhalb von nur zwölf Jahren kam es zu sechs Neuauflagen dieses
Index. Der erste italienische Index wurde 1549 in Venedig herausgegeben, 1554
erschienen in Mailand, Venedig und Florenz neue Aufstellungen von verbotenen
Büchern mit etwa 600 Titeln. 1547 hatte die portugiesische Inquisition einen
Katalog mit immerhin 160 Bücherverboten zusammengestellt. Der erste
römisch-päpstliche Index kam im Pontifikat Pauls IV. zustande.
Der Katalog
verbotener Bücher wurde zwar gedruckt, aber nicht veröffentlicht. Es wird
gemutmaßt, dass es sich um ein "Arbeitsinstrument" für die vom Papst eingesetzte
Indexkommission gehandelt habe.
1559 war es soweit, und die erste
tatsächliche Publikation des päpstlichen Index kam ans Licht der Öffentlichkeit.
Dieser "Urindex" war recht verwirrend gestaltet. Es gab eine Einteilung in drei
Klassen. In der ersten Klasse fanden sich Autoren, deren Bücher samt und sonders
verboten waren. In der zweiten Klasse "gewisse Schriftsteller", von denen nur
einzelne oder mehrere Werke verzeichnet waren. In der dritten Klasse schließlich
anonym erschienene Werke von Ketzern. Es geschah erwiesenermaßen, dass sich
manche Autoren gleich mehrfach im Index erwähnt fanden. Mit Vor- und
Familiennamen. Der Index war zudem keineswegs konstruktiv
ausgestaltet. Die meisten der Bücher auf dem Index waren von keinem Mitglied
eines hierfür beorderten Gremiums gelesen, geschweige denn beurteilt worden. Es
reichte schon, wenn die Bücher antikatholisch oder in irgendeiner Form
"revolutionär" waren. Bereits im Jahre 1562 während des Konzils von Trient
entschlossen sich die Konzilsväter, dass eine Kommission eingesetzt werde,
welche zu prüfen habe, "was im Hinblick auf die
Buchzensur
zu unternehmen" sei. 18 Mitglieder gehörten diesem Ausschuss an. Bald schon
entstanden zehn Indexregeln, die bis zur großen Reform von Leo XIII. im Jahre
1896 gültig blieben und somit auch in jeder Indexausgabe abgedruckt
wurden.
Sämtliche zehn Regeln würden wohl den Rahmen dieser Rezension in
Hinblick auf die "Qualitäten" sprengen. Es sei auf die interessantesten Regeln
in aller Kürze verwiesen.
Die erste Regel war jene, alte Bücherverbote
bestehen zu lassen.
Zweite Regel war es, Häresiarchen und andere Ketzer
(Protestanten) grundsätzlich zu verbieten. Hierzu gehörten etwa Luther, Zwingli
oder Calvin.
Die vierte Regel besagte, dass die Lektüre der Heiligen Schrift
in modernen Übersetzungen für Laien generell verboten sei.
Die siebte Regel
verbot Bücher mit "schlüpfrigem" und unzüchtigem Inhalt.
Die achte Regel
beschäftigte sich mit der Expurgation, der sogenannten "Buchreinigung". Bücher,
die grundsätzlich einen "guten" Inhalt hätten, sollten von möglicherweise
problematischen Stellen befreit werden.
Der Index des Konzils von Trient
erschien im März 1564.
Der Autor Hubert Wolf beschäftigte sich eingehend mit der Geschichte der Indexkongregation,
die eigentlich mit jener der Inquisition verbunden ist. Entscheidend ist allerdings,
dass die Indexkongregation nie jenen Stellenwert innehatte, den für viele gebrandmarkte
und "verdächtige" Menschen die
Inquisition
darstellte. Die bürokratischen Abläufe in jenen Gremien, die für Inquisition
und Indexkongregation zuständig gewesen sind, waren teilweise stark miteinander
verflochten. Im Laufe von Jahrzehnten konnte ein System etabliert werden, das
den verdächtigen Autoren eine Chance gab, nicht auf den Index zu geraten. Es
wurden mehrere Gutachter und Konsultoren in den Prozess der möglichen Indizierung
einbezogen. Somit konnte es leicht geschehen, dass ein und dasselbe Buch vom
einen Gutachter als indexwürdig betrachtet, vom anderen Gutachter jedoch freigesprochen
wurde. Die Denunziation erfolgte von außen. Anonyme oder nicht anonyme Personen
konnten sich an das Staatssekretariat, das Heilige Offizium, eine andere Kongregation
oder den Papst selbst wenden. Vor der Qualifikation durch schließlich zwei Konsultoren
waren bereits ein Sekretär und zwei weitere Konsultoren mit einer Vorprüfung
der Sachlage beschäftigt. Die Vorprüfung konnte bereits ergeben, dass ein Buch
nicht als zensurwürdig betrachtet wurde. Dies kam häufiger vor, als man glauben
mag. In manchen Fällen gab es mehrere Verfahren, die sich letztlich auf mehrere
Jahre ausdehnten.
Erst im Jahre 1998 wurde es möglich, die Archive von
Indexkongregation und Römischer Inquisition zu erforschen. Daraus ergibt sich,
dass die beschriebenen Fälle lange gehütete Geheimnisse gewesen sind.
Von
den neun ausführlich dargestellten möglichen und unmöglichen Prozessen stechen
zweifelsohne jene hervor, die den Index selbst, "Onkel Toms Hütte" und
Karl May betreffen.
Die kriminalistische Ader des Autors war notwendig, um
viele mutmaßliche Einzelheiten zusammenzuflicken und auf einen gemeinsamen
Nenner zu bringen. Für den Rezensenten mit Abstand am eindrücklichsten ist die
Beschreibung des Falls "Onkel Toms Hütte". Hieran kann nämlich sehr gut
gesehen werden, wie verschieden die Urteile der zuständigen Konsultoren
hinsichtlich "Zensurwürdigkeit" waren. Der erste Gutachter namens Demartis las
antikatholische, revolutionäre Stimmungen aus dem Buch heraus. Er verurteilte
viele Stellen des Buches, indem er den Glaubenskontext auf den Kopf stellte.
Vordergründig war die Feststellung protestantischer Häresie. Er bezeichnet
Methodisten als "Schandfleck", "wasserlose Wolken, von den Winden umher
getrieben." Zudem "erkennt" er gottlose Formulierungen, die aus Dialogpassagen
hervorgehen sollen.
"Woher weißt du, dass es einen Christus gibt, Tom? Du
hast den Herrn nie gesehen." Diese Fragestellung von St. Clare stellt für
Demartis wohl bereits Häresie dar. Er hat nie den Kontext der Geschichte im
Blick, sondern wendet sich einzelnen Sätzen zu und beleuchtet sie ohne jeglichen
logischen Zusammenhang. Sein Gutachten muss somit darauf hinauslaufen, dass
dieses Buch zensurwürdig sei. Ganz anders stellt sich die Leseweise des zweiten
Gutachters, Da Rignano dar. Er hat den Kontext des Romans im Auge und sieht in
keiner Weise revolutionäres Gedankengut im Text. Vielmehr schreibt er davon, wie
unwürdig Sklaven in Amerika behandelt werden würden; dass sie unter
schrecklichen Bedingungen ihr Leben fristen müssten und die Autorin für diese
Sklaven das Recht auf Freiheit proklamiert. Da Rignano "übersieht" die
eigentliche Intention der Autorin nicht und beschreibt auf fast zärtliche Weise,
welche Bedeutung dieses Buch habe, das keineswegs zensuriert werden dürfe. Er
las keinerlei antikatholische Stimmungen aus dem Buch heraus. Es ist
richtiggehend rührend, mit welcher Inbrunst der zweite Gutachter "Onkel Toms
Hütte" verteidigt. Vermutet werden kann, dass der erste Gutachter noch "ein
grüner Bengel" war und unbedingt alles richtig machen wollte. Es handelte sich
um das erste Buch, das er beurteilen musste, während Da Rignano darin schon
Übung hatte. Es den "Vorgesetzten" recht machen zu wollen, kann also Grund für
diesen kapitalen Nonsens gewesen sein, auf den übrigens nicht einmal der Papst
selbst hereingefallen ist.
Noch sehr viel mehr könnte über dieses Buch
von Hubert Wolf geschrieben sein. Es handelt sich in jedem Falle um eine
lohnende, bemerkenswerte Lektüre. Der Index wurde im Gefolge des vatikanischen
Konzils 1966 abgeschafft. Eine kleine Randbemerkung verdeutlicht, wie seltsam
und kaum nachvollziehbar die Indizierungen zustande gekommen sein müssen.
Hitlers "Mein Kampf" nämlich wurde nicht in den Index der verbotenen Bücher
aufgenommen. Eine zweifelsfrei unfassbare Tatsache, über die der Leser bald mehr
erfahren soll. Denn Hubert Wolf schreibt in seinen abschließenden Dankesworten
davon, dass er über das Thema "Index und NS-Ideologie", wobei die Frage, warum
Hitlers "Mein Kampf" nicht verboten worden ist, im Mittelpunkt stehen soll,
schreiben und dieses Buchprojekt mit dem Verlag Beck demnächst in Angriff nehmen
wolle. Auch auf diese Publikation können wir schon jetzt äußerst gespannt
sein.
(Jürgen Heimlich; 02/2006)
Hubert Wolf: "Index"
C.H. Beck, 2006. 300
Seiten.
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Hubert Wolf, geboren 1959, ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster. Er wurde 2003 mit dem "Leibniz-Preis" und 2004 mit dem "Communicator-Preis" ausgezeichnet. Einem großen Publikum ist er durch zahlreiche Artikel, Interviews und Vorträge bekannt.
Leseprobe:
Prolog:
Der Papst macht
Reklame
"Meine Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter ist auf
den Index der verbotenen Bücher gesetzt worden." So vertraute der bekannte
Historiker Ferdinand Gregorovius, der lange Jahre in der Stadt am Tiber
verbracht hatte, seinem Tagebuch am 1. März 1874 an. Publik geworden war diese
Tatsache durch ein Bando, eines jener großformatigen Urteilsplakate, mit denen
die Indexkongregation ihre Bücherverbote zu verkünden pflegte. Diese wurden an
den Portalen der römischen Hauptkirchen angeschlagen - dem Petersdom, San
Giovanni in Laterano oder Santa Maria Maggiore, und bis zur Besetzung Roms durch
italienische Truppen 1870 auch am Campo de’ Fiori - und im Kleinformat an
kirchliche Stellen in der ganzen Welt versandt. Auf dem Dekret stand das Datum
des 5. Februar; zusammen mit Gregorovius wurden fünf weitere Werke verdammt. Der
Bannstrahl der römischen Zensur scheint den preußischen Geschichtsschreiber
allerdings weitgehend unbeeindruckt gelassen zu haben. Offenbar hatte er die
Indizierung längst erwartet, seitdem in Rom das Gerücht umging, die Jesuiten
hätten sein Werk bei der Indexkongregation denunziert. Voll freudiger Erwartung
ging Gregorovius zum Petersplatz, "wo ich das Dekret an der Marmorsäule des
ersten Eingangs angeheftet sah. Der ehrwürdige Dom bekam plötzlich ein
persönliches Verhältnis zu mir. Noch nie zuvor durchwandelte ich ihn mit so
erhobener Stimmung ... Mein Werk ist vollendet und breitet sich in der Welt aus;
der Papst macht ihm jetzt Reklame."
So gelassen wie der protestantische
Historiker konnten längst nicht alle Autoren mit einer Indizierung umgehen. Zwar
ist das Verbotene immer auch das Interessante, und ein römisches Buchverbot
konnte durchaus auch zu einer Werbeaktion werden. Aber: Wer als Katholik auf dem
"Index librorum prohibitorum" landete, dem wurde die Rechtgläubigkeit
abgesprochen. Wer als Theologieprofessor indiziert wurde, für den bedeutete dies
nicht selten das Ende der akademischen Karriere. Wer ein Buch las, das auf der
"schwarzen Liste" stand, verfiel der Strafe der Exkommunikation und riskierte
damit sein ewiges Seelenheil. Wer ein solches Buch druckte, verkaufte oder
erwarb, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen, den traf dieselbe Sanktion.
Nicht umsonst galt der Index als "Friedhof katholischen Geisteslebens" und
"Schädelstätte der Geistesgrößen". Katholische Gläubige wurden - so lautete ein
weit verbreiteter Vorwurf - vom Papst und seinen Behörden als unmündige Kinder
angesehen, die nicht selber entscheiden konnten, geschweige denn durften, welche
Lektüre für sie gut und welche schlecht war. Diese Entscheidung nahm der oberste
Hirte seinen Schafen ab.
Bis heute gilt der Index der verbotenen Bücher im
kollektiven Gedächtnis als schrecklicher Katalog geistiger Verknechtung, mit dem
eine reaktionäre Institution wie die katholische Kirche, die sich im alleinigen
Besitz der Wahrheit dünkte, die Freiheit des Geistes unterdrückte und durch
rigide Zensur den literarischen und wissenschaftlichen Fortschritt hemmte. Das
vornehmste Medium neuzeitlicher Wissenskultur, das Buch, suchte man so in Rom
einer Totalkontrolle zu unterwerfen.
Mehr noch: Man verbindet mit dem Index
neben der Indexkongregation immer sofort auch die zweite in Rom für Buchzensur
zuständige Behörde, die Inquisition, die schlechthin als Chiffre für das Böse in
Kirche und Welt gilt. Bei diesem Begriff entsteht in den Köpfen sofort ein
Amalgam aus dem schrecklichen, psychopathischen mittelalterlichen Inquisitor
Bernardo Guy, wie ihn
Umberto Eco im
Namen der Rose entworfen hat, den Autodafés mit Tausenden verbrannter
Juden durch den spanischen Inquisitor Niño de Guevara, wie ihn El Greco in
seinem unnachahmlichen Portrait verewigt hat, und den brennenden Scheiterhaufen
von Ketzern und ihren Büchern. Die Inquisition fasziniert heutige Menschen fast
so sehr wie die Mysterien des Hexenwahns. Der römische Index der verbotenen
Bücher wird dabei zumeist mit diesen schaurig-schönen Inquisitionsbildern
vermischt.
Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß die Archive von
Indexkongregation und Römischer Inquisition jahrhundertelang nicht zugänglich
waren. Das berühmt-berüchtigte "Secretum Sancti Officii", das Geheimnis der
Inquisition, verlor seine Wirkmacht auch nach Ende dieser Institution im Jahr
1966 nicht. Und wo man keine Quellen hat, kann man eben keine Geschichte
schreiben, sondern muß Geschichten erfinden, ist auf Spekulationen und
abenteuerliche Konstruktionen angewiesen. Romanhafte Historienschinken und
pseudohistorische Schauergeschichten beherrschten demzufolge das Bild. Wenn sich
Historiker ernsthaft den Themen "Index" und "Inquisition" zuwandten, konnten sie
meistens nur Opfergeschichten schreiben, weil die Sphäre der Täter hinter den
dicken Mauern des Vatikans verborgen blieb.
Im Grunde ging es ihnen nicht
anders als den Betroffenen selbst, den indizierten Autoren, ihren Verlegern und
den Buchhändlern. Man erfuhr nur etwas von der Tatsache eines Verbots,
zunächst durch die angeschlagenen Urteilsplakate, dann durch die meist Jahre
später erfolgte Aufnahme dieser Entscheidung in den eigentlichen Index der
verbotenen Bücher. Die Hintergründe eines solchen Zensurverfahrens und der
Prozeßverlauf, die Ankläger und Denunzianten sowie ihre Absichten, die
beteiligten Gutachter und ihre Voten, die internen Diskussionen der Konsultoren
und Kardinäle, die eigentlichen Urteilsgründe und die Rolle des Papstes blieben
dagegen meist völlig im Unklaren. Und weiter: Da in Rom nur tatsächlich erfolgte
Bücherverbote publiziert wurden, nicht aber Freisprüche von Werken, die an der
Kurie zwar angezeigt und untersucht, aber letztlich nicht für gefährlich oder
häretisch angesehen wurden, drang von diesen Prozessen kaum einmal etwas an die
Öffentlichkeit. Nicht wenige Autoren hatten in Rom ein Verfahren am Hals, ohne
davon etwas mitbekommen zu haben. Wieder andere waren zwar faktisch in Rom nie
denunziert worden, aber nicht selten konnte allein aus dem Gerücht einer Anzeige
vor der Inquisition von Gegnern eines Verfassers politisches Kapital geschlagen
werden.
Erst die Öffnung der Archive der Römischen Inquisition und der Indexkongregation
im Frühjahr 1998, die sich heute in der Obhut der Kongregation für die Glaubenslehre
befinden und nicht an das Vatikanische Geheimarchiv abgegeben wurden, brachte
der historischen Forschung ganz neue Möglichkeiten. Jetzt können die Zensurverfahren
erstmals auf der Basis der eigentlichen Prozeßakten untersucht und vor allem
die Hintergründe und Drahtzieher aufgedeckt werden. Insgesamt landeten viele
tausend Autoren mit ihren Werken auf dem Index. Die Bandbreite reicht von
Honoré
de Balzac,
George Sand,
Alexandre Dumas,
Gustave Flaubert,
Victor Hugo und
Heinrich
Heine über Hugo Grotius, Johannes Scotus Eriugena, Giordano Bruno, René
Descartes, Auguste Comte, Immanuel Kant,
Blaise
Pascal und
Friedrich den Großen bis John Stewart Mill,
Jean-Jacques
Rousseau,
Voltaire, Montesquieu, Thomas Hobbes, Moses Maimonides,
Simone de Beauvoir und
Jean-Paul Sartre.
Diderots Enzyklopädie
fehlt genausowenig wie das große Wörterbuch von Pierre Larousse, von
Martin
Luther, Ulrich Zwingli,
Johannes
Calvin oder dem Book of Common Prayer ganz zu schweigen.
Charles
Darwin sucht man hingegen vergeblich, dafür stehen zahlreiche katholische Darwinisten
auf dem Index, wie zum Beispiel John Zahm mit seinem Werk Evolution and Dogma.
Andererseits wurden zahlreiche Werke in Rom denunziert und untersucht, aber
nicht verboten.
Aus der Vielzahl römischer Zensuren werden hier neun Fälle aus ganz unterschiedlichen
Bereichen des Buchsortiments ausgewählt. Neben den drei Literaten Heinrich Heine,
Harriet Beecher Stowe und Karl May stehen mit Johann Sebastian Drey, Johann
Michael Sailer und Augustin Theiner drei im katholischen Deutschland des 19.
Jahrhunderts sehr prominente Theologen. Dazu kommen mit Leopold von Ranke ein
evangelischer und mit Franz Heinrich Reusch ein katholischer Historiker, die
sich mit römischen Themen beschäftigt haben: der eine mit den Päpsten, der andere
mit dem Index der verbotenen Bücher selbst.
Der
Knigge als Benimmbuch steht stellvertretend für die Gattung der "Ratgeber".
Außer Onkel Toms Hütte haben alle in diesem Band behandelten Werke deutsche
Autoren. Nur von dreien, nämlich von Heine, Ranke und Theiner, wußte man bisher,
daß gegen sie in Rom ein Indizierungsverfahren anhängig war, weil nur sie auf
dem Index landeten. Da die übrigen sechs Fälle nicht mit einem Buchverbot endeten,
war von ihnen bislang nichts bekannt. Freisprüche wurden in Rom nämlich nie
publiziert. Und für die internen Beratungen galt die Vorschrift der striktesten
Geheimhaltung!