Thomas Brechenmacher: "Der Vatikan und die Juden"

Eine unheilige Beziehung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart


Thomas Brechenmacher, geboren 1964, ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Seit 1996 forscht er zum Thema "Vatikan und Juden" in den Vatikanischen Archiven, zuletzt 2003/04 als Gastdozent am Deutschen Historischen Institut in Rom.

1998 öffneten sich die Türen der vatikanischen Kongregation für den Glauben und gewährten Einblick in Akten, die vom späten 16. Jahrhundert bis zum Ende des Kirchstaates 1870 reichen. 2003 wurden auch die Bestände des Pontifikats Pius' XI (1922-1939) für die Wissenschaft freigegeben. Neben den zahlreichen weiteren Archiven des Vatikans erschließt sich somit seit kurzer Zeit eine vatikanische Aktenlage, die Quelle vieler wissenschaftlicher Werke sein kann und vermutlich auch wird. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Aspekt des Verhältnisses von Christen und Juden in der Zeit vom Ende des 16. Jahrhunderts bis hinein in das Pontifikat Johannes Pauls II.

Es bestand zum Ende des 16. Jahrhunderts eine komplexe Beziehung zwischen Christen und Juden. Der Klerus würdigte das gemeinsame alttestamentarische Erbe, stellte jedoch auch fest, dass die Juden Christus getötet hatten. Allerdings wurde offiziell keine Gewalt gepredigt, denn die Juden waren einstmals schließlich ein auserwähltes Volk. Aber man war sich auch bewusst, dass sich die Juden durch ihre Weigerung, ihre alttestamentarische Engstirnigkeit durch die neutestamentarische Botschaft zu erweitern, letztlich um ihr Seelenheil brachten. Und die katholische Kirche wähnte sich von alters her im göttlichen Auftrag, und gerade an den "verbockten Juden" sollte man sich die missionarischen Zähne ausbeißen. So verkündete der Vatikan, der intensive Umgang mit Juden könne Christen in ihrer spirituellen Festigkeit erschüttern, ja sogar vom Glauben abfallen lassen. Auf Seiten des einfachen Volkes hielten sich darüber hinaus auch die Märchen vom jüdischen Ritualmord an christlichen Kindern und andere Schauergeschichten mehr. Aus dem Jahr 1566 stammt auch die Kennzeichnungspflicht der Juden durch ein gelbes Zeichen.

Das war die theologische Komponente des Verhältnisses des Vatikans und der Juden. Aber der Papst war auch das Staatsoberhaupt des Kirchenstaates, der sich vom Podelta über den mittleren Apennin bis zur Grenze des Königreichs Neapel erstreckte. In dieser Rolle hatte er es auch mit Bürgern jüdischen Glaubens zu tun. Deren Status Judaicus stand für einen bürgerlichen Status, nicht sonderlich privilegiert, aber juristisch greifbar. Solange der Kirchenstaat existierte, und das ging mit napoleonischen Unterbrechungen bis 1870, regelte das Prinzip der doppelten Schutzherrschaft die Beziehungen untereinander. Zum einen galt es, die Christen vor den Juden und ihrer "verderbten Kultur" zu schützen. Aber da ein beständiges Feuer auf Seiten der Christen gegenüber den Juden existierte, mussten auch die Juden vor Übergriffen der Christen geschützt werden. So ward 1555 durch einen Kanon Pauls IV. das römische Ghetto erfunden, das begrifflich auf eine venezianische Insel zurückgeht, wo erstmalig 1516 die jüdische Gemeinde der Republik Venedig konzentriert wurde.

Die Juden wurden in Ghettos kaserniert, die zu Anfang abends abgeschlossen wurden - eine Art physischer Zwangshermeneutik. Gustav Meyrinks "Golem" enthält eine dichte Schilderung des Prager Ghettos im späten 19. Jahrhundert, die einem natürlich bei den Schilderungen der römischen Ghettos ständig vor Augen ist. Die Wirkung der Ghettos auf Besucher war aber anscheinend stark ideologisch bestimmt. Da ist einerseits die Rede von menschenunwürdigen Verhältnissen, von einem Schweinestall. Doch der Historiker Jakob Burckhardt meinte, es wirke mittelalterlich, aber emsig arbeitend. Während Rom in Lumpen gehe, trüge das Ghetto ganze Kleider.

Eine Episode am Rande dreht sich um die Mietfestschreibung im Ghetto. Ursprünglich als Schutz der Juden vor finanzieller Ausbeutung durch christliche Vermieter gedacht, als eine Art Kompensation für den Ghettozwang, entwickelte sich das Jus Gazzagà im Lauf von zweihundert Jahren zu einem wirtschaftlich lukrativen Geschäft für die Juden und zu einem Klotz am Bein für die christlichen Hauseigentümer. Aber man kann hier erkennen, dass der Vatikan die doppelte Schutzherrschaft durchaus ernst nahm.

1831 wurden die Ghetto-Tore in Rom abschließend geöffnet. Nach 1848 zogen teils Christen in Ghettos ein und die Juden heraus. Das war die Zeit der politischen Lähmung des Kirchenstaates kurz vor seinem Ende 1870, denn 1870 endete mit der Geschichte des Kirchenstaates die Geschichte der päpstlichen Judenpolitik, sofern sie die Aufgabe hatte, das Leben jüdischer Untertanen im Kirchenstaat zu regeln. Der deutsch-französische Krieg veranlasste die Franzosen übrigens, ihre Schutztruppen abzuziehen, womit der Papst praktisch im Freien saß und feststellen musste, dass rundherum Italiener darauf warteten, sich den Kirchenstaat einzuverleiben.

Es verwundert nicht, dass auch im Klerus eine große Meinungsvielfalt anzutreffen war. Buchstabentreue Sturköpfe bildeten das eine Extrem, zusammen mit Teilen der katholischen Presse, wie das Beispiel Dreyfus zeigte. Dreyfus galt in der katholischen Presse als Spitze eines vaterlandslosen Eisbergs, der das Schiff Katholizismus versenken wolle. Als sich dessen Unschuld abzeichnete, hieß es, man solle den Fall politisch nicht überbewerten und ihn getrost der Justiz überlassen. Aber es gab auch die  christlichen - diese Einschränkung galt immer - Humanisten am anderen Ende, die sich zunehmend durchsetzten. Pius XI. bezieht sich 1928 auf die christlichen Wurzeln im Judentum und ergänzt: Die Juden sind zwar verblendet, doch der Hass gegen das einst von Gott auserwählte Volk, den man mit Antisemitismus bezeichnet, ist falsch. Womit wir beim Thema Nationalsozialismus angelangt wären.

Der Vatikan war lange Zeit antijudaistisch, aber nicht antisemitisch. Und so bietet auch dieses Kapitel seine Überraschungen, denn der Schweiger Pius XII. hatte gar nicht geschwiegen. Es war ein ständiges Abwägen von Gütern und er entschied sich für vergleichsweise leise Proteste und wirkte humanitär um Hintergrund. Ein Donnerwetter gegenüber den Nazis hätte unabsehbare Folgen für viele Menschen in Deutschland gehabt. Beispiel?

Als im März 1937 eine deutliche Enzyklika verlesen wurde, kam es zu Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und Enteignungen bei der deutschen Kirche. Wenn exponierte kirchliche Würdenträger gegen die Nazis wetterten, nahmen die sich dann ein paar einfache Priester zur Brust. Nazis haben sich methodisch nach kirchlichen Kritiken an deren Schutzbefohlenen, an den Schwachen gerächt. Die Sorge um den Fortbestand des kirchlichen Lebens in Deutschland dominierte das Handeln in Rom; alles Andere war sekundär. Pius XII. verlegte sich somit auf das uneigentliche Sprechen, jeder, der wollte, konnte ihn verstehen. Jahreswechsel 1938/39 steht der Vatikan vor der Entscheidung: völliger, kompromissloser Bruch oder weiterhin karikative Wirkung im Geheimen. Der Papst schwieg und rettete somit vermutlich vielen Menschen das Leben.

Im Vatikan existieren etwa 4 Millionen Datenblätter über erfolgreiche oder weniger erfolgreiche Bemühungen in Einzelfällen: Christen und Juden. Die Mitarbeit bei der Rettung von etwa 100.000 Juden ist dokumentiert. Mindestens 4000 römische Juden fanden während des Krieges Unterschlupf in kirchlichen Einrichtungen. Übrigens: Der Lateran-Staatsvertrag mit dem Italien Mussolinis, der dem Katholizismus eine feste Rolle in Italien bietet, enthielt aber andererseits die Verpflichtung zur außenpolitischen Neutralität. Und solange man abhängig war von Strom, Gas und Wasser aus Italien, musste man vorsichtig sein.

Johannes XXIII. leitete über das Zweite Vatikanische Konzil die Neuordnung der Kirche ein, so auch das Verhältnis zu den Juden. So sagte er zu jüdischen Besuchern in einer Audienz: "Ich bin es, Josef, Euer Bruder.", ein Satz, der jedem Alttestamentarier das Wasser in die Augen trieb. Doch es war ein harter Weg bis zur Erklärung Nostra Aetate im Jahre 1965, die das Verhältnis der katholischen Kirche zu nichtchristlichen Religionen erstmals auf akzeptable Weise festlegte. Sein Nachfolger Paul VI. reiste 1965 nach "Palästina", das damals schon seit rund 17 Jahren Israel hieß. Aber der Besuch war die faktische Anerkennung Israels, wenngleich diplomatische Beziehungen erst im Dezember 1993 aufgenommen wurden. Abschließend sei noch die Israelreise Johannes Pauls II. im März 2000 erwähnt, als weiterer Schritt zum Normalität der Beziehung des Vatikan zu den Juden.

Fazit:
Diese Darstellung hebt sich wohltuend von dem ab, was üblicherweise zu diesem Thema publiziert wird. Und betrachtet man die Literatur zu diesem Thema, so zeigen allein einige Buchtitel, dass es höchste Zeit war für dieses Buch. Das Verhältnis des Vatikans zu den Juden war insgesamt nicht repressalienfrei, aber weitgehend unblutig - da war der Umgang mit Abweichlern aus den eigenen Reihen wesentlich brutaler (siehe Waldenser, Hutterer oder Giordano Bruno). Aber trotz aller positiven Ansätze muss man ganz klar festhalten, dass das Verhältnis der katholischen Kirche zu den Juden eine einzige humanistische Katastrophe war. Vielleicht darf man jedoch einen schließlich vom Heiligen Geist durchwehten Vatikan nicht mit profanen Maßstäben wie Humanität messen. Tut man es dennoch, so wird einem nach kurzer Zeit schwarz vor Augen.

Vermisst habe ich das Kapitel der vatikanischen Fluchthilfe für Nazis, was einen leichten Widerspruch zu den geschilderten Handlungsweisen im Zweiten Weltkrieg darstellt. Das Thema hat zwar nicht unmittelbar mit jenem der Publikation zu tun, aber es würde das Verständnis einer schwierigen Zeit erleichtern. Man möge dies bei einer späteren Neuauflage prüfen.

(Klaus Prinz; 05/2005)


Thomas Brechenmacher: "Der Vatikan und die Juden"
C.H. Beck, 2005. 328 Seiten.
ISBN 3-406-52903-8.
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