Svetlana Vasilenko: "Die Närrin"

"Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt."

(F.M. Dostojewski)


Über die russischen Komsomolzen wurde schon in vielerlei Büchern geschrieben. Als Beispiele seien genannt: "Russendisko" von Wladimir Kaminer sowie "Zirkus Sardam", ein Marionettentheater von Daniil Charms. Die Hauptfigur des zu besprechenden Buches kommt freilich auch in die Situation, "junge Pionierin" zu werden. Immer geht es darum, die Größe des russischen Menschen zu demonstrieren, wobei ein klares Verständnis des Kommunismus Teil des Programms ist, das sich die Kommandanten auf die Fahnen zu heften gewillt sind.

Für den Leser ist es Voraussetzung, ein wenig Interesse für die Geschichte Russlands mitzubringen, um zahlreiche Anspielungen zu verstehen, die Svetlana Vasilenko in ihre Erzählung einflicht. Ohne ein Basiswissen mögen einige Abschnitte kaum durchschaut werden.

"Die Närrin" nämlich stolpert durch dieses Russland, das bspw. von Komsomolzen nur so wimmelt. Nur wenige Menschen sind gottesfürchtig. Ein Kommunist hat automatisch Atheist zu sein, da nur dadurch die Bedingungen kommunistischer Vorstellungen erfüllt sind. Diese Absurdität ist es, welche den kleinen Roman (oder die längere Erzählung) durchströmt.

Hanna, der Hauptfigur, die mit dem Down-Syndrom geboren wurde, begegnen auf ihren Wegen zahlreiche Menschen, die auf Gott und das Kreuz spucken. Sie selbst ist Gott nahe, und somit stellt sie eine "Gefahrenquelle" dar, die domestiziert werden muss. Ihr widerfahren Repressalien, die soweit ausarten, dass sie brutal vergewaltigt wird. Als Kleinkind wurde sie von ihren Eltern auf einem Floß ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen. Eine gläubige Familie nahm das Mädchen auf, und sie wuchs mit diesen Menschen auf. Doch bald wird sie in ein Kinderheim abgeschoben, wo sie gedemütigt wird. Ein Junge nimmt sich ihrer an, verteidigt sie gegen die anderen, und eine zarte Liebesgeschichte nimmt ihren Lauf. Hanna schwimmt während eines gemeinsamen Ausflugs wie ein Fisch, ohne es je zuvor probiert zu haben. Doch ihre Ehrlichkeit führt dazu, dass ihr Freund schrecklich ausgepeitscht und schließlich aufgehängt wird. Sie soll ebenso dafür bestraft werden, dass der Junge die Leiterin des Kinderheims hatte vergiften wollen. Die Flucht über einen Baum gelingt ihr, und sie kommt auf ihrer Reise durch die Steppe mit Menschen in Kontakt, die in ihr eine mythische Gestalt erkennen. Volksmärchen werden lebendig, Hanna wird zur Nixe und zur Wunderheilerin.

Die eigentliche Schärfe der Erzählung besteht darin, Gottesgläubigkeit und Atheismus nebeneinander zu stellen und die Tragik einzufangen, von der Menschen bedroht sein können, die Gott nicht verleugnen wollen. So ist eine Szene äußerst dramatisch, wo ein Sohn seinen gläubigen Vater fast umbringt. Die Gefahr des Kommunismus wird dabei ganz klar deutlich. Für einen "wahren Kommunisten", der also gleichzeitig Atheist sein MUSS, ist es selbstverständlich, über Leichen zu gehen, und Menschenleben als nichtig zu sehen, die der Idee des Kommunismus nicht zustimmen. Der großartige Satz von Dostojewski, welcher dieser Rezension vorangestellt ist, bewahrheitet sich auf erbarmungslose Weise: "Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt." Ja, dann ist tatsächlich alles erlaubt, und ein Sohn kann seinen Vater umbringen, weil das Leben keine individuelle Note in sich trägt. Der falsch verstandene Kommunismus hat unglaublich viel Leid über unzählige Menschen gebracht.

Vergewaltigung, Mord, Kindesmisshandlung, Folter und sonstige Untaten erscheinen aus der Sicht eines Menschen legitim, der jeglichen möglichen Sinn des Lebens abstreitet. Das Leben des Einzelnen ordnet sich einer Macht unter, die eine Idee vordefiniert. Der Mensch wird zur Marionette eines Systems, das sich selbst an Stelle einer "höheren Idee" setzt und damit jeden Menschen, der Gott nicht leugnet, als "Volksfeind" ansieht. Immer wieder wird von verschiedenen Seiten argumentiert, dass der Glauben zu zahlreichen Konflikten und Toten geführt habe, die nie entstanden wären, wenn es Religiosität nicht gäbe. Es versteht sich von selbst, dass dieses Argument reiner Humbug ist. Ein Beleg dafür mag die Geschichte der Waise Hanna sein, die ihr Herz am richtigen Fleck hat, und dafür fast massakriert wird. Sie wird als "Närrin" bezeichnet, weil sie nicht in der Lage ist, all die Dinge zu verstehen, die für einen Menschen kommunistischer Prägung maßgebend sein mögen. Doch sie wehrt sich nicht gegen Maßregelungen, sondern lebt auf ihre spezielle Weise. Gerade, weil sie nicht versteht, bleibt sie ihren natürlichen Regungen treu, und ist ein liebevoller, zärtlicher, vertrauensvoller Mensch. 

Svetlana Vasilenko hat ein Buch geschrieben, das zeitweise recht harte Kost ist. Doch immer wieder bricht die Einzigartigkeit der Hauptheldin durch, und die wahre Größe des Menschen widersetzt sich einem "System", das in sich selbst widersprüchlich ist. 

Die Autorin wurde 1956 geboren und wuchs in Kapustin Jar auf, einem sowjetischen Raumfahrtzentrum (die letzten Seiten der "Närrin" beziehen sich in diesem Sinne auf die Kuba-Krise 1962). Sie studierte am Gorky-Literaturinstitut in Moskau und absolvierte eine Ausbildung als Filmdrehbuchautorin und Regisseurin. "Die Närrin" ist ihr erstes Buch, das in deutscher Übersetzung vorliegt. Es wurde 1998 für den Booker-Preis nominiert und mit dem Novic-Mir-Preis für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet. 1999 wurde ihr der Nabokov-Preis verliehen.

(Jürgen Heimlich; 03/2003)


Svetlana Vasilenko: "Die Närrin"
Originaltitel: "Durochka"
Aus dem Russischen von Esther Kinsky.

DVA, 2003. 192 Seiten. 
ISBN 3-421-05608-0.
ca. EUR 18,90.
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