Fred Vargas: "Die dritte Jungfrau"
Spannende
Jagd auf eine dissoziierte Persönlichkeit
Als Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg sich bemüht, zwei
Leichen gegen den Zugriff des Drogendezernats zu verteidigen, weil er
sicher ist, dass die beiden jungen Männer nicht einer
Auseinandersetzung im Drogenmilieu zum Opfer fielen, weiß er
noch nicht, dass er am Anfang eines komplizierten und verworrenen
Falles steht.
Bald stellt sich heraus, dass die beiden im Auftrag ihres
Mörders ein Grab geöffnet haben. Die Leiche ist
jedoch unversehrt, und es wurde offensichtlich auch nichts aus dem Grab
entwendet.
Wenig später fährt der Kommissar in einer privaten
Angelegenheit in die Normandie. Zufällig macht er die
Bekanntschaft einer Stammtischclique, die sich über die
Tötung und Schändung eines prächtigen
Hirsches erregt. Adamsberg ist nicht bewusst, dass dieser Hirsch in
seinen Ermittlungen einen bedeutenden Platz einnehmen wird, ebenso wie
die gestohlenen Reliquien aus einer Kirche der Region und ein
rätselhaftes mittelalterliches Buch, einst von der Kirche
auf
den Index gesetzt, das Rezepte für mystische
Mixturen
enthält - eine von ihnen erfordert das "Lebendige von
Jungfrauen". Von drei Jungfrauen, wenn man das Buch genau
interpretiert. Zwei von ihnen, das hat Adamsberg mittlerweile
herausgefunden, wurden bereits ermordet. Wer wird die dritte sein? Denn
sie lebt noch, davon ist Adamsberg überzeugt. Aber seine
Truppe will ihre Zeit nicht an eine vage Auslegung eines mystischen
Textes verschwenden, außerdem hat Adamsberg noch ganz andere
Probleme: Der Neue in seinem Team hegt einen alten Groll gegen ihn.
Beide sind sich unter höchst unglücklichen
Umständen bereits in ihrer Kindheit begegnet. Adamsberg muss
der Tatsache ins Auge sehen, dass der andere eine schwer
einzuschätzende Bedrohung für ihn darstellt.
Und dann verschwindet seine tüchtigste Mitarbeiterin scheinbar
spurlos. Sie ist eine großartige Polizistin, aber stark
übergewichtig
und nicht attraktiv, weshalb sie nach Adamsbergs
Wissen nie etwas mit einem Mann hatte - könnte sie vom
Mörder als dritte Jungfrau auserkoren sein?
Fred Vargas, die französische Archäologin, die im
Urlaub Krimis verfasst, legt auch in diesem Roman sehr viel Wert auf
den psychologischen Aspekt. Der Mörder oder die
Mörderin, das stellt sich rasch heraus, muss ein
"Dissoziierter" sein, ein Mensch mit einer besonderen Art von
Persönlichkeitsspaltung, dessen zwei Ichs völlig
unabhängig voneinander agieren. Nachvollziehbar
erläutert Vargas, oder vielmehr eine ihrer Protagonistinnen,
die sich mit dieser psychischen Störung befasst hat, das
Phänomen der dissoziierten Persönlichkeit. Es wird
den Leser durch den Roman begleiten. Ein wenig Archäologie
spielt ebenfalls bisweilen herein.
Vargas ist eine Meisterin im Erfinden authentischer, interessanter und
miteinander unvereinbarer Charaktere, und auch dieses Buch lebt von den
Interaktionen solcher Charaktere, die auf ihre etwas eigenwillige Weise
trotz einer tendenziellen Überzeichnung liebenswert wirken.
Der Kommissar mit seiner unbewältigten Vergangenheit und
seinen unklaren Familienverhältnissen und
Herzensangelegenheiten, ein Polizist ohne viel detailliertes
Fachwissen, aber mit einer guten Intuition, ist ein hervorragender
Protagonist, der aber nicht glorifiziert wird und manchem Irrtum
aufsitzt.
Zudem versteht Fred Vargas sich perfekt auf die Schilderung von
Stimmungen, die durch unterschiedliche Orte hervorgerufen werden,
sodass der Leser unwillkürlich wähnt, er sei mit von
der Partie.
Die Handlung freilich geht zuweilen etwas schleppend voran und droht
manchmal in Abschweifungen unterzugehen. Das ist recht typisch
für Vargas' Krimis, doch die extremen Ausschläge der
Spannungskurve mögen Neueinsteigern ungewohnt erscheinen.
Allerdings vollzieht sich just in jenen Augenblicken, in denen der
Leser
resignieren möchte und denkt, nun könne ohnehin
nichts mehr Interessantes passieren, stets eine
äußerst überraschende Wendung voller
Spannung und sich überschlagenden Ereignissen - doch Vorsicht,
auch dies entpuppt sich in den meisten Fällen als falsche
Fährte.
Insgesamt handelt es sich bei "Die dritte Jungfrau" um einen geschickt
konzipierten und gut ausgeführten, spannenden Krimi, der nicht
nur Freunden von Fred Vargas' typischer Art des Erzählens
gefallen wird.
(Regina Károlyi; 02/2007)
Fred
Vargas: "Die dritte Jungfrau"
Aus dem Französischen von: Julia Schoch.
Aufbau-Verlag, 2007. 474 Seiten.
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Hörbuch:
Der Audio Verlag, 2007. 2 CDs, Laufzeit ca. 160 Minuten.
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