Valerio Varesi: "Die Schatten von Montelupo"
Commissario Soneri kommt ins Grübeln
Commissario
Soneri ist eine relativ neue Figur am Himmel der guten
Serienkommissare. Er gehört der Generation seines
Schöpfers Valerio Varesi, eines 1959 geborenen, in Parma
lebenden Journalisten, an. Seine beiden ersten Bücher mit
Commissario Soneri wurden in Italien von Presse und Publikum begeistert
aufgenommen und erfreuen sich mittlerweile auch im deutschsprachigen
Raum zunehmender Beliebtheit. Das hat seinen Grund. Denn Varesis Soneri
hat das Zeug, zu den ganz Großen der Serienkommissare zu
gehören. Varesi verbindet eine Mischung aus politisch
anspruchsvollen und aufklärerischen Themen wie auch
Fällen mit einem überaus sympathischen Protagonisten,
der sich ein politisches Bewusstsein bewahrt hat und immer wieder in
die Abgründe der lokalen und nationalen Geschichte
hinabsteigt, was für den deutschsprachigen Leser
hochinteressant und lehrreich ist.
Zudem konfrontiert Varesi seinen
Commissario mit dessen eigener Lebensgeschichte und den
unaufgearbeiteten Stellen darin. Der letzte Fall, der ihn in "Die
Pension in der Via Saffi" führte, erinnerte ihn an
seine verstorbene Ehefrau Ada, die er dort kennen- und lieben gelernt
hatte. Sie war bei der Geburt seines Sohnes gestorben. Nicht einmal das
Kind war ihm geblieben; es war tot zur Welt gekommen. Die Erinnerung an
seine über alles geliebte Frau ist ihm seitdem jeden Tag
gegenwärtig, nur der Schmerz über das Kind hat kein
Gesicht, das er beweinen könnte.
Soneri stürzte sich nach diesem Lebensschock in die
Polizeiarbeit, schließt sein Innenleben ab und
öffnet sich auch seiner neuen Bekannten, der
Staatsanwältin Angela, nicht. Sie schätzt ihrerseits
an Soneri seine politisch ebenso aufrechte wie unbestechliche Haltung
und tritt ihm mit viel Geduld und Verständnis
gegenüber. Sie ist auch nicht eifersüchtig auf
Soneris verstorbene Frau, spürt sie doch, dass in seinem
Inneren etwas lebt, das er noch nicht aufgearbeitet hat.
Vielleicht spürt sie es auch zu Beginn dieses Herbstes, nach
einem warmen Sommer voller Arbeit, als sie Soneri ermutigt, seiner
Stadt Parma einmal zu entfliehen und in seiner Heimat, in dem Dorf, wo
er geboren wurde, einmal richtig auszuspannen, zu wandern und
Pilze
zu suchen.
Soneri bricht voller Erwartung auf Ruhe in den kleinen Ort im Apennin
auf. Doch da ein Polizist niemals wirklich abschalten kann, zumindest
nicht die entsprechende Wahrnehmung seiner Umgebung auszublenden
vermag, fallen Soneri gleich an seinem ersten Tag im Dorf, als er zum
ersten Mal die betagte, schon leicht heruntergekommene Pension seines
alten Freundes Sante verlässt, die verwitterten
Anschläge an verschiedenen Häuserwänden auf,
mit denen in Italien nicht nur auf Sterbefälle und politische
Neuigkeiten aufmerksam gemacht wird. Darauf ist zu lesen, dass ein
gewisser Paride Rodolfi keineswegs verschwunden sei, wie manche schon
vermuteten, sondern sich bester Gesundheit erfreue.
Soneri kommen diese Anschläge seltsam vor: Warum wird
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Paride, der Sohn der
alten Fabrikantenfamilie Rodolfi, nicht verschwunden sei?
Er beginnt nachzufragen, ohne zu diesem Zeitpunkt zu ahnen, dass er
kurze Zeit später schon mitten drin in den Ermittlungen zu
zwei Todesfällen sein würde. Wie Soneri erst einige
Tage später bewusst wird, hängt sein Interesse am
Schicksal der Familie Rodolfi mit jenem seines Vaters, über
den er wenig weiß, zusammen .
Sein Gastgeber, der alte Sante, hat das aber seit dem Moment, als
Soneri ihn nach den Anschlägen fragte, im Gefühl:
"In der Lebensmitte kehrt man gerne dahin zurück, von
wo aus man als junger Mensch aufgebrochen und in die Welt hinausgezogen
ist."
Auch seine Partnerin Angela, die in Parma zurückgeblieben ist,
spürt bei den täglichen Telefonaten diesen
Zusammenhang und ermutigt den
Commissario, vorsichtig seinen Wurzeln zu folgen, weil sie ahnt, dass
dies zu seiner inneren Heilung beitragen wird.
Soneri macht sich auf die Suche nach der Geschichte, die hinter dem
Verschwinden Palmiros, des alten Rodolfi und seines Sohnes Paride
steht. Er stößt auf Wurzeln, die bis in die Zeit des
italienischen Faschismus
und des Partisanenkampfes gegen die deutsche Wehrmacht
zurückreichen. Er entdeckt, dass sein ganzes Heimatdorf
abhängig war und entstammt einer Familie, welche die Zeichen
der Zeit immer erkannte und das ganze Dorf zu Arbeit und Wohlstand
brachte, aber auch immer in totaler Abhängigkeit hielt.
Man begegnet in dem sogenannten Macchiaiolo einem alten Mann, der seit
Kriegsende in den Bergen lebt, früher mit Palmiro und einem
dritten
Kumpan eine unzerbrechlich scheinende Freundschaft pflegte, die sich
aus dem gemeinsamen Partisanenkampf speiste, sich dann aber von den
Rodolfis abwandte.
Man begegnet Carabinieri, die ohne Kenntnis der historischen
Umstände Polizeieinsätze mit katastrophalem Ausgang
befehlen. Und man begegnet einem Commissario Soneri, der sich schon
nach einigen Tagen mitten in den Ermittlungen befindet, nebenbei viele
wichtige Entdeckungen macht und Informationen über seinen
Vater bekommt, der dereinst auch für die Rodolfis arbeitete
und von dem er
bisher nie mit Sicherheit wusste, ob nicht auch er seine Seele
für eine Arbeit verkauft hatte.
Wenn man die beiden anderen Bücher Varesis gelesen hat,
weiß man, dass dem
Autor Schilderungen des aktuellen Lebens der Menschen im Apennin und
des radikalen
Wandels, der sich dort vollzieht, ein Anliegen sind, wie auch
Darstellungen der geschichtlichen Hintergründe
seines Protagonisten.
Wie Varesi dies alles verknüpft und einen spannenden Krimi
daraus macht, der sich
wie ein Geschichtsbuch liest, hat absolute literarische Klasse.
(Winfried Stanzick; 07/2007)
Valerio
Varesi: "Die Schatten von Montelupo"
(Originaltitel "Le ombre di Montelupo")
Deutsch von Karin Rother.
Kindler, 2007. 288 Seiten.
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