Van Gogh
Museum, Amsterdam (Hrsg.), Text von Jill
Lloyd:
"Vincent van Gogh und der Expressionismus"
Wegbereiter
der modernen Kunst
Der vorliegende Band mit 134 Abbildungen (davon 115 farbig) ist
praktisch der
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Van-Gogh-Museum Amsterdam und
der New
Gallery New York. Van Gogh (1853-1890) gilt als Vorläufer und
erster
Vertreter des Expressionismus: "Auf Ernst Ludwig Kirchner und die
Brücke-Künstler
übte van Goghs Technik, sein kraftvoller Pinselduktus und der
farbig stark kontrastierende Malstil, sowie die Strahlkraft seiner
leuchtenden Farbpalette
eine große Faszination aus. Wassily Kandinsky und die
Künstler des Blauen
Reiters schätzten van Goghs Abkehr von der sichtbaren
Wirklichkeit, seine Durchdringung des Wesens der Natur. Die
Österreicher Egon Schiele oder Oskar
Kokoschka hingegen waren vor allem von van Goghs Kunst des seelischen
Ausdrucks,
seiner psychologisch einfühlsamen Porträts tief
beeindruckt" - präziser
als im Pressetext lässt sich diese Faszination kaum
formulieren.
Der deutsche Expressionist Max Pechstein brachte es freilich auf eine
viel kürzere
Formel: "Van Gogh war uns allen ein Vater." Dabei hatte dieser selbst
eine Interpretation seines Werks, wie sie die Expressionisten
vornahmen, nie
beabsichtigt - er wollte sich eigentlich nicht von der Natur entfernen
und quasi
rein in Form und Farbe seinen künstlerischen Ausdruck suchen.
Den jungen
deutschen Expressionisten dienen van Goghs Bilder als Anregungen zu
eigenen
Versionen desselben Themas, wovon der vorliegende Band etliche
Beispiele zeigt
(v.a. von E. L. Kirchner gibt es etliche motivgleiche Bilder).
In einem Klima hitziger Debatten über Wert und Unwert
nationaler und
internationaler Kunst holen zu Beginn des
20. Jahrhunderts
Galeristen und Museumsdirektoren van-Gogh-Bilder nach Deutschland. Höhepunkt ist
die 'Internationale Sonderbundausstellung' 1912 in Köln, bei der 116 Bilder von
van Gogh gezeigt werden. Freilich füttern
van Goghs Lebensgeschichte mit der
dramatischen Episode, als er sich das Ohr abschneidet, und sein
Selbstmord
seinen Mythos, auch als Briefe und Erinnerungen in gedruckter Form
erscheinen.
Expressionistische Autoren wie
Gottfried
Benn, Georg Heym und Carl Sternheim fühlen
sich mit van Gogh seelenverwandt und verklären sein Genie -
Sternheim
vergleicht ihn sogar in seiner Schöpferkraft mit Gott. Theodor
Däubler nennt
ihn den "ersten Expressionisten" und Carl Einstein behauptet, in
seinen Briefen formuliere van Gogh die "erste expressionistische
Ästhetik".
Paul Klee bekannte, er habe erst durch van Gogh zu seinem
persönlichen Stil
gefunden, der sich auch in seiner Aussage findet: "Es ist nicht Ziel
der
Kunst, die sichtbare Welt nachzuahmen, sondern etwas sichtbar zu
machen."
Das war die damalige Absage an den Naturalismus, das Bekenntnis zur
Emotion in
der Kunst. Heckel, Pechstein, Schmidt-Rottluff, Nolde und wie sie alle
heißen -
sie ließen sich durch van Gogh begierig inspirieren, indem
sie seine Motive
aufnahmen und mit ihrer jeweils eigenen Technik umsetzten. Wie
für van Gogh so
war auch für Emil Nolde Farbe nicht Wiederholung, sondern
Ausdruck und Symbol.
Während also beispielsweise Nolde vom Umgang mit Farbe bei van
Gogh fasziniert
war, reizte Kirchner dessen räumliche Verzerrung und
Verschiebung.
In Anlehnung an van Goghs 'Selbstbildnis mit verbundenem Ohr' malt
Kirchner sein
'Selbstbildnis als Soldat' mit abgehackter Malhand - sein
'Schlemihl'-Zyklus ist
inspiriert von van Goghs Schattenbild 'Straße nach Tarascon'.
Die Maler der Münchner
Gruppe 'Blauer Reiter' wie Franz Marc, Gabriele Münter oder
Wassily Kandinsky
hatten ihre van-Gogh-Phase. Für Marc ist van
Gogh schlichtweg "der authentischste, größte und
ergreifendste
Maler". Der Kuratorin Jill Lloyd ist hier eine ebenso beeindruckende
wie
quasi beweiskräftige Zusammenstellung von Bilddokumenten
gelungen, die sie mit
ihren parallel durchlaufenden Ausführungen anschaulich
erläutert und
verbindet. Im Anhang finden sich u.a. noch kurze
Künstlerbiografien sowie das
Verzeichnis der Bilder. Man kann diesen Band immer wieder mit neuem
Gewinn künstlerischer
Erkenntnis zur Hand nehmen. Selten wurde so kompetent der Beweis
geführt, dass
Künstler Nachahmungstäter und Plagiatoren sind, ehe
sie zu eigenständigen großen
Würfen ausholen.
(KS; 12/2006)
Van
Gogh Museum, Amsterdam (Hrsg.), Text von
Jill Lloyd:
"Vincent van Gogh und der Expressionismus"
Hatje Cantz Verlag, 2006. 160 Seiten.
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Die Kunsthistorikerin Jill Lloyd kuratierte zahlreiche Museumsausstellungen zur Kunst des 20. Jahrhunderts und ist Autorin grundlegender Veröffentlichungen zum deutschen Expressionismus. 1991 wurde sie für ihre Publikation "German Expressionism, Primitivism and Modernity" mit dem "National Art Book Prize" ausgezeichnet.