Hannelore Valencak: "Das Fenster zum Sommer"


Ein Fenster, wo es sich lohnt, hineinzuschauen

"Dieser Roman hat eine zweite Chance verdient", belehrt uns der Klappentext, und Evelyne Polt-Heinzl schreibt in ihrem Nachwort: "Hannelore Valencaks Romane sind sprachlich perfekt gefügte, unverändert aktuelle Analysen über die Mühen, im ganz normalen Alltag nicht unterzugehen."

Das sind sie tatsächlich, und noch viel mehr, folglich hat der Roman auch eine neue Chance verdient, eigentlich schon seine dritte, denn nach der Erstausgabe, die unter dem Titel "Zuflucht hinter der Zeit" im Jahre 1967 herauskam, erschien zehn Jahre später im Rahmen der Reihe "Die Phantastischen Romane" im Zsolnay Verlag eine Neuauflage unter dem jetzigen Titel "Das Fenster zum Sommer".

Ursula, der Ich-Erzählerin, einer jungen Frau, widerfährt das, was man als eine plötzliche Verschiebung der Zeit- und Bewusstseinsebenen bezeichnen könnte. Mehr möchte ich zu der Handlung gar nicht verraten, denn es lohnt sich unbedingt, selbst zu lesen. Ich fühlte mich unwillkürlich an Thomas Lehrs kürzlich erschienenen Roman "42" erinnert, der von der Thematik her ganz ähnlich ist. Nur ist bei Hannelore Valencak die Auflösung, die Erklärung des Mysteriums, überzeugender als bei Thomas Lehr, wie ich überhaupt finde, dass Valencaks philosophische Betrachtungen über das Wesen der Zeit mehr Tiefe haben als bei Thomas Lehr.

"Die Zukunft war immer da, und desgleichen die Vergangenheit. Das Leben glich einem Fluss in der Finsternis, und das Schicksal bestand darin, an seinem Ufer entlang zu gehen. Man hielt eine Fackel in der Hand, und wo der Lichtschein hinfiel, war Gegenwart." Oder: "Was ist Vergangenheit? Ich habe immer gedacht, sie sei ein für allemal vorbei, sie existiere nicht mehr in der Welt. Und jetzt lebe ich in einer Zeit, die meiner Erfahrung nach lang vorüber ist. Ich spüre am eigenen Leib, wie lebendig sie ist." Der faszinierende Gedanke, dass die Vergangenheit als Ganzes auf irgendeine Weise bewahrt bliebe, dieser Gedanke war auch Leitmotiv in den philosophischen Schriften des Psychoanalytikers und Philosophen Pierre Janet. "Alles, was einmal existiert hat", glaubte er, "existiert immer noch fort an einem Ort, den wir nicht begreifen, an den wir uns nicht begeben können."

"Das Fenster zum Sommer" schildert auch den Kampf der Erzählerin um ihre persönliche Freiheit, um die Befreiung von Bevormundungen, Konventionen, auch ein bisschen von der Befreiung der Frau in einer weitgehend von Männern bestimmten Welt. Da wirkt es dann allerdings befremdend, wenn sie beispielsweise die Körperlichkeit der Frau ins ästhetische Abseits stellt mit Sätzen wie "Ich finde, es gibt einen Zeitpunkt für jede Frau, da wird es peinlich für sie, einen Körper zu haben, und es grenzt an Unanständigkeit, wenn sie oft und ausführlich darüber spricht." Überhaupt wird oft das Hässliche am Menschen in diesem Roman betont, die Hässlichkeit des äußeren sowie die Gehässigkeit des inneren Menschen. Nahezu allen im Roman auftretenden Personen haftet dieses Odium körperlicher wie seelischer Verstümmelung an. Parallelen zu Hermann Ungars Roman "Die Verstümmelten" (siehe Buchtipp weiter unten) tun sich auf. Immerhin, Hannelore Valencak schildert die Menschen mit feinem psychologischem Gespür und einem scharfen Blick fürs Detail.

Das Bild eines Menschen jedoch steht in krassem Gegensatz zu allen anderen, die uns in diesem Roman präsentiert werden; das Bild nämlich, das die Erzählerin Ursula von Joachim zeichnet, einer Lichtgestalt, an die sie ihre Gefühle, ihre Gedanken, ja ihr ganzes Leben delegiert. Und nur langsam gelingt der Ich-Erzählerin die Befreiung auch davon, eigentlich erst im allerletzten, versöhnlichen Satz des Romans. So wie Ursula auch im Verlauf ihrer seltsamen Zeiterfahrungen immer milder und nachsichtiger gestimmt wird gegenüber ihren Mitmenschen; sie erkennt beispielsweise, dass man die meisten Menschen schon mit Wenigem zufrieden stellen oder gar glücklich machen kann, man muss sie nur in ihrer Währung bezahlen.

Hannelore Valencak ist wirklich eine Entdeckung wert, ihr Buch verdient eine weite Verbreitung und die Aufmerksamkeit des Literaturbetriebs. Möge der Autorin posthum der Ruhm zuteil werden, der ihr gewiss zukommt, den sie sich aber zu Lebzeiten nicht erwerben konnte.

(Werner Fletcher; 03/2006)


Hannelore Valencak: "Das Fenster zum Sommer"
Residenz Verlag. 256 Seiten.
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Hannelore Valencak wurde 23. Jänner 1929 in Donawitz geboren und wuchs in Kapfenberg auf. Die Physikerin arbeitete als Metallurgin in einem steirischen Stahlwerk, ab 1962 als Patentsachbearbeiterin in Wien. Ab 1975 war sie freie Schriftstellerin. Hannelore Valencak schrieb Lyrik, Erzählungen, Romane und Jugendbücher. 1954 erhielt sie den "Georg Trakl-Anerkennungspreis", 1956 den "Lyrikpreis der Stadt Graz" und 1957 den "Förderungspreis" im Rahmen des "Österreichischen Staatspreises" für ihren Roman "Die Höhlen Noahs". 1977 wurde ihr der "Österreichische Staatspreis für Kinderbücher" verliehen. Hannelore Valencak starb in der Nacht zum 10. April 2004 in Wien.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Die Höhlen Noahs"

Das Ende der Welt stellt einen vor keine Fragen. Aber was tun, wenn man es überlebt? So wie Martina und ihr kleiner Bruder, die von einem jungen Unbekannten aus dem Feuerinferno gerettet werden. Sie treffen auf andere Überlebende, einen Alten und seine Enkelin, und flüchten gemeinsam in einen Talkessel. Endet das Leben hier oder beginnt es neu? Die Welt jenseits der Berge ist tot, verbrannt, unter giftigem Staub begraben. Was nach der Katastrophe übrig geblieben ist, reicht gerade einmal für ein Leben auf kleinster Flamme, für eine Höhlenexistenz. Sie richten sich ein, sie warten - aber worauf? Eine rettende Arche ist nicht in Sicht. Zumindest der Alte glaubt nicht an die Zukunft. Ein Kampf beginnt - ums Überleben, um die Hoffnung, darum, Mensch zu sein.
In düster leuchtenden Szenen stürzt Hannelore Valencak den Leser mit ihrem erstmals anno 1961 erschienenen Roman in eine Welt nach dem Ende der Welt: radikaler noch als Marlen Haushofers "Die Wand" und schonungsloser als Cormac McCarthys "Die Straße". (Residenz Verlag)
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Noch ein Buchtipp:

Hermann Ungar: "Die Verstümmelten"

Der Bankangestellte Franz Polzer, gefangen in einer inhumanen Arbeitswelt, ist im Fatalismus gefangen und auf ein bloß vegetatives Dasein zurückgeworfen. Einzigen Halt findet er in einem Streben nach Ordnung und Sicherheit als Schutz gegen die als feindlich und unberechenbar erkannte Umwelt, vor der es keinen Schutz gibt. Für Polzer hat die Geradlinigkeit eines fest eingeplanten Tagesablauf eine fast religiöse Bedeutung. Nur die Vorhersehbarkeit eines jeden Tages lässt ihn das Leben ertragen. Die Welt ist sein innigster Feind. Seine Sexualität ist das Resultat traumatischer Kindheitserlebnisse. Die Angst vor jeder Veränderung hat ihn in die Arme seiner Hauswirtin, einer verblühten Witwe getrieben, die sich seine Phobien zunutze macht und ihn bis zur körperlichen Vergewaltigung in Besitz nimmt. Es entwickelt sich ein Erdrutsch aus Ausweglosigkeit, religiösem Wahnsinn, Geldgier und verkorkster Sexualität, der alle unter sich begräbt. (Suhrkamp)
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