Anton Utkin: "Autodidakten"
Ein Roman aus dem Russland der
wilden neunziger Jahre
Pjotr, der Ich-Erzähler, arbeitet
als Journalist bei einem Magazin. Als er gerade die Recherche zu einem
ungeliebten Thema beginnen soll, erhält er die Nachricht, dass er von seinem
früheren Militärkameraden und Freund Pavel dessen kleines Elternhaus im Kaukasus
geerbt habe, und er beschließt, sich dort hinzubegeben.
Die Geschichte der
Freundschaft erschließt sich während der Anreise in zahlreichen ausführlichen
Rückblenden und führt dem Leser zwei ganz unterschiedliche, für das Russland der
neunziger Jahre typische Charaktere vor Augen, deren Verbundenheit im Grunde nur
durch einschneidende Erlebnisse beim Militär entstand. Pjotr ist ein
klassischer, ärmlicher Intellektueller, der zum Zeitpunkt des Wiedersehens mit
Pavel seine Diplomarbeit in Geschichte verfasst. Der aus einfachen,
provinziellen Verhältnissen stammende Pavel tritt als einer der vielen jungen
russischen Neureichen auf, mit Luxuslimousine einschließlich Chauffeur, einem
teuer, aber geschmacklos eingerichteten Büro und feinen Anzügen; dabei hat er
sich eine sympathische Naivität und Spontaneität bewahrt. Seinen Reichtum hat er
mit zwielichtigen Geschäften als Partner seines raffinierten Bruders erworben.
Nun möchte er als Mäzen tätig werden. Um in dieser Rolle perfekt aufzutreten,
benötigt er jedoch Allgemeinbildung, und da er keine Lust hat, sie sich
anzulesen, beauftragt er Pjotr, ihm Zusammenfassungen der wichtigsten
literarischen Werke zu vermitteln und ihn in das Theater und den Film
einzuführen. Die Unterrichtsstunden finden in der Limousine statt, und zu seiner
Überraschung lernt auch Pjotr von Pavel und dessen eifrig lauschendem Chauffeur:
Die beiden betrachten die literarischen Figuren aus einem natürlichen, von
keinerlei Vorbildung verstellten Blickwinkel und charakterisieren sie oft sehr
treffend mit einem einzigen schlicht hingeworfenen Satz.
Pjotr lernt mit
Verwunderung Pavels halbseidene Welt kennen, und Pavel lässt sich von der Kunst
fesseln. Der Niedergang beginnt, als Pavel sich im Theater in eine junge
Schauspielerin verliebt - oder eher in die Rolle, die sie verkörpert. Dann wird
Pavels Bruder ermordet, und Pavel kehrt in seine eigene Welt zurück, um sich der
Herausforderung zu stellen.
Spannend und mit viel trockenem Humor erzählt
Anton Utkin Pavels Geschichte; perfekt vermittelt er das Groteske, die
unfreiwillige Komik der Ereignisse, die durch Pavels Wunsch nach einem
intellektuellen Anstrich ausgelöst werden. Dennoch bleibt von Anfang an eine
seltsame, feine Melancholie spürbar, die unter anderem durch die geschickte
Verbindung der "gegenwärtigen" Rahmengeschichte mit den Rückblenden entsteht.
Die Charaktere sind lebendig und authentisch gezeichnet, vor allem Pavel, der
einfach gestrickte Gauner mit dem großen Herzen, der einerseits keinen Gedanken
daran verschwendet, wie viele Menschenleben seine Geschäfte kosten mögen, aber
andererseits gewissermaßen im Vorübergehen, ohne Gegenleistung zu erwarten,
einer verzweifelten Prostituierten ihren Lebenstraum erfüllt: eine
Eigentumswohnung. Der Neureiche aus jenem seit Jahrhunderten von Kriegen
gebeutelten schroffen Gebirgsland nimmt auch den Verlust der Geschäftsgrundlage
nicht sonderlich ernst, er sieht seinem Verhängnis mutig und gewissermaßen
stoisch entgegen.
Dem Leser bleibt es überlassen, eigene Überlegungen über
die Kunst anzustellen: Reflektiert sie das Leben? Oder ist sie nur schöner
Schein? Als Hilfe für deutschsprachige Leser gibt es am Ende des attraktiv
aufgemachten Buchs Anmerkungen zu den literarischen und historischen
Anspielungen im Text.
Ein bemerkenswerter Roman, der mit scheinbarer
Leichtigkeit das Russland nach der Perestroika beschreibt und manche Untiefen
der menschlichen Natur auslotet.
(Regina Károlyi; 04/2006)
Anton Utkin: "Autodidakten"
Aus dem
Russischen übersetzt von Sabine Rothpuller.
Verlagshaus Pereprava, 2006. 203
Seiten.
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Anton Alexandrowitsch Utkin wurde 1967 in Moskau geboren. Er studierte Geschichte an der Moskauer Lomonosov-Universität und Dramaturgie und Regie an der Staatlichen Filmakademie. 1998 schrieb Utkin "Autodidakten". Von der russischen Literaturkritik wird dieser Roman als Quintessenz der geistigen Situation der russischen Gesellschaft der Jahrtausendwende bezeichnet und Utkin selbst als einer der begabtesten Autoren der jüngeren Generation gelobt.
Leseprobe:
Vor
einigen Jahren, ich hatte mein Studium noch nicht beendet, begann ich, für ein
Zeitgeistmagazin zu schreiben, das mit so anmaßenden Slogans wie "Sie haben den
Überblick" erschien. Dazu muss man aber einschränken, dass niemand auch nur den
geringsten Überblick hatte, weder damals noch später. Ehemalige Schüler und
Militärs im Ruhestand, kaufmännische Angestellte und Bauleiter, die plötzlich zu
mächtigen Wirtschaftsbossen mutierten, Diebe ohne jede Berufsehre, zweifelhafte
Paten und überzeugte Hausfrauen kamen über Nacht zu Vermögen. Die Stadt wurde
fieberhaft restauriert und in den mit Graffitti besprühten Stiegenaufgängen
begann es, nach getrocknetem Hanf zu riechen.
Das schnelle Geld verdrehte
allen den Kopf und nicht nur denen, auf die es als unerwarteter wohltuender
Regen niederging. So leicht es einem in den Schoß fiel, so leicht wie Rauch
verflüchtigte es sich auch wieder. Man sah ihm zerstreut lächelnd nach und
trauerte nicht allzu sehr darum.
Alles schien möglich, man brauchte nur die
Hand auszustrecken.
Die
Küche, unsere
Moskauer Küche - dieser "Privatklub" während der Jahre der Stagnation, das
Parlament unserer Jugendzeit, dieser Mittelpunkt des geistigen Lebens -
verwandelte sich plötzlich in einen langweiligen Raum für die Zubereitung von
Speisen. Die Aromen versteckter Freiheit, würzige, aufregende Aromen von
Offenbarungen, mystischen Emanationen, Gedanken- und Seelenflügen mussten den
Gerüchen importierter Fertiggerichte weichen; und unser geheiligter Tee wurden
nun direkt in Hefen zubereitet, die ebenso importiert waren, dick wie
Elefantenbeine oder aufgerichtete Holzkloben.
Umzüge, Abreisen folgten in
nicht enden wollender Reihe dicht aufeinander, alte Freunde konnte man nicht
mehr einfach anrufen, indem man z. B. 241 ... wählte, man musste sich auf
ausgeklügelte Vorwahlen exotischer Länder einlassen, immer verbunden mit der
Gefahr, an Mädchen zu geraten, für die es sozusagen keine Tabus gab. Oder man
musste auf das Briefkuvert in fein säuberlicher Schrift Adressen wie "Straße des
Feldmarschalls Raynold, Lyon" malen (das alles natürlich auf
Französisch).
Plötzlich gab es 24-Stunden-Service, Nachtcafés, Tanzlokale mit
der klingenden Bezeichnung "Klub". In diesen Lokalen amüsierte sich die Jugend,
die sich ihre freien Abende vertreiben wollte, und zu vorgerückterer Stunde der
Nacht, wenn die Schritte der Passanten auf der menschenleeren Straße
kilometerweit widerhallten, waren sie voll von leichtlebigen Leuten. In der
Luft, wirbelnd der Rauch modischer Zigarettenmarken, lagen Verführung und
Verheißung, und auch die Mädchen hier schätzten sich weit über ihren Wert ein,
als wären sie Prinzessinnen längst entschwundener Königreiche.
Die Musik
tobte und die Leute, von denen die meisten noch nie über den Stadtgürtel
hinausgekommen waren, fühlten sich, als wären sie eingeweiht in alle Geheimnisse
der weiten Welt, die fortfuhr, in der Endlosigkeit dunkler Galaxien
dahinzugleiten.
Mein Redakteur, so wie ich ein junger Mann - ein Feind der
herrschenden Ordnung, die, offen gestanden, schon lange vor seiner Geburt Risse
bekommen hatte, ein Rebell, allerdings im engsten Sinn dieses Wortes, dabei ein
glühender Verehrer von Nabokov und
Joyce -
überschüttete mich mit den trüben Ergüssen seiner Begeisterung.
"Stell dir
nur vor!" rief er aus. "Seitenweise wird beschrieben, wie der Mensch - nicht
irgendwer, der Mensch selbst - seinen Darm entleert. Kann es was Schöneres
geben?"
Wie auch immer, Gespräche dieser Art ließ ich nur deshalb über
mich ergehen, weil sie mir in der Regel von ein, zwei Tassen vorzüglichen
Kaffees aus dem Buffet der Redaktion erträglicher gemacht wurden, eines
Kaffees,
der über jedes Lob erhaben war.
Außerdem strich er - wie das alle Redakteure
tun - genau jene Zeilen aus meinen Reportagen, die mir am besten gefielen, und
zwang mich dazu, sie neu zu schreiben, wozu ich denkbar wenig Lust
hatte.
Unterdessen arbeitete der Redakteur wie besessen an einer neuen Linie
für unsere Zeitung. Der neue Eigentümer hatte den alten Namen übernommen, unter
dem die ehemaligen Besitzer, Erben der großen Dissidenten, in all den düsteren
Jahren der Perestrojka die Demokratie unters Volk zu bringen versuchten, so
leidenschaftlich wie einst Kaiser Julian, als er in den Weiten seines in allen
Fugen krachenden Reiches den Dionysos-Kult wieder einführen wollte.
"Zum
Teufel mit dem ganzen Plunder!" schrie der Redakteur. "Uns interessiert, was man
sieht, wenn man durchs Schlüsselloch schaut. Wofür wir Geld ausgeben. Wer wovon
lebt. Wer mit wem ins Bett steigt. Wer woran leidet ... das sind die ewigen
Fragen", fügte er im selben Ton hinzu, während er halbherzig den Tabakrauch
abwehrte, den ich ausstieß, als sei ich ein feuerspeiender Drache und nicht ein
durch und durch anständiger Bürger dieses Staates, der in seinen Grundfesten so
sehr erneuert worden war, dass von ihm fast nichts mehr übrig geblieben
war.
"Verstehst du denn nicht, wir brauchen mehr echten Realismus. Es ist
höchste Zeit, dass wir uns öffnen."
Kurz, hier war ein Mann, der in
jeder Hinsicht begeistert war - dem nichts mehr am Herzen lag als eine gesunde
Lebensweise, für die er keine Zeit fand, seine Frau, vor der er sich fürchtete,
seine Kinder, mit denen er nichts anzufangen wusste.
Diesmal musste eiligst
eine Kolumne mit dem Titel "Meine Misserfolge" ins Leben gerufen werden, deren
ausführliche Einzelheiten, dem Redakteur zufolge, die Herzen des Publikums
erobern sollten. Die Helden sollten möglichst jung sein, aber bereits alle
Widrigkeiten ihrer mit klebrigem Blut behafteten, schrecklichen verführerischen
Zeit am eigenen Leibe erfahren haben. Als Idealfigur könnte ein Mann dienen, der
anfangs Flugzeugtechnik studiert und dabei landet, Flugzeuge zu verkaufen - ein
verhinderter Wissenschaftler also - im Handumdrehen Millionen verdient, Bankrott
geht und wieder von vorne beginnt.
Oder als weibliches Pendant dazu eine
junge Frau, die keine Lust verspürt, für ein ungewisses Gehalt zu arbeiten, und
sich lieber den mühsamen Weg, geradezu einen Leidensweg, durch die
Scylla und
die Charybdis der Versuchungen und Verirrungen bahnt, wobei sie alle ihr zur
Verfügung stehenden Register zieht.
Da unsere Zeitung wöchentlich erschien,
war die erforderliche Anzahl von verhinderten Wissenschaftern und Prostituierten
- ehemaligen Ballerinen oder Musikstudentinnen - nicht unbeträchtlich.
Es war
nicht zu leugnen, es gab sie rundherum und sie atmeten mit uns die für alle
Lungen schädliche Moskauer Luft, doch wie man es auch drehte und wendete, man
konnte nicht jede Woche einen bankrotten Millionär aus dem Ärmel schütteln. Die
Aufgabe war klar umrissen, was blieb war, einen Weg zu finden, sie zu lösen. Die
neue Zeit verlangte nach neuen Helden, aufgepäppelt von tonnenschweren,
kostbaren Sekunden - zu einem Cent das Stück.
"Denk nach, Junge, denk nach",
warf mir der Redakteur zum
Abschied hin. "Was soll man machen, das Magazin muss
nun einmal interessant sein", seufzte er.
Auch ich seufzte.
Auf dem
Nachhauseweg sah ich mich finster nach allen Seiten hin um und verfluchte im
Innersten den Redakteur genauso wie die Millionäre. An mir rauschten, die
tristen Obusse überholend, ganze Horden von
Fahrzeugen international führender
Automarken vorbei, und in jedem saßen ein, wenn nicht gar zwei Millionäre. Am
Straßenrand posierten verkrampft die ehemaligen Ballerinen, und das schwache
Licht der Verkaufsstände fiel auf das grüne Glas der Bierflaschen, die die
bankrotten Millionäre dankbar aus den zitternden Händen der Verkäufer
entgegennahmen, der Studenten von heute und Millionäre von morgen.
In
Gedanken ging ich alle meine Freunde, gute wie flüchtige Bekannte durch, doch es
war wie verhext, niemand kam für die unglückselige Kolumne in Frage. Die einen
verscherbelten ihre Heimat in den Reihen der Händler-Bourgeoisie, ehrlich davon
überzeugt, dass sie nicht schlecht daran verdienten, die anderen schleppten
sich, wie die Treidler an ihren Seilen, mühsam durch ihr hoffnungsloses Leben,
in dem sie immer noch Staatsbeamte waren, und die Dritten taten überhaupt
nichts, verschwendeten keine Gedanken an Millionen, hatten nie studiert und
lebten erstaunlicherweise besser als alle Übrigen, indem sie sich auf
durchgelegenen Diwanen im Nichtstun suhlten. "Diese Scheißkerle haben verloren",
zischten einige von ihnen mit tonloser Stimme und meinten damit eine populäre
Fußballmannschaft. Man bemerkte, dass, egal welche Regierung oder welches Wetter
herrschte, diese bitteren Enttäuschungen die schmerzlichsten bleiben
würden.
Alle, auch wenn keiner von ihnen große Not litt, gingen erst daran,
ihre erste Million zu verdienen. Doch Journalismus ist nicht Literatur, sie
interessiert nur das Resultat, sei es glänzend oder katastrophal, aber keine wie
auch immer gearteten Vorbereitungen oder phantastischen Pläne.
Lohnt es sich
zu sagen, dass ich selbst noch weniger in diese Kolumne passte?
"Über sich
selbst schreibt man nicht", sagte der Redakteur ärgerlich, obwohl er einen
Wagen fuhr, der so viel kostete wie eine anständige Wohnung, und seine
Telefonate von einem Handy aus führte, obwohl auf seinem Tisch, der von seinen
Maßen her der eines Petersburger Stadthauptmannes zu Anfang des Jahrhunderts
hätte sein können, sich ganz gewöhnliche Apparate aneinander reihten wie die
Kriegsmaschinen einer Landungstruppe im Materialpark der Militärabteilung 0 16
60.
Das wenige, worauf wir uns einigen konnten, war: Weder er noch ich war
für solche Kolumnen geschaffen.
Jetzt ist es an der Zeit, mich selbst
vorzustellen - umso mehr als dazu ohnehin nicht viele Worte notwendig sind. Wie
alle anderen wurde auch ich zuerst geboren und ging dann wie die meisten auch
zur Schule. Von meiner Mutter erbte ich die Neigung für die Historische und
andere große öffentliche Bibliotheken, während mein Vater (natürlich unbewusst
oder, wie es am Ausklang des Jahrhunderts so schön heißt, genetisch bedingt) in
mir die heimliche Leidenschaft für jenes gewisse Getränk entfachte, das schon
seit jeher - wozu es verschweigen - viele meiner Landsleute sowohl das
Privatleben als auch das bürgerliche Gesetzbuch vergessen ließ.
Als ich das
Musterungsalter erreichte ... an dieser Stelle meiner unspektakulären Biografie
halte ich meist inne und kann nicht anders, als einem unserer unglücklichen
Dichter das Wort zu überlassen, der das Wesentliche dazu erschöpfend ausgedrückt
hat, genau 131 Jahre, bevor ich meinen ersten hysterischen Schrei unter dem
blauen Erdenhimmel tat. (...)