"ungarn hören"
Eine musikalisch illustrierte Reise durch die
ungarische Kulturgeschichte bis in die Gegenwart
(Hörbuchrezension)
Die ungarische Suche nach der Identität
Anlässlich der Rolle Ungarns als Gastland beim Schleswig-Holstein
Musik Festival 2007 hat der Silberfuchs-Verlag ein Hörbuch zur
politischen und kulturellen Geschichte Ungarns herausgegeben. Rolf
Becker erzählt diese Geschichte von den sagenumwobenen
Anfängen, ergänzt um moderne Erkenntnisse bezüglich der
ursprünglichen Herkunft der Ungarn aus dem Ural-Gebiet.
Natürlich wird auch die Beziehung zwischen den Hunnen und den
Ungarn richtiggestellt.
Nach der Landnahme in der ungarischen Tiefebene sorgten die ungarischen
Reiter in Westeuropa zunächst für Angst und Schrecken, ehe
die Schlacht auf dem Lechfeld ihre Beutezüge nachhaltig beendete.
Ein ausführliches Kapitel gilt dem bald darauf an die Macht
gekommenen König Stephan, der sich taufen ließ und Ungarn
sozusagen nach Europa führte. Die sich anschließende
ungarische Geschichte ist geprägt von blutigen, sich häufig
überschlagenden Ereignissen: Dem Mongolensturm, der das Land
teilweise entvölkerte, folgten vergebliche Bauernaufstände
und schließlich die Unterwerfung und Besetzung durch die
Türken sowie teilweise durch die Habsburger. Zum Kulturträger
und -bewahrer wurde das relativ frei gebliebene Siebenbürgen.
Auch nach der Zurückschlagung der Türken war Ungarn noch weit
von einer nationalen Identität entfernt. Doch im 19. Jahrhundert
kamen massive nationale Strömungen auf, nicht selten angetrieben
von einfachen Leuten, was nicht verwundert, hatte sich der
germanisierte Adel doch ganz behaglich im Habsburgerreich eingerichtet.
Nun aber suchten Bürgerliche nach der nationalen Identität,
eine ganze Generation von ungarischen Dichtern widmete sich der
Revolution, ein Dorflehrer erweiterte die Sprache um zahllose Begriffe,
die Fremd- und Lehnwörter ersetzen sollten. Franz Liszt
schließlich "exportierte" die zu seiner Zeit als
ursprünglich ungarisch angesehene "Zigeuner"-Musik ins Ausland.
Als Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg zum Nationalstaat wurde, verlor es
zugleich erhebliche Teile seines Territoriums und seiner
Bevölkerung. Es verwundert angesichts dieser Tatsache vielleicht
nicht so sehr, dass Ungarn nach rechts driftete. So kam es dazu, dass
der Holocaust in Ungarn ähnlich gnadenlos wie in Deutschland
wütete, später aufgearbeitet unter anderem durch Imre
Kertész' im Hörbuch skizzierten
"Roman eines Schicksallosen".
Das 20. Jahrhundert Ungarns war durch zwei totalitäre Regimes
geprägt. Dessen ungeachtet gelang es zwei Musikern, Bartók
und Kodály, die eigentlich ungarische Musik in den Dörfern
zu finden und aufzuzeichnen, deren Ursprünge bis in die Zeit am
Ural zurückreichen.
Heute befassen sich viele ungarische Schriftsteller intensiv mit der
Vergangenheit und versuchen erneut, eine ungarische Identität zu
schaffen. Als Beispiel wird im Hörbuch László
Darvasi erwähnt, der in seiner
"Legende von den
Tränengauklern"
die multikulturell geprägte Zeit der
Türkenkriege
porträtiert. Es ist durchaus richtungsweisend, dass das letzte
Kapitel mit "Die Legende lebt oder Die Zukunft der Vergangenheit"
betitelt ist.
Abwechslungsreich wie selten in einer Publikation präsentiert sich
die ungarische Geschichte in diesem Hörbuch. Rolf Beckers sehr gut
verständlich und kurzweilig vorgetragener Abriss der oben
auszugsweise wiedergegebenen historischen Ereignisse politischer und
kultureller Art - beide Aspekte sind in Ungarn, mehr noch als in
anderen Längern, meistens untrennbar miteinander verflochten -
wird untermalt und ergänzt von vielen angespielten
Musikstücken, die zur jeweiligen Epoche oder zum Thema passen und
einen guten Überblick über das typisch Ungarische in der
Musik geben. Darüber hinaus werden einige repräsentative
Werke aus der Dichtung zitiert, selbstverständlich in (gut
gelungener) deutscher Übersetzung. Bildende Kunst lässt sich
in einem Hörbuch naturgemäß weniger gut wiedergeben,
doch zumindest wird auf einige Entwicklungen verwiesen.
Das Ziel, einen Überblick über die ungarische Kultur und
Geschichte innerhalb von achtzig Minuten zu vermitteln, mag recht
kühn anmuten, doch das Resultat zeigt, dass dies möglich ist
- und keineswegs mittels trockener, komplex gedrängter Texte. Die
vielfarbige Reise durch Ungarns Geschichte vermittelt nicht nur
historisch-kulturelles Wissen, sondern auch Verständnis für
die anhaltende, verzweifelte Suche der Ungarn nach einer nationalen
Identität, die es in der von anderen Nationen bekannten Form in
Ungarn über Jahrhunderte nicht gegeben hat.
Dass darüber hinaus zwischen Folklore und echter Tradition fachkundig
unterschieden wird, wobei auch der Folklore ihr Platz und ihre Berechtigung
eingeräumt werden, kann dem Hörer nur nützen.
Ein wirklich gelungenes Hörbuch, das zur Völkerverständigung einen guten Beitrag zu leisten vermag!
(Regina Károlyi; 05/2007)
"ungarn hören"
Autorin: Corinna Hesse.
Sprecher: Rolf Becker.
Silberfuchs Verlag, 2007. 1 CD mit 16seitigem Beiheft; Laufzeit ca. 80 Minuten.
Hörbuch
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