Konrad Paul Liessmann: "Theorie der Unbildung"

Die Irrtümer der Wissensgesellschaft


Eine Streitschrift wider den Zeitgeist

Konrad Paul Liessmann setzt sich in "Theorie der Unbildung" kritisch mit der Wissensgesellschaft und dem Reformeifer im Bildungsbereich auseinander. Er provoziert mit der Aussage, dass Unbildung die notwendige Konsequenz der Kapitalisierung des Geistes sei. Wie ist es heute um die Bildung bestellt? Findet zur Zeit der Wechsel von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft statt, oder wird Wissen schlichtweg industrialisiert?

Im ersten Kapitel verdeutlicht der Autor den Unterschied zwischen lexikalischem Wissen und einem tiefgehenden Wissen um Zusammenhänge. Er analysiert populäre Rateshows wie "Wer wird Millionär" und stellt diesen Adornos Versuch gegenüber, anhand Spinozas Ethik die wahre Bildung darzustellen. Wenn es um Sinn, Bedeutung oder Zusammenhänge geht, so seine Erkenntnis, wird lexikalisches Wissen nicht weiterhelfen. Er provoziert mit der Frage, ob im Zeitalter einfacher Internet-Recherchen tiefgehendes Wissen überhaupt noch erforderlich ist, um gesellschaftliche Anerkennung und wirtschaftlichen Erfolg verbuchen zu können.

Was verbirgt sich hinter dem Terminus Wissensgesellschaft, mit dem sich die gegenwärtige Gesellschaft so gerne schmückt? Ist der Traum der Aufklärung vom gebildeten Menschen in einer informierten Gesellschaft wahr geworden? Es gibt heute umfassende Möglichkeiten, Wissen zu erwerben. Nie war der Zugang so leicht wie heute. Die Konsequenzen daraus erinnern ein wenig an Horst Michael Hanikas "Chaos Syndrom": Die quantitativen Möglichkeiten zu wissen verhalten sich umgekehrt proportional zu dem, was tatsächlich gewusst wird. Die Leichtigkeit des Zugangs sabotiert die Aneignung von Wissen.

Was sich hartnäckig noch immer Bildung nennt, orientiert sich an knallharten Wirtschaftsfaktoren, die jene Standards definieren, die der "Gebildete" erreichen soll. Unter dieser Prämisse erscheinen Allgemein- und Persönlichkeitsbildung verzichtbar. In einer sich rasch wandelnden Welt, in der sich Wissensinhalte ständig ändern, scheint der Verzicht auf verbindliche geistige Traditionen zu einer Tugend geworden zu sein.

Das "Wo stehen wir?" reduziert sich heute auf den Ranglistenplatz eines kaum hinterfragten PISA-Testszenarios. Die Konkurrenz zwischen Bildungseinrichtungen spielte sich bislang zwischen unterschiedlichen Weltdeutungen, Methoden und Modellen ab und zwar als Konkurrenz um Zugänge zur Wahrheit. Im Gegensatz dazu führt das betriebswirtschaftliche Ranglistendenken zu einer Gleichschaltung der Strukturen und letztlich der Kulturen. "Rankings" fungieren als primitive, aber wirksame Steuerungs- und Kontrollmechanismen, die dem Bildungsbereich den letzten Rest Freiheit austreiben, der ihm als Relikt humanistischer Ideale geblieben ist.

Am Beispiel Immanuel Kants erläutert Liessmann die Grenzen universitärer Qualitätskontrolle. Kaum war Kant zum Professor ernannt worden, hörte er auf zu publizieren, um nach zehn Jahren des Schweigens mit "Kritik der reinen Vernunft" ein Werk zu veröffentlichen, dessen Bedeutung seine Zeitgenossen nicht verstanden haben. Da stellt sich die Frage, wie geniale Leistungen gefördert werden können, wenn betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte den universitären Alltag bestimmen sollen.

Im sechsten Kapitel setzt sich der Autor mit den Plänen der Bildungsminister auseinander, einen einheitlichen europäischen Hochschulrahmen zu schaffen. So sieht er den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit in nur dreijährigen Bachelor-Studien gefährdet. Selbst die anschließenden Masterstudiengänge für eine Minderheit der Studenten offerieren eine Wissenschaftlichkeit, die in hohem Maße vorstrukturiert ist. Der modulare Aufbau der Studiengänge ist gekennzeichnet durch Planbarkeit, Standardisierung und Kontrolle. Haben originelle Forschungsansätze und unorthodoxe Fragestellungen unter solchen Rahmenbedingungen noch Chancen?

Das Wissensmanagement agiert wie ein Betrieb, und der Wissensmanager versucht, unabhängig von Wahrheits- und Geltungsfragen herauszufinden, welche Art von Wissen sein Unternehmen zur Lösung seiner Probleme benötigt. Dass Universitäten, die über eine tausendjährige Erfahrung im Umgang mit Wissen verfügen, sich in ihrer Umstrukturierung an solchen Unternehmensideologien orientieren, hält der Autor für Dummheit. Anstatt aufgrund des eigenen Wissens und Reflexionspotenzials diesen Unfug zu kritisieren, unterwirft man sich ihm, getrieben von der Angst, eine der zahlreichen Reformen zu versäumen. Begriffe wie "Wissensbilanz", "Halbwertszeit des Wissens" und "Wissensballast" signalisieren, dass Wissen ausgerechnet in der Wissensgesellschaft an Achtung eingebüßt hat. Hier geht es nicht mehr um ein Erkennen um des Erkennens willen, wie es einst Aristoteles gesehen hat.

Vieles von dem, was zwecks Effizienzsteigerung zur Reform des Bildungswesens unternommen wird, gehorcht dem Prinzip der Industrialisierung. Zitat: "Es ist nicht der Arbeiter, der zum Wissenden wird, sondern der Wissende, der zum Arbeiter wird."
Andenfalls würde man Unternehmen in Universitäten verwandeln und nicht umgekehrt. Eine Gesellschaft, die im Namen vermeintlicher Effizienzsteigerung die Freiheit des Denkens beschneidet und sich damit der Möglichkeit beraubt, Illusionen als solche zu erkennen, hat sich der Unbildung verschrieben.

Liessmanns Ausführungen stellen ein Gegengewicht zum derzeitigen Reformeifer insbesondere im Bildungsbereich dar. Nicht jeder Baum, der im Namen einer Reform gepflanzt wird, trägt Früchte. Er warnt davor, Universitäten mit Unternehmen zu vergleichen und vor einer sich immer mehr abzeichnenden Kontrollgesellschaft. Verblüfft ist Liessmann über die Demut, mit der Reformen um der Reform willen allerorts hingenommen werden. Er sieht die Gefahr, dass kleinräumige Kulturen im Zuge der Globalisierung weggefegt werden könnten. Passend zu den weltweit einheitlichen Produkten internationaler Schnellkost-Ketten werden die Gesellschaften demnächst mit einer Einheitskultur beglückt.

Ist es ein Zufall, dass dem Buch die alte Rechtschreibung zugrunde liegt? Diese formelle Eigenart passt zu Liessmanns inhaltlichen Ausführungen, da die Rechtschreibreform ein Paradebeispiel für eine Reform ist, für die es zwar anfänglich gute Gründe gab, die aber von ihrer Eigendynamik überrollt wurde und im deutschsprachigen Raum jahrelang für Verwirrung gesorgt hat. Es ist Liessmann gelungen, gezielt zu provozieren. Was ich vermisse, sind konstruktive Antworten auf die Zukunftsfragen der Bildungssysteme. Wie sollen die Hochschulen auf die Globalisierung reagieren? Welche betriebswirtschaftlichen Parameter sind für den Bildungssektor wichtig, welche müssen ausgeklammert werden? Das Buch enthält zahlreiche Thesen gegen den allgemeinen Trend, liefert aber keine abschließenden Antworten. Dennoch handelt es sich in der Summe um eine lesenswerte Diskussionsgrundlage, die hoffentlich Verbreitung finden wird.

(Klemens Taplan; 10/2006)


Konrad Paul Liessmann: "Theorie der Unbildung"
Zsolnay, 2006. 176 Seiten.
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Konrad Paul Liessmann, geboren 1953 in Villach, ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien. Er erhielt 2004 den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln.

Ein weiteres Buch von Konrad Paul Liessmann:

"Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift"
Nach der "Theorie der Unbildung" jetzt die Praxis: Konrad Paul Liessmanns neuer Beitrag zum heiß diskutierten Thema Bildung.
Niemand weiß mehr, was Bildung bedeutet, aber alle fordern ihre Reform. Ein Markt hat sich etabliert, auf dem Bildungsforscher und -experten, Agenturen, Testinstitute, Lobbys und nicht zuletzt Bildungspolitiker ihr Unwesen treiben. Nach der "Theorie der Unbildung" nun also ihre Praxis: Das, was sich aktuell in Klassenzimmern und Hörsälen, in Seminarräumen und Redaktionsstuben, in der virtuellen Welt und in der realen Politik abzeichnet, unterzieht Konrad Paul Liessmann einer scharfen Kritik. Hinter der Polemik steht ein ernstes Anliegen: der Bildung und dem Wissen wieder eine Chance zu geben. (Zsolnay)
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Leseprobe:

1.
Wer wird Millionär
oder: Alles, was man wissen muß


Die in Deutschland von einem Privatsender ausgestrahlte Quizshow Wer wird Millionär, die in Österreich unter dem Titel Millionenshow vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesendet wird, gehört seit Jahren zu den beliebtesten und erfolgreichsten Formaten dieser Art. Neben dem Erfolg von Dietrich Schwanitz’ Sachbuch-Bestseller Bildung. Alles, was man wissen muß und den Harry-Potter-Romanen von Joanne K. Rowling gehören diese Shows für viele Kulturoptimisten zu jenen Indizien, die zeigen, daß die Bildungs- und Leselust der Menschen ungebrochen ist.

Daß sich immer wieder und immer noch Menschen finden, die sich - durch das Studium von Lexika und einschlägigen Handbüchern mehr oder weniger gut vorbereitet - vor einem Millionenpublikum einem Wissenstest stellen, ist in der Tat bemerkenswert. Verantwortlich dafür mag nicht nur die Aussicht auf den Gewinn sein, auch nicht nur die Simulation einer Prüfungssituation, deren Beobachtung immer schon mit beträchtlichem Lustgewinn verbunden war, sondern auch die Sache selbst, um die es geht: das Wissen. Genau in diesem Punkt demonstriert diese Show, kulturindustrielles Produkt par excellence, einiges davon, wie es um das Wissen in der Wissensgesellschaft bestellt ist.

Die Konstruktion der Show ist denkbar einfach. Einem Kandidaten, der es nach verschiedenen Vorauswahlverfahren bis ins Zentrum des Geschehens geschafft hat, werden bis zu fünfzehn Fragen gestellt, deren Schwierigkeitsgrad mit dem für die richtigen Antworten ausgesetzten Preisgeld steigt. Im Gegensatz zur herrschenden Ideologie der Vernetzung wird in dieser Show einzig nach einem punktuellen Wissen gefragt. Die aus Multiple-choice-Verfahren bekannten vorgegebenen Antworten, aus denen eine auszuwählen ist, ermöglichen nicht nur eine rasche und unmittelbare Reaktion, sondern zeigen auch in nuce, wo die Grenzen zwischen Raten, Vermuten, Wissen und Bildung verlaufen. Dort, wo Kandidaten ihre Wahl mit Formeln wie "Das kommt mir bekannt vor" oder "Davon habe ich schon einmal gehört" begründen, triumphiert das Bekannte über das Gewußte, dort, wo mit Wahrscheinlichem oder Plausibilitäten gearbeitet wird, regieren Ahnungen und dunkle Erinnerungen, und wenn jemand tatsächlich etwas weiß, wird als Begründung für die Wahl der Antwort dann auch folgerichtig gesagt: Das weiß ich. Ein Hauch von Bildung schleicht sich schließlich dann ein, wenn es einem Kandidaten gelingt, aufgrund seiner Kenntnisse etwa des Lateinischen oder gar Griechischen die Bedeutung von ihm an sich nicht geläufigen Fachausdrücken zu erschließen.

Die Show, und das mag ihre Attraktivität mitbedingen, simuliert so Bewegungen im Wissensraum, die jeder kennt und nachvollziehen kann: Nur sehr wenig haben wir verstanden, einiges wissen wir, manches kann vermutet werden, das meiste ist uns aber nicht geläufig und kann höchstens erraten werden.

So, wie sich das Wissen in der Abfolge von Fragen aus den unterschiedlichsten Gegenstandsbereichen präsentiert, erscheint es allerdings völlig zusammenhanglos und zufällig. Von der Geographie zur Popkultur, von der Literatur zur Botanik, von der Chemie zur Filmmusik, von der Kochkunst zur Oper, vom Sprichwort zur Historie: Alles ist möglich. Die Kontingenz ist das einzige Prinzip, das die Fülle der Informationen und Bedeutungen, die in einer Show in rascher Folge abgefragt werden, zusammenhält, der Zufallsgenerator spielt eine entscheidende Rolle, Menschenwerk ist offensichtlich nur die Einschätzung des Schwierigkeitsgrades, den man den Fragen zuweist.

Solche Kontingenz allerdings spiegelt eine zentrale Erfahrung wider, die Menschen in der Informationsgesellschaft machen müssen: die Gleichgültigkeit des gleich Gültigen. Auch wer im digitalen Datenozean nach Informationen fischt, wird auf Anhieb nie wissen, ob das, was die Suchmaschine ausspeit, in einem sinnvollen Zusammenhang zu einer Frage steht. Recherchen im Internet zeitigen in einem ersten Schritt immer zufallsbedingte Ergebnisse, die akzeptiert werden, weil jede andere Form der Suche vorab zum Scheitern verurteilt wäre. Sich im Netz zu bewegen, bedeutet immer auch, den Zufall so weit zu verdichten, daß sich Ergebnisse mit Plausibilitätscharakter ergeben.

Ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Millionenshow liegt aber wohl darin, daß dieses Format mit jedem Bildungsdünkel radikal Schluß macht. Gleichberechtigt stehen alle möglichen Wissensgebiete und Lebensbereiche nebeneinander, die Frage nach einer Figur aus Goethes Faust hat denselben Stellenwert wie die nach der neuesten Liaison eines Hollywood-Sternchens, es kann und darf keine Hierarchien geben, und es fiele auch keinem Kandidaten ein, eine Frage mit dem Hinweis zurückzuweisen, daß man das nicht wissen muß.

Was von der einstens geforderten, später inkriminierten Allgemeinbildung übrig ist, läßt sich an dieser Show ablesen: Alles kann Bildung sein, aber Bildung ist längst nicht mehr alles. Es gibt keine bevorzugten Disziplinen und Wissensgebiete mehr, nirgendwo wird ein Kanon abgefragt, aber auch Spezialisten haben in diesem Spiel keine Chance, in der Regel gelangen Generalisten mit etwas Glück am weitesten. Der zunehmende Schwierigkeitsgrad der Fragen orientiert sich dann auch nicht an komplexer werdenden Sachverhalten, auch nicht an dem, was man früher ein gehobenes Bildungsniveau genannt hatte, sondern am Exotismus und an der Ausgefallenheit der Bereiche und Begriffe.

Die Wissensshow suggeriert im Gegensatz zum Bildungs-Buch von Dietrich Schwanitz gerade nicht, daß es um das geht, was man wissen muß, sondern daß es völlig gleichgültig ist, was man weiß oder nicht weiß, mit etwas Glück weiß man immer etwas, das zufällig auch gefragt wird. Auf eine seltsame Weise adoriert diese Show so die Idee des punktuellen Faktenwissens an sich und stellt sich quer zur lange vorherrschenden pädagogischen Reformhaltung, die Faktenwissen als isoliert und zusammenhanglos aus den Köpfen der Schüler verbannen wollte. Seit dem Erfolg dieser Show veranstalten zeitgeistige Lehrer deshalb auch keine trockenen Prüfungsgespräche mehr, in denen sie erfahren, wieviel ihre Schüler tatsächlich verstanden haben, sondern organisieren dieser Show nachempfundene Ratespiele, die dann auch widerstandslos akzeptiert werden. So macht nicht nur Lernen, sondern auch Prüfen wirklich Spaß, und durch die Hintertür eines Medienereignisses gelangt das lange verpönte Abfragen beziehungslos nebeneinander stehender Daten, Fakten und Bedeutungen wieder in den Unterricht.

Dem Lehrer als Quizmaster stehen mit dem deutschen und österreichischen Protagonisten dieser Show auch gleich zwei habituelle Modelle gegenüber, an denen er sein pädagogisches Verhalten orientieren könnte. Während es Günther Jauch laut Umfragen durch diese Show dazu gebracht hat, als einer der klügsten Deutschen zu gelten, dem man auch hohe politische Ämter zutraut, hat die Beliebtheit des österreichischen Moderators Armin Assinger wohl andere Gründe. Jauch schafft es, mit intellektueller Attitüde immer wieder den Eindruck zu erzeugen, daß er meistens doch um einiges mehr weiß als die Kandidaten und daß der Blick auf die Lösung für ihn eher Bestätigung und nicht Offenbarung ist. Ganz anders beim ehemaligen Schirennläufer, dessen Charme darin besteht, daß er erst gar nicht versucht, so zu tun, als könne er mit den Begriffen, die er abfragen muß, etwas anfangen. Während Jauch eine pädagogische Autorität simuliert, stellt Assinger den Lehrerkumpel dar, der kein Hehl daraus macht, daß er auch nicht mehr weiß als seine Schüler und deshalb gerne bereit ist, etwas von diesen zu lernen.

Bei sehr leichten Fragen allerdings oder dort, wo es um Sport geht, hilft der kumpelhafte Moderator dann auch schon einmal augenzwinkernd einem verzweifelten Kandidaten über die ersten Hürden hinweg. Jauchs Gesten der Bestürzung über die geistige Immobilität mancher seiner Kandidaten lassen demgegenüber keinen Zweifel über die intellektuelle Differenz wischen ihm und seinem Gegenüber. Bei der richtigen Beantwortung von schwierigen Fragen kann Jauch deshalb, weil selbst Autorität, ein Lob riskieren, während Assinger, Gleicher unter Gleichen, unverhohlen sein nahezu philosophisches Erstaunen darüber zum Ausdruck bringt, was es in der Welt so alles zu wissen gibt.

Formate wie die Millionenshow indizieren den Stand der Bildung auf der Ebene der massenmedialen Unterhaltung: als eine Erscheinungsform der Unbildung. Nicht, daß es an und in diesen Sendungen nichts zu lernen gäbe; und fraglos etablieren solche Spiele gleichsam propagandistisch die These, daß man nie genug wissen kann. Und nicht zuletzt kokettieren diese Sendungen mit einer Urszene unserer Kultur: der Rätselfrage, deren Beantwortung das weitere Schicksal des Menschen entscheidet. Man bleibt dann auch vor allem deshalb vor dem Bildschirm sitzen, weil es unerträglich ist, solche Fragen unbeantwortet zu lassen. Aber das dabei aufgebotene Wissen bleibt seinen eigenen Intentionen gegenüber unverbindlich und zusammenhanglos, es ist schlechterdings äußerlich geworden. Das mag einerseits an einem Format liegen, das Wissen zum Gegenstand eines Fragespiels macht und deshalb der Idee von Bildung so sehr entfremdet sein muß wie jede andere Quizshow oder jedes Kreuzworträtsel auch. Das liegt andererseits aber auch an Verhältnissen, die jede Idee eines Zusammenhangs oder einer inneren Entfaltung eines Gedankens sabotieren.

Theodor W. Adorno hatte einstens versucht, an der Ethik Spinozas zu demonstrieren, was wahre Bildung sei: Es geht dabei nicht nur um die Kenntnis oder Lektüre dieses Buches, sondern auch um jene Cartesianische Philosophie und deren systematische und historische Kontexte, ohne die Spinoza nicht angemessen verstanden werden kann. Bildung, so könnte man sagen, ist der Anspruch auf angemessenes Verstehen. Für den Halbgebildeten, dem dafür die Voraussetzungen fehlen, wird Spinozas Ethik deshalb zu einem Konvolut logisch nicht nachvollziehbarer Behauptungen, aus dem er Einzelheiten gerade noch als erstarrtes Bildungsgut zitieren kann.
Solch ein Bildungsanspruch zerschellt vollends an einem Verfahren, das bestenfalls noch danach fragt, ob die Ethica, ordine geometrico demonstrata von Descartes, Spinoza, Kant oder Hobbes geschrieben wurde. Das Problem besteht nicht darin, daß jemand, der Spinoza und Descartes gelesen hätte, diese Frage nicht zu beantworten wüßte; das Problem besteht darin, daß zu einem Buch wie Spinozas Ethik unter dem Gesichtspunkt medialer Enthusiasmierung keine andere Frage mehr gedacht werden kann als die nach ihrem Autor. Was in Adornos Theorie der Halbbildung noch als ein vergeblicher Aneignungsprozeß von Bildung durch solche soziale Schichten, denen schlicht die materiellen Möglichkeiten dazu vorenthalten wurden, kritisch diagnostiziert wurde, mutiert in der Mediengesellschaft zu einem individuellen Glück, das einen rechtzeitig daran erinnert, wer ein bestimmtes Buch vielleicht geschrieben haben könnte.

Wissen wird so zu einem zwar nicht zentralen, aber auch nicht nur peripheren Moment der Unterhaltungsindustrie. Jenseits der diversen Ratespiele, bei denen es auch um Wissen geht, demonstrieren vielleicht die Wissens- und Wissenschaftsmagazine der verschiedenen Fernsehanstalten am deutlichsten, in welchen Formaten Wissen heute einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert werden kann. Auch wenn der Seriositätsgrad von Sendungen wie Galileo, Newton oder Nano durchaus unterschiedlich bewertet werden kann, läßt sich doch eine Maxime erkennen, die allen zugrunde liegt: Zeige etwas Interessantes! Die Vielfalt der Themen, das Springen zwischen den Gegenstandsbereichen, das Kokettieren mit dem Sensationellen, Überraschenden, Verblüffenden, die Lust an den spektakulären Entdeckungen und Innovationen charakterisieren solches Wissen: vom Wilden Westen auf den Mars, vom Judasevangelium zur Funktionsweise von Geländebaggern, von den Segnungen der Nahrungsmittelindustrie zum Totenkult der Etrusker. Die Beliebigkeit des Wissens aus der Quizshow wiederholt sich, nun allerdings als spannende, spektakuläre, je nach Jahreszeit auch schon einmal besinnliche Story. Daß solche Beliebigkeit des Wissens auch auf die Spitze getrieben noch einen eigenen Reiz hat, zeigen nicht zuletzt Bestseller wie Schotts Sammelsurium, in dem wahrlich alles Mögliche und Unmögliche, Sinnige und Unsinnige aufgelistet wird, von den Todesarten burmesischer Könige bis zu den Kindern von Thomas Mann.

Wissen unter diesen Bedingungen erscheint vor allem unter dem Aspekt der Verblüffung: erstaunlich, was es alles gibt und wie die Dinge funktionieren oder hergestellt werden. Die meisten Wissenschaftssendungen sind deshalb auch in hohem Maße an Technologien interessiert. Sie sind erfolgreich, weil darin tatsächlich ein entscheidendes Motiv alles Wissens angesprochen wird: die Neugier. Neugier, curiositas, gehörte spätestens seit der frühen Neuzeit zu den entscheidenden Triebfedern des Erkenntnisprozesses. Gleichzeitig war sie immer dem Verdacht ausgesetzt, sich an das Beliebige, Einzelne, Außergewöhnliche, Unnötige zu verlieren und darüber die grundlegenden Zusammenhänge und Wahrheiten zu übersehen. Ludwig Wittgenstein hat die "oberflächliche Neugier auf die jüngsten wissenschaftlichen Entdeckungen" einmal einen der "schnödesten Wünsche des modernen Menschen" genannt. Kein populäres Wissensmagazin, das nicht versuchte, diesen schnöden Wunsch zu befriedigen.

Der Unterhaltungswert des Wissens, mit und ohne Nutzen, ist der modernen Wissenskultur allerdings von Anfang an eingeschrieben. Im 17. Jahrhundert standen die aufblühenden Wissenschaften und deren Ergebnisse sogar ganz erheblich im Dienste einer geselligen Unterhaltung, erfolgreiche Bücher wie Georg Philipp Harsdörffers gattungsbildende Frauenzimmer-Gesprächspiele (1641-1649) oder Johann Adam Webers Hundert Quellen Der von allerhand Materien handelnden Unterredungs-Kunst aus dem Jahre 1676 versuchten Handreichungen für jene Kunst der Konversation zu geben, die gleichermaßen gelehrt wie unterhaltsam, kurzweilig wie bildend sein sollte. Es wäre eine Überlegung wert, in der Konjunktur, die das unterhaltsame Wissen gegenwärtig erlebt, nicht nur einen Tribut an die immanente Logik der Mediengesellschaft zu sehen, sondern auch eine Rückkehr zu den Wurzeln der sozialisierten Neugier der Moderne. Erst die Bildungsideen der Aufklärung und des Neuhumanismus hatten versucht, das Wissen vom Geruch des Kuriosen und Beliebigen zu befreien und aus einem unterhaltsamen Gesellschaftsspiel eine Selbstverpflichtung des Menschen zu machen, die Grundbedingung für das Verständnis der Kultur und damit für die Entfaltungsmöglichkeiten des modernen Subjekts sein sollte.

Unter den Voraussetzungen der Unterhaltungsindustrie und angesichts der Unendlichkeit und Beliebigkeit des Wissens selbst, findet die neuhumanistische Idee der Allgemeinbildung als verstehende Aneignung der Grundlagen unserer Kultur kaum noch theoretische oder gar curriculare Entsprechungen. Paradox immerhin, daß mit der Austreibung der kanonischen Bildung aus den nur noch pro forma sogenannten Gymnasien oder Allgemeinbildenden Schulen die Sehnsucht nach ebendieser Bildung gewachsen ist. Ein Buch wie Dietrich Schwanitz’ Bildung versprach dann auch, gerade diese Sehnsucht nach den verlorenen Bildungsgütern und ihrer Gewichtung zu befriedigen: Alles, was man wissen muß. Der Untertitel des Buches suggeriert zweierlei: Was zur Bildung gehört, ist weder beliebig noch unendlich, sondern läßt sich auf wenigen hundert Seiten, durchaus unterhaltsam, fixieren. Bildung ist mehr und anderes als eine Sammlung von Kuriositäten oder ein zufälliger Ausschnitt aus einer gerade vom Zeitgeist hochgespülten Wissenschaftsdisziplin. In diesem Sinn ist Schwanitz’ Buch, wenn auch mit ironischer Distanz, noch einem Bildungskonzept verpflichtet, das Bildung als Aneignung der unverrückbaren Fundamente der europäischen Kultur sehen wollte. Und diese Fundamente sind weder beliebig noch unüberschaubar. Das, was man tatsächlich wissen muß, kann man auch wissen - es genügt, das genannte Buch zu lesen. Was aber, wollte man irgendeiner Idee von Bildung genügen, muß man denn tatsächlich wissen?

Wer behauptet, er wisse alles, was man wissen muß, wird nicht lange warten müssen, um nachgewiesen zu bekommen, daß er vieles, was man wissen müßte, nicht weiß. Schwanitz hatte es seinen Kritikern insofern leicht gemacht, als er sich der deutschen Tradition anschloß und die Inhalte der Bildung im wesentlichen auf die Bereiche der Literatur, der Historie, der Kultur- und Geistesgeschichte beschränkte. Der Vorwurf, die andere Bildung, nämlich die der Mathematik und Naturwissenschaften, sträflich zu vernachlässigen, folgte postwendend, auch wenn dem Versuch, das Schwanitzsche Versäumnis in ähnlicher Manier zu kompensieren, nicht der gleich große Erfolg beschieden war. Und natürlich beging Schwanitz das moderne Sakrileg, Bildung aus europäischer Perspektive zu definieren und nicht den Außenstandpunkt der Opfer europäischer Politik gegenüber der europäischen Kultur einzunehmen. In der Tat gehört es zur Logik jeder Bildungsdebatte, daß man jede These zur Frage, was man wissen muß, mit dem Hinweis auf etwas, das auch noch dazu gehört, aushebeln kann. Der Grundfehler bestand schon bei Schwanitz darin, das Wesen der neuhumanistischen Bildungskonzeption mißverstanden zu haben. Dieser war es nie darum gegangen festzuhalten, was man wissen muß.

Die Frage, was man wissen muß, hat schon eine Zielvorstellung im Blick, für die dieses Wissen einen funktionalen Wert hat. Aber auch Schwanitz ist so desillusioniert, daß er weiß, daß jenes unter dem Titel der Bildung noch einmal versammelte Wissen mittlerweile weder den sozialen Aufstieg garantiert noch die Berufschancen verbessert, sondern gerade einmal ausreichen soll, um auf diversen Partys den Intellektuellen mimen zu können. Auch bei Schwanitz regrediert Bildung zu jenem Gesellschaftsspiel, dem sie vielleicht einmal entsprungen ist. Doch sogar hier ließe sich die perennierende Frage stellen: Was muß man wirklich wissen, um beim höheren gesellschaftlichen Small talk zu brillieren, ohne als Besserwisser oder Kuriositätensammler negativ aufzufallen?

Kaum eine Party im politisch interessierten Milieu, bei der nicht irgendwann das Gespräch auf den Krieg im Irak, den Krieg gegen den Terror, die Kriege der Zukunft und den Krieg im allgemeinen zusteuerte. In diesem Zusammenhang ist es gut zu wissen, daß das unvermeidlich fallende Wort vom Menschen als des Menschen Wolf auf Thomas Hobbes zurückgeht. Soweit Schwanitz. Natürlich macht es sich noch besser, zitiert man diesen Satz in lateinischer Sprache - homo homini lupus -, aber das muß man schon nicht mehr können, geht es nach jenen Bildungsexperten und Reformern, die das Lateinische mittlerweile als generell verzichtbar erachten. Und daß man diesen Satz nicht, wie Schwanitz suggeriert, in Hobbes’ Hauptwerk Leviathan, sondern in einem Widmungsschreiben zu seiner Abhandlung Vom Bürger findet, muß man wohl nicht mehr wirklich wissen. Daß Hobbes den Wolfs-Satz aber gar nicht erfunden hat, sondern daß er ein verbreitetes lateinisches Doppelsprichwort zustimmend zitiert, das sich in einschlägigen Sammlungen - etwa bei Erasmus von Rotterdam oder John Owen - findet, könnte schon wieder interessant sein, denn dieses lautet: "Der Mensch ist ein Gott für den Menschen" und: "Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen." Als Einzelwesen wird der Mensch für seinesgleichen zur Gefahr, im sozialen Verband aber zu seinem Segen.

Es ist diese Ambivalenz, die Doppelnatur des Menschen, die Hobbes interessierte. Ob man dann noch wissen sollte, daß die Wolfsformel in ihrer klassischen Prägung eigentlich aus der Asinaria, der Eselskomödie des Plautus stammt, könnte man offen lassen. Immerhin: Arthur Schopenhauer und Sigmund Freud, beide in bezug auf die Natur des Menschen ziemlich illusionslos, zitieren diesen Satz, obgleich sie Hobbes natürlich kannten, aus der Komödie des Plautus. Daß dieser Satz allerdings schon bei Plautus den Charakter einer verbürgten Redensart hatte und, so nebenbei, nicht den mordenden oder räuberischen, sondern nur den unberechenbaren Menschen meinte, das muß man allerdings wirklich nicht mehr wissen.

Irgendwo zwischen der bedeutungsschwangeren Bemerkung "Tja, Hobbes!" und der intimen Kenntnis der römischen Komödiendichtung verläuft wohl die einstens schillernde Grenze zwischen allgemeiner Bildung und purer Gelehrsamkeit. Mit dem Verschwinden nicht nur des Bildungsbürgers, sondern auch des Gelehrten als einer spezifischen Erscheinungsform des neuzeitlichen Wissens hat diese Grenze und die durch sie provozierte Spannung ihre Attraktion eingebüßt.

Was also muß man wirklich wissen? Diese Frage wird nicht leichter, wenn man weiß, daß man die Genese und Geschichte der Homo-homini-lupus-Formel relativ einfach im Internet recherchieren kann. Bei Party-Gesprächen macht es sich in der Regel nicht so gut, wenn man sich mit seinem Hochleistungsmobiltelephon in eine stille Ecke zurückzieht, das Web en miniature durchforstet und nach geraumer Zeit in die Gesprächsrunde, die schon längst bei der neuesten Aufführung des lokalen Tanztheaters angelangt ist, mit der Neuigkeit hineinplatzt, daß der Hobbes zugeschriebene finstere Satz über die bestialische Natur des Menschen einer zwar derben, nichtsdestotrotz aber eher fröhlichen antiken Komödie entstammt. Gerade in solchen Situationen erweist sich der Satz, daß es nicht auf gegenständliches Wissen, sondern nur darauf ankomme zu wissen, wo man nachzuschauen hat, als trügerisches Versprechen. Und auch wenn man weiß, wo und wie man Wissen abrufen kann: Es wird immer nur ein lexikalisches Wissen sein können, über das man in dieser äußerlichen Form verfügen kann. Dort, wo es um Sinn, um Bedeutung, um Zusammenhänge und um Verständnis geht, wird solches Wissen nur dann weiterhelfen, wenn mehr gewußt wird als die Pfade von Suchoptionen.

Aber vielleicht ist weniger sogar mehr. Vielleicht genügt es, um in einem praktischen Sinn gebildet zu sein - Hobbes hin, Plautus her -, einfach zu wissen, daß Menschen einander in der Regel auf der Suche nach Vorteilen mißtrauisch belauern und daß die Wettbewerbsgesellschaft diese wölfische Attitüde zum gefeierten Prinzip erhoben hat. Wie auch immer: Wer bei der großen Rateshow auf die Frage nach dem Autor des Satzes, der den Menschen zum Wolf des Menschen erklärte, zwischen Plautus, Hobbes, Schopenhauer und Freud richtig tippt, der wird Millionär!

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