Konrad Paul Liessmann: "Theorie der Unbildung"
Die Irrtümer der Wissensgesellschaft
Eine
Streitschrift wider den Zeitgeist
Konrad Paul Liessmann setzt sich in "Theorie der Unbildung" kritisch
mit der Wissensgesellschaft und dem Reformeifer im Bildungsbereich
auseinander. Er provoziert mit der Aussage, dass Unbildung die
notwendige Konsequenz der Kapitalisierung des Geistes sei. Wie ist es
heute um die Bildung bestellt? Findet zur Zeit der Wechsel von der
Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft statt, oder wird Wissen
schlichtweg industrialisiert?
Im ersten Kapitel verdeutlicht der Autor den Unterschied zwischen
lexikalischem Wissen und einem tiefgehenden Wissen um
Zusammenhänge. Er
analysiert
populäre Rateshows wie "Wer wird Millionär" und
stellt diesen Adornos Versuch gegenüber, anhand Spinozas Ethik
die wahre Bildung darzustellen. Wenn es um Sinn, Bedeutung oder
Zusammenhänge geht, so seine Erkenntnis, wird lexikalisches
Wissen nicht weiterhelfen. Er provoziert mit der Frage, ob im Zeitalter
einfacher Internet-Recherchen tiefgehendes Wissen überhaupt
noch erforderlich ist, um gesellschaftliche Anerkennung und
wirtschaftlichen Erfolg verbuchen zu können.
Was verbirgt sich hinter dem Terminus Wissensgesellschaft, mit dem sich
die gegenwärtige Gesellschaft so gerne schmückt? Ist
der Traum der Aufklärung vom gebildeten Menschen in einer
informierten Gesellschaft wahr geworden? Es gibt heute umfassende
Möglichkeiten, Wissen zu erwerben. Nie war der Zugang so
leicht wie heute. Die Konsequenzen daraus erinnern ein wenig an Horst
Michael Hanikas "Chaos Syndrom": Die quantitativen
Möglichkeiten zu wissen verhalten sich umgekehrt proportional
zu dem, was tatsächlich gewusst wird. Die Leichtigkeit des
Zugangs sabotiert die Aneignung von Wissen.
Was sich hartnäckig noch immer Bildung nennt, orientiert sich
an knallharten Wirtschaftsfaktoren, die jene Standards definieren, die
der "Gebildete" erreichen soll. Unter dieser Prämisse
erscheinen Allgemein- und Persönlichkeitsbildung verzichtbar.
In einer sich rasch wandelnden Welt, in der sich Wissensinhalte
ständig ändern, scheint der Verzicht auf verbindliche
geistige Traditionen zu einer Tugend geworden zu sein.
Das "Wo stehen wir?" reduziert sich heute auf den Ranglistenplatz eines
kaum hinterfragten PISA-Testszenarios. Die Konkurrenz zwischen
Bildungseinrichtungen spielte sich bislang zwischen unterschiedlichen
Weltdeutungen, Methoden und Modellen ab und zwar als Konkurrenz um
Zugänge zur Wahrheit. Im Gegensatz dazu führt das
betriebswirtschaftliche
Ranglistendenken
zu einer Gleichschaltung der Strukturen und letztlich der Kulturen.
"Rankings" fungieren als primitive, aber wirksame Steuerungs- und
Kontrollmechanismen, die dem Bildungsbereich den letzten Rest Freiheit
austreiben, der ihm als
Relikt humanistischer Ideale geblieben ist.
Am Beispiel Immanuel Kants erläutert Liessmann die Grenzen
universitärer Qualitätskontrolle. Kaum war Kant zum
Professor ernannt worden, hörte er auf zu publizieren, um nach
zehn Jahren des Schweigens mit "Kritik der reinen Vernunft" ein Werk zu
veröffentlichen, dessen Bedeutung seine Zeitgenossen nicht
verstanden haben. Da stellt sich die Frage, wie geniale Leistungen
gefördert werden können, wenn betriebswirtschaftliche
Gesichtspunkte den universitären Alltag bestimmen sollen.
Im sechsten Kapitel setzt sich der Autor mit den Plänen der
Bildungsminister auseinander, einen einheitlichen europäischen
Hochschulrahmen zu schaffen. So sieht er den Anspruch auf
Wissenschaftlichkeit in nur dreijährigen Bachelor-Studien
gefährdet. Selbst die anschließenden
Masterstudiengänge für eine Minderheit der Studenten
offerieren eine Wissenschaftlichkeit, die in hohem Maße
vorstrukturiert ist. Der modulare Aufbau der Studiengänge ist
gekennzeichnet durch Planbarkeit, Standardisierung und Kontrolle. Haben
originelle Forschungsansätze und unorthodoxe Fragestellungen
unter solchen Rahmenbedingungen noch Chancen?
Das Wissensmanagement agiert wie ein Betrieb, und der Wissensmanager
versucht, unabhängig von Wahrheits- und Geltungsfragen
herauszufinden, welche Art von Wissen sein Unternehmen zur
Lösung seiner Probleme benötigt. Dass
Universitäten, die über eine tausendjährige
Erfahrung im Umgang mit Wissen verfügen, sich in ihrer
Umstrukturierung an solchen Unternehmensideologien orientieren,
hält der Autor für Dummheit. Anstatt aufgrund des
eigenen Wissens und Reflexionspotenzials diesen Unfug zu kritisieren,
unterwirft man sich ihm, getrieben von der Angst, eine der zahlreichen
Reformen zu versäumen. Begriffe wie "Wissensbilanz",
"Halbwertszeit des Wissens" und "Wissensballast" signalisieren, dass
Wissen ausgerechnet in der Wissensgesellschaft an Achtung
eingebüßt hat. Hier geht es nicht mehr um ein
Erkennen um des Erkennens willen, wie es einst Aristoteles gesehen hat.
Vieles von dem, was zwecks Effizienzsteigerung zur Reform des
Bildungswesens unternommen wird, gehorcht dem Prinzip der
Industrialisierung. Zitat: "Es ist nicht der Arbeiter, der zum
Wissenden wird, sondern der Wissende, der zum Arbeiter wird."
Andenfalls würde man Unternehmen in Universitäten
verwandeln und nicht umgekehrt. Eine Gesellschaft, die im Namen
vermeintlicher Effizienzsteigerung die Freiheit des Denkens beschneidet
und sich damit der Möglichkeit beraubt, Illusionen als solche
zu erkennen, hat sich der Unbildung verschrieben.
Liessmanns Ausführungen stellen ein Gegengewicht zum
derzeitigen Reformeifer insbesondere im Bildungsbereich dar. Nicht
jeder Baum, der im Namen einer Reform gepflanzt wird, trägt
Früchte. Er warnt davor, Universitäten mit
Unternehmen zu vergleichen und vor einer sich immer mehr abzeichnenden
Kontrollgesellschaft. Verblüfft ist Liessmann über
die Demut, mit der Reformen um der Reform willen allerorts hingenommen
werden. Er sieht die Gefahr, dass kleinräumige Kulturen im
Zuge der Globalisierung weggefegt werden könnten. Passend zu
den weltweit einheitlichen Produkten internationaler Schnellkost-Ketten
werden die Gesellschaften demnächst mit einer Einheitskultur
beglückt.
Ist es ein Zufall, dass dem Buch die alte Rechtschreibung zugrunde
liegt? Diese formelle Eigenart passt zu Liessmanns inhaltlichen
Ausführungen, da die Rechtschreibreform ein Paradebeispiel
für eine Reform ist, für die es zwar
anfänglich gute Gründe gab, die aber von ihrer
Eigendynamik überrollt wurde und im deutschsprachigen Raum
jahrelang für Verwirrung gesorgt hat. Es ist Liessmann
gelungen, gezielt zu provozieren. Was ich vermisse, sind konstruktive
Antworten auf die Zukunftsfragen der Bildungssysteme. Wie sollen die
Hochschulen auf die Globalisierung reagieren? Welche
betriebswirtschaftlichen Parameter sind für den Bildungssektor
wichtig, welche müssen ausgeklammert werden? Das Buch
enthält zahlreiche Thesen gegen den allgemeinen Trend, liefert
aber keine abschließenden Antworten. Dennoch handelt es sich
in der Summe um eine lesenswerte Diskussionsgrundlage, die hoffentlich
Verbreitung finden wird.
(Klemens Taplan; 10/2006)
Konrad
Paul Liessmann: "Theorie der Unbildung"
Zsolnay, 2006. 176 Seiten.
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Konrad Paul Liessmann, geboren 1953 in Villach, ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien. Er erhielt 2004 den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln.
Ein
weiteres Buch von Konrad Paul Liessmann:
"Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift"
Nach der "Theorie der Unbildung" jetzt die Praxis: Konrad Paul
Liessmanns neuer Beitrag zum heiß diskutierten Thema Bildung.
Niemand
weiß mehr, was Bildung bedeutet, aber alle fordern ihre
Reform. Ein Markt hat sich etabliert, auf dem Bildungsforscher und
-experten, Agenturen, Testinstitute, Lobbys und nicht zuletzt
Bildungspolitiker ihr Unwesen treiben. Nach der "Theorie der Unbildung"
nun also ihre Praxis: Das, was sich aktuell in Klassenzimmern und
Hörsälen, in Seminarräumen und
Redaktionsstuben, in der virtuellen Welt und in der realen Politik
abzeichnet, unterzieht Konrad Paul Liessmann einer scharfen Kritik.
Hinter der Polemik steht ein ernstes Anliegen: der Bildung und dem
Wissen wieder eine Chance zu geben. (Zsolnay)
Buch
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Leseprobe:
1.
Wer wird Millionär
oder: Alles, was man wissen muß
Die in Deutschland von einem Privatsender ausgestrahlte Quizshow Wer
wird Millionär, die in Österreich unter dem Titel
Millionenshow vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesendet
wird, gehört seit Jahren zu den beliebtesten und
erfolgreichsten Formaten dieser Art. Neben dem Erfolg von Dietrich
Schwanitz’ Sachbuch-Bestseller Bildung. Alles, was man wissen
muß und den
Harry-Potter-Romanen
von Joanne K. Rowling gehören diese Shows für viele
Kulturoptimisten zu jenen Indizien, die zeigen, daß die
Bildungs- und Leselust der Menschen ungebrochen ist.
Daß sich immer wieder und immer noch Menschen finden, die
sich - durch das Studium von Lexika und einschlägigen
Handbüchern mehr oder weniger gut vorbereitet - vor einem
Millionenpublikum einem Wissenstest stellen, ist in der Tat
bemerkenswert. Verantwortlich dafür mag nicht nur die Aussicht
auf den Gewinn sein, auch nicht nur die Simulation einer
Prüfungssituation, deren Beobachtung immer schon mit
beträchtlichem Lustgewinn verbunden war, sondern auch die
Sache selbst, um die es geht: das Wissen. Genau in diesem Punkt
demonstriert diese Show, kulturindustrielles Produkt par excellence,
einiges davon, wie es um das Wissen in der Wissensgesellschaft bestellt
ist.
Die Konstruktion der Show ist denkbar einfach. Einem Kandidaten, der es
nach verschiedenen Vorauswahlverfahren bis ins Zentrum des Geschehens
geschafft hat, werden bis zu fünfzehn Fragen gestellt, deren
Schwierigkeitsgrad mit dem für die richtigen Antworten
ausgesetzten Preisgeld steigt. Im Gegensatz zur herrschenden Ideologie
der Vernetzung wird in dieser Show einzig nach einem punktuellen Wissen
gefragt. Die aus Multiple-choice-Verfahren bekannten vorgegebenen
Antworten, aus denen eine auszuwählen ist,
ermöglichen nicht nur eine rasche und unmittelbare Reaktion,
sondern zeigen auch in nuce, wo die Grenzen zwischen Raten, Vermuten,
Wissen und Bildung verlaufen. Dort, wo Kandidaten ihre Wahl mit Formeln
wie "Das kommt mir bekannt vor" oder "Davon habe ich schon einmal
gehört" begründen, triumphiert das Bekannte
über das Gewußte, dort, wo mit Wahrscheinlichem oder
Plausibilitäten gearbeitet wird, regieren Ahnungen und dunkle
Erinnerungen, und wenn jemand tatsächlich etwas
weiß, wird als Begründung für die Wahl der
Antwort dann auch folgerichtig gesagt: Das weiß ich. Ein
Hauch von Bildung schleicht sich schließlich dann ein, wenn
es einem Kandidaten gelingt, aufgrund seiner Kenntnisse etwa des
Lateinischen oder gar Griechischen die Bedeutung von ihm an sich nicht
geläufigen Fachausdrücken zu erschließen.
Die Show, und das mag ihre Attraktivität mitbedingen,
simuliert so Bewegungen im Wissensraum, die jeder kennt und
nachvollziehen kann: Nur sehr wenig haben wir verstanden, einiges
wissen wir, manches kann vermutet werden, das meiste ist uns aber nicht
geläufig und kann höchstens erraten werden.
So, wie sich das Wissen in der Abfolge von Fragen aus den
unterschiedlichsten Gegenstandsbereichen präsentiert,
erscheint es allerdings völlig zusammenhanglos und
zufällig. Von der Geographie zur
Popkultur,
von der Literatur zur Botanik, von der Chemie zur Filmmusik, von der
Kochkunst zur Oper, vom Sprichwort
zur Historie: Alles ist
möglich. Die Kontingenz ist das einzige Prinzip, das die
Fülle der Informationen und Bedeutungen, die in einer Show in
rascher Folge abgefragt werden, zusammenhält, der
Zufallsgenerator spielt eine entscheidende Rolle, Menschenwerk ist
offensichtlich nur die Einschätzung des Schwierigkeitsgrades,
den man den Fragen zuweist.
Solche Kontingenz allerdings spiegelt eine zentrale Erfahrung wider,
die Menschen in der Informationsgesellschaft machen müssen:
die Gleichgültigkeit des gleich Gültigen. Auch wer im
digitalen Datenozean nach Informationen fischt, wird auf Anhieb nie
wissen, ob das, was die Suchmaschine ausspeit, in einem sinnvollen
Zusammenhang zu einer Frage steht. Recherchen im Internet zeitigen in
einem ersten Schritt immer zufallsbedingte Ergebnisse, die akzeptiert
werden, weil jede andere Form der Suche vorab zum Scheitern verurteilt
wäre. Sich im Netz zu bewegen, bedeutet immer auch, den Zufall
so weit zu verdichten, daß sich Ergebnisse mit
Plausibilitätscharakter ergeben.
Ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Millionenshow liegt
aber wohl darin, daß dieses Format mit jedem
Bildungsdünkel radikal Schluß macht.
Gleichberechtigt stehen alle möglichen Wissensgebiete und
Lebensbereiche nebeneinander, die Frage nach einer
Figur aus Goethes
Faust hat denselben Stellenwert wie die nach der neuesten
Liaison eines
Hollywood-Sternchens, es kann und darf keine Hierarchien geben, und es
fiele auch keinem Kandidaten ein, eine Frage mit dem Hinweis
zurückzuweisen, daß man das nicht wissen
muß.
Was von der einstens geforderten, später inkriminierten
Allgemeinbildung übrig ist, läßt sich an
dieser Show ablesen: Alles kann Bildung sein, aber Bildung ist
längst nicht mehr alles. Es gibt keine bevorzugten Disziplinen
und Wissensgebiete mehr, nirgendwo wird ein Kanon abgefragt, aber auch
Spezialisten haben in diesem Spiel keine Chance, in der Regel gelangen
Generalisten mit etwas Glück am weitesten. Der zunehmende
Schwierigkeitsgrad der Fragen orientiert sich dann auch nicht an
komplexer werdenden Sachverhalten, auch nicht an dem, was man
früher ein gehobenes Bildungsniveau genannt hatte, sondern am
Exotismus und an der Ausgefallenheit der Bereiche und Begriffe.
Die Wissensshow suggeriert im Gegensatz zum Bildungs-Buch von Dietrich
Schwanitz gerade nicht, daß es um das geht, was man wissen
muß, sondern daß es völlig
gleichgültig ist, was man weiß oder nicht
weiß, mit etwas Glück weiß man immer
etwas, das zufällig auch gefragt wird. Auf eine seltsame Weise
adoriert diese Show so die Idee des punktuellen Faktenwissens an sich
und stellt sich quer zur lange vorherrschenden pädagogischen
Reformhaltung, die Faktenwissen als isoliert und zusammenhanglos aus
den Köpfen der Schüler verbannen wollte. Seit dem
Erfolg dieser Show veranstalten zeitgeistige Lehrer deshalb auch keine
trockenen Prüfungsgespräche mehr, in denen sie
erfahren, wieviel ihre Schüler tatsächlich verstanden
haben, sondern organisieren dieser Show nachempfundene Ratespiele, die
dann auch widerstandslos akzeptiert werden. So macht nicht nur Lernen,
sondern auch Prüfen wirklich Spaß, und durch die
Hintertür eines Medienereignisses gelangt das lange
verpönte Abfragen beziehungslos nebeneinander stehender Daten,
Fakten und Bedeutungen wieder in den Unterricht.
Dem Lehrer als Quizmaster stehen mit dem deutschen und
österreichischen Protagonisten dieser Show auch gleich zwei
habituelle Modelle gegenüber, an denen er sein
pädagogisches Verhalten orientieren könnte.
Während es Günther Jauch laut Umfragen durch diese
Show dazu gebracht hat, als einer der klügsten Deutschen zu
gelten, dem man auch hohe politische Ämter zutraut, hat die
Beliebtheit des österreichischen Moderators
Armin Assinger
wohl andere Gründe. Jauch schafft es, mit intellektueller
Attitüde immer wieder den Eindruck zu erzeugen, daß
er meistens doch um einiges mehr weiß als die Kandidaten und
daß der Blick auf die Lösung für ihn eher
Bestätigung und nicht Offenbarung ist. Ganz anders beim
ehemaligen Schirennläufer, dessen Charme darin besteht,
daß er erst gar nicht versucht, so zu tun, als könne
er mit den Begriffen, die er abfragen muß, etwas anfangen.
Während Jauch eine pädagogische Autorität
simuliert, stellt Assinger den Lehrerkumpel dar, der kein Hehl daraus
macht, daß er auch nicht mehr weiß als seine
Schüler und deshalb gerne bereit ist, etwas von diesen zu
lernen.
Bei sehr leichten Fragen allerdings oder dort, wo es um Sport geht,
hilft der kumpelhafte Moderator dann auch schon einmal augenzwinkernd
einem verzweifelten Kandidaten über die ersten Hürden
hinweg. Jauchs Gesten der Bestürzung über die
geistige Immobilität mancher seiner Kandidaten lassen
demgegenüber keinen Zweifel über die intellektuelle
Differenz wischen ihm und seinem Gegenüber. Bei der richtigen
Beantwortung von schwierigen Fragen kann Jauch deshalb, weil selbst
Autorität, ein Lob riskieren, während Assinger,
Gleicher unter Gleichen, unverhohlen sein nahezu philosophisches
Erstaunen darüber zum Ausdruck bringt, was es in der Welt so
alles zu wissen gibt.
Formate wie die Millionenshow indizieren den Stand der Bildung auf der
Ebene der massenmedialen Unterhaltung: als eine Erscheinungsform der
Unbildung. Nicht, daß es an und in diesen Sendungen nichts zu
lernen gäbe; und fraglos etablieren solche Spiele gleichsam
propagandistisch die These, daß man nie genug wissen kann.
Und nicht zuletzt kokettieren diese Sendungen mit einer Urszene unserer
Kultur: der Rätselfrage, deren Beantwortung das weitere
Schicksal des Menschen entscheidet. Man bleibt dann auch vor allem
deshalb vor dem Bildschirm sitzen, weil es unerträglich ist,
solche Fragen unbeantwortet zu lassen. Aber das dabei aufgebotene
Wissen bleibt seinen eigenen Intentionen gegenüber
unverbindlich und zusammenhanglos, es ist schlechterdings
äußerlich geworden. Das mag einerseits an einem
Format liegen, das Wissen zum Gegenstand eines Fragespiels macht und
deshalb der Idee von Bildung so sehr entfremdet sein muß wie
jede andere Quizshow oder jedes Kreuzworträtsel auch. Das
liegt andererseits aber auch an Verhältnissen, die jede Idee
eines Zusammenhangs oder einer inneren Entfaltung eines Gedankens
sabotieren.
Theodor W. Adorno hatte einstens versucht, an der Ethik Spinozas zu
demonstrieren, was wahre Bildung sei: Es geht dabei nicht nur um die
Kenntnis oder Lektüre dieses Buches, sondern auch um jene
Cartesianische Philosophie und deren systematische und historische
Kontexte, ohne die Spinoza nicht angemessen verstanden werden kann.
Bildung, so könnte man sagen, ist der Anspruch auf
angemessenes Verstehen. Für den Halbgebildeten, dem
dafür die Voraussetzungen fehlen, wird Spinozas Ethik deshalb
zu einem Konvolut logisch nicht nachvollziehbarer Behauptungen, aus dem
er Einzelheiten gerade noch als erstarrtes Bildungsgut zitieren kann.
Solch ein Bildungsanspruch zerschellt vollends an einem Verfahren, das
bestenfalls noch danach fragt, ob die Ethica, ordine geometrico
demonstrata von Descartes, Spinoza, Kant oder Hobbes geschrieben wurde.
Das Problem besteht nicht darin, daß jemand, der Spinoza und
Descartes gelesen hätte, diese Frage nicht zu beantworten
wüßte; das Problem besteht darin, daß zu
einem Buch wie Spinozas Ethik unter dem Gesichtspunkt medialer
Enthusiasmierung keine andere Frage mehr gedacht werden kann als die
nach ihrem Autor. Was in Adornos Theorie der Halbbildung noch als ein
vergeblicher Aneignungsprozeß von Bildung durch solche
soziale Schichten, denen schlicht die materiellen
Möglichkeiten dazu vorenthalten wurden, kritisch
diagnostiziert wurde, mutiert in der Mediengesellschaft zu einem
individuellen Glück, das einen rechtzeitig daran erinnert, wer
ein bestimmtes Buch vielleicht geschrieben haben könnte.
Wissen wird so zu einem zwar nicht zentralen, aber auch nicht nur
peripheren Moment der Unterhaltungsindustrie. Jenseits der diversen
Ratespiele, bei denen es auch um Wissen geht, demonstrieren vielleicht
die Wissens- und Wissenschaftsmagazine der verschiedenen
Fernsehanstalten am deutlichsten, in welchen Formaten Wissen heute
einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert werden
kann. Auch wenn der Seriositätsgrad von Sendungen wie Galileo,
Newton oder Nano durchaus unterschiedlich bewertet werden kann,
läßt sich doch eine Maxime erkennen, die allen
zugrunde liegt: Zeige etwas Interessantes! Die Vielfalt der Themen, das
Springen zwischen den Gegenstandsbereichen, das Kokettieren mit dem
Sensationellen, Überraschenden, Verblüffenden, die
Lust an den spektakulären Entdeckungen und Innovationen
charakterisieren solches Wissen: vom Wilden Westen auf den
Mars,
vom Judasevangelium zur Funktionsweise von Geländebaggern, von
den Segnungen der Nahrungsmittelindustrie zum Totenkult der Etrusker.
Die Beliebigkeit des Wissens aus der Quizshow wiederholt sich, nun
allerdings als spannende, spektakuläre, je nach Jahreszeit
auch schon einmal besinnliche Story. Daß solche Beliebigkeit
des Wissens auch auf die Spitze getrieben noch einen eigenen Reiz hat,
zeigen nicht zuletzt Bestseller wie Schotts Sammelsurium, in dem
wahrlich alles Mögliche und Unmögliche, Sinnige und
Unsinnige aufgelistet wird, von den Todesarten burmesischer
Könige bis
zu
den Kindern von Thomas Mann.
Wissen unter diesen Bedingungen erscheint vor allem unter dem Aspekt
der Verblüffung: erstaunlich, was es alles gibt und wie die
Dinge funktionieren oder hergestellt werden. Die meisten
Wissenschaftssendungen sind deshalb auch in hohem Maße an
Technologien interessiert. Sie sind erfolgreich, weil darin
tatsächlich ein entscheidendes Motiv alles Wissens
angesprochen wird: die Neugier. Neugier, curiositas, gehörte
spätestens seit der frühen Neuzeit zu den
entscheidenden Triebfedern des Erkenntnisprozesses. Gleichzeitig war
sie immer dem Verdacht ausgesetzt, sich an das Beliebige, Einzelne,
Außergewöhnliche, Unnötige zu verlieren und
darüber die grundlegenden Zusammenhänge und
Wahrheiten zu übersehen. Ludwig Wittgenstein hat die
"oberflächliche Neugier auf die jüngsten
wissenschaftlichen Entdeckungen" einmal einen der "schnödesten
Wünsche des modernen Menschen" genannt. Kein
populäres Wissensmagazin, das nicht versuchte, diesen
schnöden Wunsch zu befriedigen.
Der Unterhaltungswert des Wissens, mit und ohne Nutzen, ist der
modernen Wissenskultur allerdings von Anfang an eingeschrieben. Im 17.
Jahrhundert standen die aufblühenden Wissenschaften und deren
Ergebnisse sogar ganz erheblich im Dienste einer geselligen
Unterhaltung, erfolgreiche Bücher wie Georg Philipp
Harsdörffers gattungsbildende
Frauenzimmer-Gesprächspiele (1641-1649) oder Johann Adam
Webers Hundert Quellen Der von allerhand Materien handelnden
Unterredungs-Kunst aus dem Jahre 1676 versuchten Handreichungen
für jene Kunst der Konversation zu geben, die
gleichermaßen gelehrt wie unterhaltsam, kurzweilig wie
bildend sein sollte. Es wäre eine Überlegung wert, in
der Konjunktur, die das unterhaltsame Wissen gegenwärtig
erlebt, nicht nur einen Tribut an die immanente Logik der
Mediengesellschaft zu sehen, sondern auch eine Rückkehr zu den
Wurzeln der sozialisierten Neugier der Moderne. Erst die Bildungsideen
der Aufklärung und des Neuhumanismus hatten versucht, das
Wissen vom Geruch des Kuriosen und Beliebigen zu befreien und aus einem
unterhaltsamen Gesellschaftsspiel eine Selbstverpflichtung des Menschen
zu machen, die Grundbedingung für das Verständnis der
Kultur und damit für die Entfaltungsmöglichkeiten des
modernen Subjekts sein sollte.
Unter den Voraussetzungen der Unterhaltungsindustrie und angesichts der
Unendlichkeit und Beliebigkeit des Wissens selbst, findet die
neuhumanistische Idee der Allgemeinbildung als verstehende Aneignung
der Grundlagen unserer Kultur kaum noch theoretische oder gar
curriculare Entsprechungen. Paradox immerhin, daß mit der
Austreibung der kanonischen Bildung aus den nur noch pro forma
sogenannten Gymnasien oder Allgemeinbildenden Schulen die Sehnsucht
nach ebendieser Bildung gewachsen ist. Ein Buch wie Dietrich
Schwanitz’ Bildung versprach dann auch, gerade diese
Sehnsucht nach den verlorenen Bildungsgütern und ihrer
Gewichtung zu befriedigen: Alles, was man wissen muß. Der
Untertitel des Buches suggeriert zweierlei: Was zur Bildung
gehört, ist weder beliebig noch unendlich, sondern
läßt sich auf wenigen hundert Seiten, durchaus
unterhaltsam, fixieren. Bildung ist mehr und anderes als eine Sammlung
von Kuriositäten oder ein zufälliger Ausschnitt aus
einer gerade vom Zeitgeist hochgespülten
Wissenschaftsdisziplin. In diesem Sinn ist Schwanitz’ Buch,
wenn auch mit ironischer Distanz, noch einem Bildungskonzept
verpflichtet, das Bildung als Aneignung der unverrückbaren
Fundamente der europäischen Kultur sehen wollte. Und diese
Fundamente sind weder beliebig noch unüberschaubar. Das, was
man tatsächlich wissen muß, kann man auch wissen -
es genügt, das genannte Buch zu lesen. Was aber, wollte man
irgendeiner Idee von Bildung genügen, muß man denn
tatsächlich wissen?
Wer behauptet, er wisse alles, was man wissen muß, wird nicht
lange warten müssen, um nachgewiesen zu bekommen,
daß er vieles, was man wissen müßte, nicht
weiß. Schwanitz hatte es seinen Kritikern insofern leicht
gemacht, als er sich der deutschen Tradition anschloß und die
Inhalte der Bildung im wesentlichen auf die Bereiche der Literatur, der
Historie, der Kultur- und Geistesgeschichte beschränkte. Der
Vorwurf, die andere Bildung, nämlich die der Mathematik und
Naturwissenschaften,
sträflich zu vernachlässigen,
folgte postwendend, auch wenn dem Versuch, das Schwanitzsche
Versäumnis in ähnlicher Manier zu kompensieren, nicht
der gleich große Erfolg beschieden war. Und
natürlich beging Schwanitz das moderne Sakrileg, Bildung aus
europäischer Perspektive zu definieren und nicht den
Außenstandpunkt der Opfer europäischer Politik
gegenüber der europäischen Kultur einzunehmen. In der
Tat gehört es zur Logik jeder Bildungsdebatte, daß
man jede These zur Frage, was man wissen muß, mit dem Hinweis
auf etwas, das auch noch dazu gehört, aushebeln kann. Der
Grundfehler bestand schon bei Schwanitz darin, das Wesen der
neuhumanistischen Bildungskonzeption mißverstanden zu haben.
Dieser war es nie darum gegangen festzuhalten, was man wissen
muß.
Die Frage, was man wissen muß, hat schon eine Zielvorstellung
im Blick, für die dieses Wissen einen funktionalen Wert hat.
Aber auch Schwanitz ist so desillusioniert, daß er
weiß, daß jenes unter dem Titel der Bildung noch
einmal versammelte Wissen mittlerweile weder den sozialen Aufstieg
garantiert noch die Berufschancen verbessert, sondern gerade einmal
ausreichen soll, um auf diversen Partys den Intellektuellen mimen zu
können. Auch bei Schwanitz regrediert Bildung zu jenem
Gesellschaftsspiel, dem sie vielleicht einmal entsprungen ist. Doch
sogar hier ließe sich die perennierende Frage stellen: Was
muß man wirklich wissen, um beim höheren
gesellschaftlichen Small talk zu brillieren, ohne als Besserwisser oder
Kuriositätensammler negativ aufzufallen?
Kaum eine Party im politisch interessierten Milieu, bei der nicht
irgendwann das Gespräch auf den Krieg im Irak, den Krieg gegen
den Terror, die Kriege der Zukunft und den Krieg im allgemeinen
zusteuerte. In diesem Zusammenhang ist es gut zu wissen, daß
das unvermeidlich fallende Wort vom Menschen als des Menschen Wolf auf
Thomas Hobbes zurückgeht. Soweit Schwanitz. Natürlich
macht es sich noch besser, zitiert man diesen Satz in lateinischer
Sprache - homo homini lupus -, aber das muß man schon nicht
mehr können, geht es nach jenen Bildungsexperten und
Reformern, die das Lateinische mittlerweile als generell verzichtbar
erachten. Und daß man diesen Satz nicht, wie Schwanitz
suggeriert, in Hobbes’ Hauptwerk Leviathan, sondern in einem
Widmungsschreiben zu seiner Abhandlung Vom Bürger findet,
muß man wohl nicht mehr wirklich wissen. Daß Hobbes
den Wolfs-Satz aber gar nicht erfunden hat, sondern daß er
ein verbreitetes lateinisches Doppelsprichwort zustimmend zitiert, das
sich in einschlägigen Sammlungen - etwa bei Erasmus von
Rotterdam oder John Owen - findet, könnte schon wieder
interessant sein, denn dieses lautet: "Der Mensch ist ein Gott
für den Menschen" und: "Der Mensch ist ein Wolf für
den Menschen." Als Einzelwesen wird der Mensch für
seinesgleichen zur Gefahr, im sozialen Verband aber zu seinem Segen.
Es ist diese Ambivalenz, die Doppelnatur des Menschen, die Hobbes
interessierte. Ob man dann noch wissen sollte, daß die
Wolfsformel in ihrer klassischen Prägung eigentlich aus der
Asinaria, der Eselskomödie des Plautus stammt, könnte
man offen lassen. Immerhin:
Arthur
Schopenhauer und
Sigmund
Freud, beide in bezug auf die Natur des Menschen ziemlich
illusionslos, zitieren diesen Satz, obgleich sie Hobbes
natürlich kannten, aus der Komödie des Plautus.
Daß dieser Satz allerdings schon bei Plautus den Charakter
einer verbürgten Redensart hatte und, so nebenbei, nicht den
mordenden oder räuberischen, sondern nur den unberechenbaren
Menschen meinte, das muß man allerdings wirklich nicht mehr
wissen.
Irgendwo zwischen der bedeutungsschwangeren Bemerkung "Tja, Hobbes!"
und der intimen Kenntnis der römischen
Komödiendichtung verläuft wohl die einstens
schillernde Grenze zwischen allgemeiner Bildung und purer
Gelehrsamkeit. Mit dem Verschwinden nicht nur des
Bildungsbürgers, sondern auch des Gelehrten als einer
spezifischen Erscheinungsform des neuzeitlichen Wissens hat diese
Grenze und die durch sie provozierte Spannung ihre Attraktion
eingebüßt.
Was also muß man wirklich wissen? Diese Frage wird nicht
leichter, wenn man weiß, daß man die Genese und
Geschichte der Homo-homini-lupus-Formel relativ einfach im Internet
recherchieren kann. Bei Party-Gesprächen macht es sich in der
Regel nicht so gut, wenn man sich mit seinem Hochleistungsmobiltelephon
in eine stille Ecke zurückzieht, das Web en miniature
durchforstet und nach geraumer Zeit in die Gesprächsrunde, die
schon längst bei der neuesten Aufführung des lokalen
Tanztheaters angelangt ist, mit der Neuigkeit hineinplatzt,
daß der Hobbes zugeschriebene finstere Satz über die
bestialische Natur des Menschen einer zwar derben, nichtsdestotrotz
aber eher fröhlichen antiken Komödie entstammt.
Gerade in solchen Situationen erweist sich der Satz, daß es
nicht auf gegenständliches Wissen, sondern nur darauf ankomme
zu wissen, wo man nachzuschauen hat, als trügerisches
Versprechen. Und auch wenn man weiß, wo und wie man Wissen
abrufen kann: Es wird immer nur ein lexikalisches Wissen sein
können, über das man in dieser
äußerlichen Form verfügen kann. Dort, wo es
um Sinn, um Bedeutung, um Zusammenhänge und um
Verständnis geht, wird solches Wissen nur dann weiterhelfen,
wenn mehr gewußt wird als die Pfade von Suchoptionen.
Aber vielleicht ist weniger sogar mehr. Vielleicht genügt es,
um in einem praktischen Sinn gebildet zu sein - Hobbes hin, Plautus her
-, einfach zu wissen, daß Menschen einander in der Regel auf
der Suche nach Vorteilen mißtrauisch belauern und
daß die Wettbewerbsgesellschaft diese wölfische
Attitüde zum gefeierten Prinzip erhoben hat. Wie auch immer:
Wer bei der großen Rateshow auf die Frage nach dem Autor des
Satzes, der den Menschen zum Wolf des Menschen erklärte,
zwischen Plautus, Hobbes, Schopenhauer und Freud richtig tippt, der
wird Millionär!