Hans Till (Hrsg.): "Vorwärts, ihr Kampfschildkröten"
Gedichte aus der Ukraine
Ukraine
poetisch
Dies ist der 18. Band der Reihe "Poesie der Nachbarn", in der jeweils
die zeitgenössische Dichtung eines europäischen
Landes im Original und in deutscher Übersetzung vorgestellt
wird. Wie repräsentativ solch eine Auswahl
tatsächlich ist, muss man dem Gespür der jeweiligen
Herausgeber überlassen. Im vorliegenden Band geht es um
Gedichte aus der Ukraine, dazwischen lesen wir sechs Collagen-Texte von
Herta Müller,
die aus Fragmenten der Interlinearversionen im Dialog mit den Dichtern
entstanden sind. Vorgestellt werden ukrainische Dichterinnen und
Dichter aus unterschiedlichen Regionen und Generationen. Der
historische Zufall wollte es, dass durch die sogenannte Orangene
Revolution die Ukraine plötzlich mehr Aufmerksamkeit erhalten
hat als jemals zuvor - freilich gibt es da auch noch den 20. Jahrestag
der Atomkraftwerkskatastrophe von Tschernobyl.
Die vorliegenden Texte sind frech, grotesk, empfindsam, und obwohl sie
nichts mit Agitprop zu tun haben, wirken sie wie Befreiungsversuche. Es
ist durchaus auch eine Dichtung der sprachlichen und demokratischen
Grenzüberschreitung, eher an der Ironie als am Idealismus
orientiert.
Im "Anhang" bezeichnet Stefaniya Ptashnyk die Literaturgeschichte der
Ukraine als ein "großes Martyrologium der Ermordeten" -
während der stalinistischen Säuberungen "ermordete
man eine ganze Generation exzellenter ukrainischer Schriftsteller";
nach dem Zweiten Weltkrieg gingen viele Überlebende ins Exil.
Heute gibt es in der ukrainischen Dichtung ebenso traditionelle
Ströungen wie avantgardistische Tendenzen. Man könnte
sich natürlich fragen, inwiefern Zeilen wie "Meine Pisse,
eingeflogen aus Berlin / übergab ich endlich in
München, am / Bahnhof, dem Urinoir" oder "Wir rannten ans Ufer
und schütteten / den kroatischen Slivovic in unser Inneres"
dem Fortschritt der ukrainischen Literaturentwicklung dienlich
sind - neben der politischen Freiheit muss eben auch das
künstlerische Niveau immer wieder neu definiert und erarbeitet
werden.
An Autoren sind dabei etwa
Jurij
Andruchowytsch, Andrij Bondar sowie
Serhij Zhandan - als
Übersetzer waren z.B. tätig Michael Donhauser,
Oskar Pastior und
Joachim Sartorius.
Manchmal werden auch recht unterschiedliche
Übersetzungsvarianten angeboten: "Barfuß trabendes
Doppelbettroß / mit Rhythmus in den Fingern" (Thill) versus
"Ein zweischläfriges Pferd das barfuß läuft
und mit / den Fingern dabei regelmäßig scharrt"
(Pastior). Auf jeden Fall ein interessantes Projekt - auch wenn man nur
Deutsch versteht - die Themen und Ausdrucksformen sind variantenreich
und herausfordernd.
(KS; 05/2006)
Hans
Till (Hrsg.): "Vorwärts, ihr Kampfschildkröten"
Wunderhorn Verlag, 2006. 188 Seiten.
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