Ahmet Ümit: "Nacht und Nebel"
Aus der Türkischen Bibliothek
Ein ehemaliger Terrorist schreibt über den Geheimdienst
Ahmet Ümit war in jungen Jahren Teil des Untergrunds, der mit
terroristischen Mitteln versuchte, den vom Militär unmenschlich
geführten Staat zu stürzen. Noch während das verhasste Regime in Amt
und Würden war, kehrte Ümit jedoch dem Untergrund den Rücken und
stürzte sich auf das Schreiben von Büchern; damit meinte er mehr
erreichen zu können. Inzwischen wurde er zu einem beliebten Autor
türkischer Gegenwarts(unterhaltungs)literatur.
Sedat ist Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes und der Icherzähler
dieses Romans. Er wurde gerade von einem als Terroristen bekannten Mann
angeschossen, der gleichzeitig auch der neue Freund seiner Exgeliebten
war, die vor einigen Tagen spurlos verschwand. Kaum aus dem Krankenhaus
entlassen, macht sich Sedat auf die Suche nach dem Mädchen und dem
Komplizen des bei dem Feuergefecht erschossenen Terroristen. Ohne die
Spannung zu gefährden, darf man hier ruhig sagen, dass das Ende dieses
Romans eine Auflösung bietet, die einer herausragenden Fantasie des
Autors bedurfte und dennoch nicht unglaubwürdig wirkt. Auch ohne
besonders viel Fantasie zu haben wird jedoch sehr schnell klar, dass
dieser Roman deutlich autobiografische Züge trägt - insbesondere, wenn
man die im Nachwort beschriebene Biografie des Autors daneben legt -
oder wie ich bereits vor dem eigentlichen Werk liest. So viel sei
gesagt: Im Nachwort werden keine Geheimnisse verraten, die den Spaß
verderben würden.
Das Werk ist in der Gegenwart geschrieben, womit ich anfangs - wie üblich -
so meine Probleme hatte. Nachdem ich mich allerdings daran gewöhnt hatte, konnte
ich mich an Sprache und Stil wirklich erfreuen. Die Charaktere sind sehr schön
herausgearbeitet und insbesondere der Protagonist macht eine sehr glaubwürdige
Entwicklung durch. Auch die Übersetzung kann über weite Strecken überzeugen
und ist wirklich großartig gelungen; einzig die Tatsache, dass der Protagonist
Patronen in die Waffe steckt, anstatt diese einfach zu laden, hat mich etwas
erschreckt.
Insgesamt also ein wirklich gutes Buch an der Grenze zwischen
Persönlichkeitsstudie und Krimi, das Lust auf weitere Bücher dieses
Autors im Speziellen und der
türkischen Gegenwartsliteratur im Allgemeinen macht.
(Reinhold Stansich; 09/2005)
Ahmet Ümit: "Nacht und Nebel"
(Originaltitel "Sis ve Gece")
Aus dem Türkischen und mit einem Nachwort von Wolfgang Scharlipp.
Unionsverlag, 2005. 368 Seiten.
ISBN 3-293-10002-3.
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Ahmet Ümit, 1960 in Gaziantep im
Südosten der
Türkei geboren, schloss 1983 das Studium der Verwaltungslehre in
Istanbul ab und schrieb im gleichen Jahr seine erste Erzählung. Von 1974 bis
1989 beteiligte er sich an Untergrundaktionen. Von 1989 bis 1998 arbeitete er
in einer Werbeagentur, derzeit ist er als Kulturberater am Goethe-Institut in
Istanbul tätig. Er gilt als der Autor, der für die Türkei den Kriminalroman
literaturfähig gemacht hat. Viele seiner Erzählungen wurden verfilmt. Neben
Romanen, Gedichten, zahlreichen Kurzgeschichten und einem Märchen schrieb er
auch Essays über u.a. Kafka,
Dostojewski, Highsmith und
Poe.
Die Türkische Bibliothek, herausgegeben von Erika Glassen und Jens Peter Laut,
ist eine Initiative der Robert Bosch Stiftung. Sie präsentiert Meilensteine der
türkischen Literatur von 1900 an bis in die unmittelbare Gegenwart. Ob Roman,
Autobiografie, Kurzgeschichten, Gedichte, Essays - das Schwergewicht liegt auf
Werken, die trotz ihrer Bedeutung der deutschsprachigen Leserschaft noch nie zugänglich
gemacht wurden. Jeder Band enthält ein informatives Nachwort, Worterklärungen
sowie eine Autorenbiografie.
Zwei weitere Bücher aus dieser Reihe des Unionsverlags:
Leyla Erbil: "Eine seltsame Frau"
Die neunzehnjährige Studentin Nermin erfährt am eigenen Leib, was es bedeutet,
erwachsen zu werden in einer Gesellschaft, die ihr ein traditionelles Frauenbild
entgegenhält. Die Mutter keift, wenn sie zu spät nach Hause kommt, und
verlangt Keuschheit bis zur Hochzeit. Also muss sie lügen und sich verstecken,
wenn sie, wie all ihre Freundinnen, zu den Tanzpartys geht, sich verliebt,
Liebeserklärungen entgegennimmt und abwehrt. Die Erkundung ihres Ichs geht
einher mit der Erforschung der Stadt. In den Istanbuler Cafés und
Künstlerkneipen sucht sie Inspiration und Offenheit. Doch die etablierten
Literaten verweigern ihr als Frau die intellektuelle Anerkennung. Sie schließt
sich den linken Gruppen an. Bald spürt sie jedoch, dass die Hinwendung zum "Volk"
abstrakt, einengend und trügerisch ist. Aber Nermin gibt die Hoffnung auf eine
humanere Welt nicht auf.
Dieser Erstling brach durch seine offene Form und seine skandalöse
Respektlosigkeit alle Tabus und wurde zum Skandal - aber auch zum Aufbruch der
modernen Frauenliteratur in der Türkei.
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"Von Istanbul nach
Hakkari. Eine Rundreise in Geschichten"
Mehr als dreißig Erzählungen von namhaften Autorinnen und Autoren aller
Generationen führen vom Mittelmeer bis in die Berge Ostanatoliens. Ein
literarischer Reisebegleiter durch die Vielfalt von Völkerschaften,
Lebensformen und Landschaften.
Ein alter Mann kehrt in seine Heimat zurück, weil er das Leben der Nomaden
wieder spüren möchte. Eine Frau verdammt ihren Mann, als der mit ihren
Ersparnissen durchbrennt. Ein Dichter betritt das Fotostudio, Mülldeponien geben
ihre Geheimnisse preis. Auf Küsten mit mediterranem Zauber, wo aberwitzige
Wellen aus Flaschen ausbrechen und eine Stadt überfluten, folgen raue
Landstriche im Osten des Landes, wo Schneemassen einen Träger und einen
Tierarzt unter sich begraben. Menschen erzählen von der Liebe und ihrer
Sehnsucht nach der Familie, nach einem besseren Leben.
Die Geschichten sind so gegensätzlich und vielfältig wie dieses Land selbst.
In einer literarischen Rundreise führen uns Autoren von der schillernden
Metropole Istanbul in die Welt der ägäischen Mittelmeerwinde, in die jüngere
Vergangenheit und Gegenwart ihres Landes.
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