Peter Truschner: "Schlangenkind"
Von bestialischer Unschuld und greifbarer Ferne
"Schlangenkind"
ist das Erstlingswerk des 1967 in Klagenfurt geborenen Schriftstellers.
Peter Truschner hat in Salzburg studiert und lebt heute in Berlin.
Aber
was ist ein "Schlangenkind"? Schlangenbrut schlüpft nicht bei
allen Arten aus Eiern, viele sind lebendgebärend. Brutpflege
ist weitgehend unüblich, lediglich bei wenigen Schlangenarten
kümmert sich das weibliche Tier nach der Eiablage weiter um
das Gelege. Schlangen,
die sich durch die Schale ins Freie kämpfen müssen,
bewerkstelligen diese Aufgabe mithilfe eines Eizahnes, mit dem sie die
Eischale aufritzen können.
Bei Peter Truschner ist der Erzähler das "Schlangenkind": "Ich
fühlte mich wie ein Neugeborenes, rot im Gesicht und nach
Leben japsend. Mit meinem Schweiß war auch der Lebenskampf
meiner Mutter endgültig von mir abgetropft, jene unfruchtbare
Blase, die bei meiner Geburt offenbar übersehen und nicht
entfernt worden war." So lauten die Schlusssätze - und ist
nicht jedes Ende ein Anfang, eine "Geburt" im weitesten Sinne?
Die Geschichte: Im Rückblick erzählt werden
Begebenheiten aus der Kindheit und Pubertät des
Ich-Erzählers, dessen Mutter ihn nach der Scheidung vom
Kindesvater (der als "Erzeuger" bezeichnet wird und, so viel sei an
dieser Stelle verraten, insgesamt nicht gut wegkommt) bei ihren Eltern
auf einem verfallenden Anwesen in Poppichl/Kärnten in
ärmlichen Verhältnissen "deponiert" und selbst nach
Salzburg zieht, wo sie in einer Anwaltskanzlei arbeitet, sich als
Gespielin gutsituierter Verehrer aushalten lässt und die -
ihrer Meinung nach beschämende - Herkunft zu
verdrängen sucht. Der Sohn wächst gleichsam als
menschlicher Katalysator im spannungsgeladenen Beziehungsraum zwischen
seiner sorgsamen, liebevollen Großmutter und seinem
Großvater, einem verschlossenen, spielsüchtigen
Trunkenbold, heran. Auf dem Hof der Großeltern erlebt er den
ländlichen Alltag fernab großstadtüblichen
Trubels: Abenteuer in Wäldern, Feldern, mit Freunden und dem
wortkargen Großvater, mit dem ihn trotz allem eine gewisse
Wesensverwandtschaft verbindet.
Eines Tages
nimmt
ihn seine Mutter mit nach Salzburg - ein neuer
Lebensabschnitt beginnt. Die Nachmittage verbringt er in der ersten
Zeit bei Fini, einer Tagesmutter, deren Toleranzgrenzen er mit
beharrlichem Trotz zu erweitern weiß.
Mutter und Sohn müssen sich der schwierigen Aufgabe stellen,
mit- und nicht nur nebeneinander zu leben und einander kennen- und
verstehen zu lernen. Nach und nach finden die beiden einen Weg der
Koexistenz in turbulenten Zeiten; die Mutter verliebt sich, wird
abermals enttäuscht, ändert ihren Lebensstil nach
ihrem vierzigsten Geburtstag grundlegend und sträubt sich
nicht länger dagegen, positive Gefühle für
Heimat und Natur zu empfinden. Mutter und Sohn tauschen nicht nur die
Zimmer, sondern in gewisser Weise Schritt für Schritt die
Rollen. Der Vater des Ich-Erzählers erkrankt unheilbar und
wird nach der Beschreibung eines Treffens nicht mehr erwähnt.
Da Jugenderinnerungen im allgemeinen häufig Erlebnisse aus dem
Dunstkreis der
Erforschung der Sexualität beinhalten, sind die
betreffenden Kapitel in "Schlangenkind" recht unterhaltsam.
(Beispielsweise jene Episode, in welcher der Ich-Erzähler
sein, anhand eines Buches seiner Mutter - "Wie man einen Mann
aufreißt" - erworbenes theoretisches Wissen über die
Technik des Oralverkehrs an einem weiblichen "Wanderpokal" erprobt und
damit erstaunlichen Erfolg hat.)
Peter Truschner beobachtet ganz genau, malt Stilleben mit Worten, und
verleiht den, nur zum Teil autobiografischen Details Stimmen und
Gestalten. Es ist nicht außergewöhnlich, was
die Hauptfigur in "Schlangenkind" erlebt, sondern in welcher Weise die
Erlebnisse rückblickend dargestellt werden: nüchtern,
ohne zu verklären, chronologisch, frei von
Selbsttäuschung und -mitleid, ohne therapeutisch zu
analysieren oder den Geschehnissen weitergehende Bedeutung
aufzubürden.
Die Beziehungen des Erzählers zu seinen
Verwandten und Freunden werden sehr genau ausgearbeitet, die Charaktere
gewinnen zügig an Profil und sind durchwegs glaubhaft
gezeichnet. Ein auffallend häufig eingesetztes Stilmittel sind
illustrierende Vergleiche, deren geballtes Auftreten wohl Absicht sein
muss. Da baumelt ein Leben wie ein Schlüssel an seinem Bund,
zirkuliert Blut wie Sirup durch den Körper, verkrallen sich
Menschen ineinander wie desorientierte
Fledermäuse,
hängt ein Kampfanzug herab wie eine Schiffsflagge
während einer Flaute. Da bewegt sich ein nackter Hintern wie
eine am Boden kriechende Raupe, haben Hände Falten wie von
einem Messer zerschnitten, schwappt jemand wie Wasser ins Zimmer,
durchlöchern Schneeflocken den Nachthimmel wie weiße
Patronen, breitet sich Macht wie Krätze in
Gesichtszügen aus, will Fini das Baby im Erzähler wie
eine Kerze in einer Laterne sehen, dieser blüht in einer
Umarmung auf wie Schimmel an feuchten Wänden, lässt
seine Unarten wie Bettwäsche aus dem Fenster hängen,
bringt die ernsten Mienen der Menschen wie ein Zauberstab zum Leuchten,
und so weiter und so fort.
Diese Auflistung erhebt keinerlei Anspruch
auf Vollständigkeit, gibt jedoch einen durchaus
repräsentativen Überblick über Art und
Präsenz der vielen
"wie".
(Felix; 09/2001)
Peter Truschner:
"Schlangenkind"
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2001. 175 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Taschenbuch:
dtv, 2004. 176 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen