Richard Fortey: "Trilobiten!"

Fossilien erzählen die Geschichte der Erde


"Ich vermeine beinahe das Kitzeln der Beine zu spüren, die über meine Handfläche kriechen, ich sehe das lebende Tier vor mir, wie es durch die Meere des Ordoviziums krabbelt." (Richard Fortey)

Im Erdaltertum gehörten die Trilobiten zu den häufigsten Lebewesen. Sie erschienen kurz nach der sogenannten "Explosion des Lebens" im Kambrium (vor etwa 545 Millionen Jahren) auf der Bildfläche, bevölkerten in beeindruckender Vielfalt die Meere und starben schließlich gegen Ende des Perms (vor rund 250 Millionen Jahren) aus.
Der Buchtitel "Trilobit! Augenzeuge der Evolution", wie er verheißungsvoll im Original lautet, ist ein echter Blickfang, der auf Anhieb neugierig macht, keineswegs zu viel verspricht und sozusagen im selben Atemzug bereits Richard Forteys mitreißende Begeisterung für Trilobiten, welche das Antlitz der Erde - man lese und staune - doppelt so lange wie die (noch!) weitaus populäreren Dinosaurier zierten, zum Ausdruck bringt.

Welches Sachbuch schmückt sich schon im Titel mit einem kecken Rufzeichen? Dass der Originaltitel sowohl in Bezug auf die einzigartigen Sehorgane der Trilobiten, als auch auf die Ehrfurcht gebietend lange Existenzspanne dieser Wesen trefflich gewählt ist, wird spätestens während der Lektüre des den Trilobitenaugen gewidmeten Kapitels klar. Demgegenüber lässt der etwas blass wirkende deutsche Untertitel, "Fossilien erzählen die Geschichte der Erde", im Wortsinn Einsicht vermissen.
Trilobiten beschritten nämlich auf dem Pfad der Geschichte des Sehvermögens einen gänzlich eigenständigen Weg (Hunderte von Kalzitprismen als Augenlinsen!), sie waren überhaupt die ersten Tiere, die hochentwickelte Augen besaßen, wenngleich es in ihren Reihen auch blinde Tiefseebewohner und Schlammwühler gab.

Eine "erste Liebe" mit Folgen ...
"Die Entdeckung", das Eingangskapitel, erweist sich aufgrund eher ungewöhnlich weit ausholender Betrachtungen möglicherweise als Prüfstein für die Geduld des einen oder anderen Lesers, doch Hektik wäre bei Trilobiten ohnedies fehl am Platz, und bald öffnet sich dem Interessierten - Richard Forteys schwungvollem Fabuliertalent, bereits unter Beweis gestellt mit "Leben. Eine Biografie", sei Dank - eine faszinierende Welt. Ohne Umschweife bekennt der Autor, eine weltweit anerkannte Kapazität auf dem Gebiet der Paläontologie: "Wenn es Liebe auf den ersten Blick gibt, dann verliebte ich mich im Alter von vierzehn Jahren in Trilobiten."
Wie es geschah? Als Jugendlicher stieß der in Wales schürfende Fortey auf ein Exemplar der Spezies Paradoxides. Er hatte nicht "nur" ein Fossil, sondern zugleich seine Berufung gefunden - oder auch sie ihn ...

Zunächst ist von Interesse, was "Trilobit" eigentlich bedeutet und wie sich diese Namensgebung erklärt:
Trilobiten, von dem Forscher Dr. Lhwyd im 17. Jahrhundert noch als "Skelette von Plattfischen" bezeichnet, sorgten nach der Entdeckung, dass es sich bei den versteinerten Überresten jener Lebensformen, die aufgrund ihres Aussehens "Dreilapper" ("Trilobiten" eben) genannt werden, um eine den Menschen bis dahin unbekannte Tiergruppe handelte, für einiges Aufsehen, und auch die in solchen Fällen üblichen Wortgefechte, Intrigen und Neidbekundungen unter Forscherkollegen sollten in weiterer Folge nicht ausbleiben.

Der ideale "Vorzeigetrilobit" verfügt über Cephalon (Kopf), Thorax (Rumpf) und Pygidium (Schwanz). Betrachtet man das Tier der Länge nach, lauten die korrekten Bezeichnungen für die Abschnitte: Achse (Mittellappen) und Pleuren (Seitenlappen).
Schützende Exoskelette umhüllten die beständigen Meeresbewohner von Format; sie mussten sich folglich häuten, um zu wachsen! Und sie waren Arthropoden (Gliederfüßer).
Man wird schwerlich eine griffigere Erklärung für "Gliederfüßer" finden als jene Richard Forteys:
"Insekten, Crustaceen, Spinnen, Tausendfüßer - alle sind sie aus miteinander verbundenen, gegliederten Segmenten aufgebaut. Und noch etwas ist ihnen allen gemeinsam: Ihre Beine sind gelenkig miteinander verbunden. Auf den ersten Blick mag es nicht so einfach sein, die Ähnlichkeiten zwischen den Beinen einer Fliege und denen eines Hummers zu erkennen. Sie sind jedoch auf ähnliche Weise über Gelenke verbunden, und zwar so, dass jedes Gelenk gegen das benachbarte Glied verdreht werden kann, und zwar in einer vorgegebenen Art und Weise, die sich ganz nach seiner Aufhängung richtet. Diese Beine erinnern an diese gelenkig verbundenen Leselampen, deren Beweglichkeit derart beschränkt ist, dass sie einen leicht zur Raserei bringt: Man entdeckt rasch, dass sie sich nur in bestimmter Weise drehen lassen; trotzdem ist es möglich, ihr Licht in alle möglichen Ecken zu lenken, sobald man das mit den Gelenkverbindungen einmal im Griff hat. Man bekommt eine Vorstellung von der Bandbreite der möglichen Bewegungen, wenn man einen Hummer umdreht, der sich wehrt - die Beine stoßen mechanisch nach innen und außen. Beobachtet man einen auf den Rücken gefallenen Käfer, der mit den Beinen strampelt, ist die Ähnlichkeit offensichtlich. Das gesamte Fleisch dieser Tiere befindet sich in den Beinen. Muskeln ziehen sich zusammen, um diese Bewegungen um die Gelenke hervorzurufen. Sie richten sich selbst anhand der Schuhriemen in ihrem Inneren auf. Tiere mit solchen Beinen bezeichnet man als Arthropoden, und es besteht kein Zweifel, dass Trilobiten eine andere Art von Arthropoden waren. Wenn sie überlebt hätten, wären sie neben Skorpionen, Krabben, Schmetterlingen, Käfern und Wanzen ein weiteres Beispiel für diesen verschiedenartigsten und variantenreichsten aller Tierbaupläne."

Heutzutage empfindet man diese Ausführungen unter Umständen als mehr oder minder selbstverständlich, allerdings mussten nicht wenige Gesteinsbrocken von kundigen Händen behutsam aufgeklopft werden, bis endlich Charles Doolittle Walcott im Jahr 1876 das Geheimnis lüftete und den einstigen Meeresbewohnern "unter die Panzer und Schilde" lugen konnte, was Gewissheit hinsichtlich Lage und Aussehen der nur unter besonderen Bedingungen in Abdrücken bzw. Versteinerungen sichtbar gebliebenen Gliedmaßen brachte. Heute lebenden Asseln ähnlich, rollten sich Trilobiten bei Gefahr ein, wodurch sie, so die Bedingungen günstig waren, zu "Zeitkapseln" wurden, die den Augenblick der Bedrohung für die Ewigkeit konservieren.

In schier unerschöpflicher Vielfalt brachte die Evolution bizarr anmutende Trilobitengestalten mit langen Stacheln ebenso wie solche mit perfekter Stromlinienform hervor. Manche Trilobiten waren verhältnismäßig glatt, andere gefurcht, alle waren sie den jeweiligen Gegebenheiten ihres speziellen Lebensraumes hervorragend angepasst: jede ökologische Nische der Meere wurde von Trilobiten besetzt.
Unter den Trilobiten gab es Winzlinge, die ausgewachsen etwa einen Millimeter lang waren, und wuchtigere Kaliber von mehr als 70 Zentimetern Länge, wie nachstehender Artikel (nicht dem rezensierten Buch entnommen) dokumentiert:
"Kanadische Paläontologen haben einen 72 cm langen Trilobiten entdeckt, der zwei Mal die Länge des zuletzt entdeckten Fundes misst. Das rund 445 Millionen Jahre alte Exemplar wurde während Untersuchungen der antiken tropischen Küste in der Nähe von Manitoba entdeckt, wie die BBC berichtet. Bei der Ausgrabung entdeckten die Forscher nur den Rückenteil des Schwanzschildes, während der größte Teil des Außenskeletts noch verborgen lag. (...) Die Forscher gehen davon aus, dass die Größe des Trilobiten der bisherigen Meinung, dass größere Tiere gewöhnlich in kälteren Klimaten vorkommen, widerspreche. Obwohl im Norden Manitobas heute subarktisches Klima herrscht, könnte das Gebiet vor Millionen Jahren von Salzwasser aus dem Äquatorgebiet überschwemmt worden sein, so Bob Elias, Forscher an der Universität Manitoba." (Quelle: nano online; 12.10.2000)

Die Welt unserer Tage kennt übrigens keine direkten Nachfahren der Trilobiten, Fortey bezeichnet die heutigen Krebse als "entfernte Vettern". Limulus polyphemus, der Pfeilschwanzkrebs, auch Schwertschwanz genannt, gilt nach heutigem Wissensstand als nächster lebender Verwandter der Trilobiten.

Wie zuvor erwähnt, bevölkerten Scharen höchst unterschiedlich aussehender Trilobiten viele Jahrmillionen lang die Ozeane. Ein Umstand, der sie zu sogenannten Leitfossilien macht, anhand derer der Kundige erkennen kann, aus welcher erdgeschichtlichen Epoche die jeweils untersuchte Gesteinsschicht stammt. Überdies ermöglichte es die genaue Kenntnis von inzwischen weit auseinander liegenden Fundorten bestimmter Trilobiten, Karten der Erdoberfläche zu erstellen, wie sie z. B. im Ordovizium ausgesehen hat (Stichwort: Kontinentalverschiebung). Auch für paläoökologische Aussagen sind Trilobiten von Bedeutung.

Richard Fortey vermittelt Allgemeinbildung auf hohem Niveau und tut dies auf überaus abwechslungsreiche Art. Berührungsängste mit anderen Wissenschaftsdisziplinen sind ihm fremd, und wenn er einmal für eine Überschwemmung in einem Labor verantwortlich ist, dann nur, weil er erstens mit technischer Gerätschaft tendenziell auf Kriegsfuß zu stehen scheint und zweitens in bester Absicht die Stromlinienform eines Trilobitenmodells in einem Bassin einer seriösen Prüfung unterziehen will ...
Abseits derartiger Wagnisse unternimmt man mit Richard Fortey, der am berühmten Natural History Museum in London arbeitet und Mitglied der Royal Society ist, ebenso unterhaltsame wie informative Abstecher in die Welt der Chemie, der Physik, der Genetik, der Geologie, usw., wie überhaupt mit Fug und Recht gesagt werden kann, dass das Buch eine glückliche Kombination von Informationsgehalt und Leselust bietet, wodurch niemals auch nur ein Hauch von Langeweile aufkommt.

"Trilobiten!" wartet mit einer reichen Fülle an Fakten auf, deren erschöpfende Darstellung unweigerlich den Rahmen dieser Rezension sprengen würde. Deshalb sei an dieser Stelle nur noch kurz erwähnt, was den Leser erwartet: ausführliche Informationen über bahnbrechende Entdeckungen, darüber, wie Tiernamen vergeben werden, über komische und tragische Forscherschicksale, über Theorien im Wandel der Zeit, über die Fortpflanzung der Trilobiten und ihre Wachstumsstadien, Blicke hinter die Kulissen altehrwürdiger Museen, Exkurse zum Thema "Benimmregeln unter konkurrierenden Forschern", kuriose Anekdoten zuhauf u.v.m.!
Und natürlich laden zahlreiche elegante Schwarzweißabbildungen prächtiger Fossilien zum Verweilen und Staunen ein.

Es bleibt also noch viel Interessantes zu entdecken, und zwar sowohl für all jene, die im Schweiße ihres Angesichts den Geologenhammer im Zeichen der Forschung schwingen als auch für jene, die zwar nur im kleinen Maßstab "Augenzeugen der Evolution" sind, jedoch quasi in den Fußstapfen von Richard Forteys Ausführungen durch die Jahrmillionen wandeln.

(kre; 08/2004)


Richard Fortey: "Trilobiten! Fossilien erzählen die Geschichte der Erde"
(Originaltitel "Trilobite! Eyewitness to Evolution")
Aus dem Englischen von Kurt Beginnen und Sigrid Kuntz.
Gebundene Ausgabe:
C. H. Beck, 2002. 275 Seiten.
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Taschenbuch:
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Leseprobe:

1972 kehrte ich nach Spitzbergen zurück. Die Trilobitenfunde, die ich bearbeitet hatte, hatten sich als so aufregend erwiesen, dass die norwegische Regierung bereit war, eine groß angelegte Expedition zum entlegenen nördlichen Teil der Insel zu finanzieren, um noch mehr Material zu sammeln und die verbliebenen Untersuchungslücken zu schließen. Das war im Vergleich zu meinem früheren Besuch ein imposantes Unternehmen; damals waren wir nur zu zweit gewesen, dazu ein Zelt, ein kleines Boot und so viel Haferbrei, wie wir essen konnten. Das abgelegene Ufer sah bei meiner Rückkehr noch genauso öde aus, eine endlose Gerade aus Kieseln, über die ein unbarmherziger Wind hinwegfegte. Ich erkannte das Schmelzwasser wieder, das aus dem großen Gletscher stammte, der die Mitte dieses Teiles der Insel einnahm. Zuvor hatten wir neben ihm gezeltet. Küstenseeschwalben kreischten uns einen hysterischen Willkommensgruß entgegen. Diesmal waren wir eine Gruppe von etwa acht Leuten, und uns stand ein recht großes Zelt, fast ein Festzelt, zur Verfügung, in dem wir die gemeinsamen Abende verbringen und die Schneestürme aussitzen konnten. Es konnte wunderbar warm und mollig aufgeheizt werden. Vom Dach hingen Schinkenspeckseiten sowie faszinierende Salamis herunter. Als weiteren Luxus gab es ein ausgeklügeltes Radiosystem sowie einen Funkamateur, der es bediente. Wir konnten am Abend an einem aufgebockten Tisch sitzen und die Art von Frotzeleien austauschen, die eine Expedition auf Trab hält. Ab und zu erhitzen sich immer mal wieder die Gemüter, und die Nerven lagen blank. Ich bemühte mich sehr darum, mit allen auf gutem Fuß zu stehen.

Zu uns gehörte noch ein freundlicher Professor: Gunnar Henningsmoen aus Oslo, der sich hinsichtlich seines Großmuts im Denken vielleicht als Einziger mit Whittington messen konnte. Er leitete unser Abendessen mit einer nie versiegenden guten Laune. Ich teilte mein kleines Zelt mit David Bruton, dem einzigen Engländer außer mir. Er hatte sich seit langem in Norwegen niedergelassen und genoss es, mit allen anderen Norwegisch zu sprechen. Aufgrund unseres unzeitgemäßen Chauvinismus bestanden wir beide darauf, vor unserem Zelt den Union Jack wehen zu lassen, der sich dann in den nächsten Wochen langsam in seine Bestandteile auflöste, bis er vollkommen in Fetzen hing - so viel zur britischen Präsenz. Die sonderbarste Erfahrung für einen Fremden wie mich war, dass ich bei einem Witz, der am Esstisch die Runde machte, nicht mitlachen konnte. Denn solche Witze kann man nicht übersetzen; sie sind sowieso aus dem Augenblick heraus geboren und verlieren, wenn sie für eine Erklärung wiederholt werden müssen. Man sitzt da mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen in der Hoffnung, ein wenig Sinn für Humor zu zeigen, auch wenn man nicht die geringste Ahnung hat, worüber die Anderen alle lachen. (Man hofft natürlich, dass es kein Scherz über einen selbst ist, aber man würde mit demselben dümmlich-albernen Grinsen dasitzen, wenn es so wäre.) In einer Art von Osmose drangen dennoch kleine Bruchstücke aus dem Norwegischen in mein Ohr. Am meisten überraschte mich hierbei die sprachwissenschaftliche Erkenntnis, wie arm diese Sprache an Flüchen war. Tatsächlich gibt es lediglich ein Schimpfwort - "farn" -, das nur so etwas wie "Hol's der Teufel" bedeutet, aber von einem wohlerzogenen Wikinger für sehr unanständig gehalten wird. Es muss für fast alle Tragödien herhalten, die einer Expedition zustoßen können. Wenn man mit dem Hammer aus Versehen seinen Finger trifft, dann springt man auf und ab und schreit "farn"; wenn man eine außergewöhnliche Versteinerung ein für alle Mal ins Meer fallen gelassen hat, dann zischt man eine Weile vor sich hin, ehe man schließlich leise "farn" vor sich hin brummelt. Würden alle Vorräte von einem Orkan weggeweht, könnten die armen Norweger mit dem sicheren Tod vor Augen allesamt nur auf dem Kieselstrand stehen und "farn" in den Wind schreien. Irgendwie scheint mir das für diese Gelegenheit nicht angemessen zu sein.

Wir sammelten Schachteln über Schachteln voll Trilobiten. Früher oder später würden sie sich als Untersuchungsobjekte unter meinem Binokular wiederfinden, das zu Hause auf mich wartete. Die so weit zurückliegende Zeit, in der die Gesteine, die meine Trilobiten umschlossen haben, abgelagert wurden, war mein ganz persönlicher, kleiner, etwa zehn Millionen Jahre umfassender Ausschnitt der Erdgeschichte. In dieser Zeit konnte ich im Geiste so sicher und bequem umherwandern, wie ein Historiker vielleicht zwischen den Tudors und Stuarts herumspaziert. Ich konnte die verschiedenen Teile der Trilobiten schneller zusammenfügen als irgendein Anderer: das Cranidium passte zu den Freiwangen, das Pygidium zum Cranidium. Ab und zu stieß mal jemand auf ein vollständiges Exemplar; das kam einem so vor, als hätte man plötzlich den Deckel mit dem Muster des Puzzles gefunden. Dann standen die eigenen früheren Überlegungen, was wohin gehört, auf dem Prüfstand. Ich entdeckte einen außergewöhnlichen, glotzäugigen Trilobiten, den ich Opipeuter inconnivus nannte, was so viel bedeutet wie "einer, der mit offenen Augen vor sich hin starrt". Diese Beschreibung hätte auch auf mich zutreffen können. Langsam entstand in meinem Kopf ein Bild von dem verschwundenen ordovizischen Ozean. Sieh' mal an, damals existierten an diesem trostlosen Ufer wahrscheinlich sehr viel mehr Arten als heute hier leben könnten! Im Ordovizium war das Meer fruchtbar und voller Leben; nur dass es so uralt war, erklärte nicht zwingend, warum es nun so verarmt war. Zu jener Zeit gab es praktisch kein Leben auf dem Land, dafür wimmelte es im Meer nur so von Quallen und Trilobiten, Muscheln und Schnecken sowie segmentierten Würmern. Es gab wilde Raubtiere, die mit dem heute lebenden perlmuttfarbenen Nautilus verwandt waren. Es gab Seegraswäldchen. Es gab sogar Schwärme kleiner, wendiger Tiere, die man auf den ersten Blick fälschlicherweise für Unmengen silberner Fische hätte halten können. Ein Paläontologe hört nicht nur auf die Botschaft dieses oder jenes versteinerten Tieres, er lässt auch eine längst verschwundene Welt wieder lebendig werden.

Man hatte mich eingeladen, vor der norwegischen Akademie der Wissenschaften, einem so illustren Gremium, wie man es sich nur wünschen kann, eine Vorlesung über die Prachtexemplare zu halten, die wir in Spitzbergen entdeckt hatten. Norwegen besaß eine besondere Oberhoheit über diesen Teil der Arktis; daher erfolgte meine Einladung nicht ganz unabhängig von der politischen Lage. Es war eine einschüchternde Erfahrung, vor einer Zuhörerschaft von hundert oder mehr der hervorragendsten Wissenschaftler Norwegens, einem Meer von Weisen, zu stehen. Wenn man 25 Jahre alt ist und in einem prächtigen, historischen Gebäude in Oslo auf einem Podium steht, ist das nicht gerade die einfachste Situation, um den Übergang vom Schüler zum Lehrer zu schaffen. Die großen Erforscher der Arktis, Nansen und Amundsen, hatten an genau derselben Stelle gestanden, und die Porträts anderer berühmter Persönlichkeiten blickten auf mich herab. Es war nur gut, dass es so viel zu berichten gab: über die überraschende Entdeckung einiger der mannigfaltigsten versteinerten Faunen der Welt am entlegenen Ufer der Hinlopenstraße; warum andere früher die Gesteine übersehen haben könnten; wieso die Trilobiten bewiesen, dass es eine Verbindung von Spitzbergen mit dem vorzeitlichen Kontinent Laurentia gegeben hatte und dass das Klima in der Zeit des Ordoviziums eher tropisch als arktisch gewesen war. Das war das erste Mal, dass ich öffentlich heraufbeschwor, wie aufregend es sein kann, sich in die Prähistorie zu vertiefen. Sobald das Adrenalin in meinen Adern zu kreisen begann, reduzierte sich die beeindruckende Zuhörerschaft auf hundert Ohrenpaare.

Am Ende stand ein hochgewachsener, höflicher alter Herr auf und stellte in fehlerfreiem Englisch eine Frage. Dabei bezog er sich auf seine Zeit auf Nowaja Semlja in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und gab an, sein Name sei Olaf Holtedahl. Ich war baff. Es hätte für mich kaum überraschender sein können, wenn Fridtjof Nansen persönlich aufgestanden wäre und mich über meine Erfahrungen in der Arktis befragt hätte. Holtedahl war ein Überlebender aus der heldenhaften Generation, für die die Erforschung der Arktis wirklich noch eine Reise ins Unbekannte gewesen war, aus einer Zeit, in der die wichtigsten Transportmittel Schlittenhunde waren und Pemmikan die wichtigste Eiweißquelle war. In den Zwanzigern hatte er wegweisende Berichte über die Geologie in den polnahen Gebieten der Arktis geschrieben, die insbesondere die abgelegene Insel Nowaja Semlja betrafen, die vor der russischen Küste wie ein gekrümmter Finger nach Norden in den arktischen Ozean hineinragt. Seit seinen bahnbrechenden Besuchen dort war über diese Insel nicht mehr viel veröffentlicht worden - und was es darüber gab, war in Russisch geschrieben, weil die Insel im Kalten Krieg streng geheimes militärisches Sperrgebiet war. Vor mir stand ein Sinnbild wissenschaftlicher Kühnheit, eine Gestalt, die einem Roman entsprungen sein konnte, ein in einen untadeligen Anzug gekleidetes, Fleisch gewordenes Abbild aus dem Reich meiner Fantasie.

Aufgrund dieses Ereignisses lernte ich zu begreifen, dass es noch eine andere Verbindung mit der Vergangenheit gibt, ich meine nicht die mit den weit entfernten Zeiten, zu denen man gelangt, indem man auf die Botschaften der Schalen und Gehäuse lauscht, sondern die Verbindung zu meinen wissenschaftlichen Vorfahren. Im Dünkel der eigenen Forschung neigt man dazu, all die zu vergessen, die vor uns studiert haben und auf deren Entdeckungen unsere Interpretationen immer noch aufbauen. Die Wissenschaft ist ein seltsames Unternehmen, bei dem man zusammenarbeitet, gleichzeitig aber auch miteinander in Konkurrenz steht. Die treibende Kraft ist häufig der Wunsch, einen Konkurrenten um die Anerkennung für eine Entdeckung auszustechen. Auf lange Sicht haben solche menschlichen Rivalitäten jedoch keine Bedeutung. Was als Wettrennen begonnen hat, scheint nun eher eine Reihe logischer Weiterentwicklungen zu sein, die miteinander durch so etwas wie einen Dienstplan verbunden sind, in dem die Namen der Entdecker verzeichnet sind.
Der erste Name auf der Trilobitenliste ist, wie zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, genau 300 Jahre alt: Dr. Lhwyd, in dessen Brief an Martin Lister "das Skelett irgendeines Plattfisches" vorkam. Der Brief wurde 1699 in den "Philosophical Transactions of the Royal Society" veröffentlicht, der ältesten wissenschaftlichen Zeitschrift englischer Sprache. Die Überschrift des Artikels lautete: "Concerning same regularly figured stones lately found, and observatians of ancient languages" ("Abhandlung über einige regelmäßig geformte Steine, die vor kurzem gefunden wurden, sowie Beobachtungen zu alten Sprachen"). Mir gefällt die Vorstellung, dass die falsch eingeordneten "Plattfische" in derselben Zeitschrift mit den Berichten von Leeuwenhoeks in Berührung gekommen sind, des Pioniers auf dem Gebiet des Mikroskopierens, der die Entdeckung der roten Blutkörperchen, Mikroben und von anderen solch bedeutenden Sachen beschrieben hat. Trilobiten haben sich von Anfang an als Beobachter gewaltiger Entwicklungen eingeschmuggelt. Die frühen Bände der "Transactions" werden mit gewisser Ehrfurcht behandelt - wie es auch sein sollte; die besten Ledereinbände sind nicht mehr und nicht weniger als das, was sie verdienen.

Diejenigen, die die Felsen in der Nähe von Llandeilo kennen, wissen ganz genau, wer dieser "Plattfisch" wirklich ist: ein Trilobit namens Ogygiacarella debuchii. Rund um den Park von Schloss Dynefor direkt vor den Toren von Llandeilo gibt es an vielen Stellen Steinbrüche, in denen Unmengen an flach liegendem, kalkhaltigem Sandstein offen zutage liegen; man kann ihn wie so viele polygonale Platten scheibenweise aus den Abhängen herausziehen. Auf einigen dieser Platten präsentiert sich dem Betrachter tatsächlich ein "Plattfisch". Er hat die Größe einer kleinen Scholle, ist beinahe genauso flach und besitzt zwei Augen, die den überraschten Sammler anglotzen. Der heutige Beobachter kann erkennen, dass die Tiere einen Rumpf mit acht Segmenten sowie einen großen Schwanzschild haben, so dass sie keine Art von Fisch sein können; man kann aber nachvollziehen, wieso Dr. Lhwyd diesem Irrtum erlag. Er schmückte seine Zeichnung ein bisschen aus, um etwas zu zeigen, das einer Randflosse ähneln sollte. Richtig lag er nur bei den Augen.
Der deutsche Zoologe Walch hatte 1771 erkannt, dass die Trilobiten eine eigene Tiergruppe bilden - allerdings in einem derart obskuren Werk, dass ich immer noch nicht genau weiß, ob wir in irgendeiner britischen Bibliothek die entsprechende Ausgabe haben. Innerhalb der darauf folgenden zehn Jahre wurde das Wort "Trilobit" in Artikeln von beispielsweise solchen Gelehrten wie M. T. Brunnich auf der Titelseite benutzt, so dass es doch weit verbreitet gewesen sein muss - alles in allem ist es eine wohlklingende und anschauliche Bezeichnung. Quer durch Europa fand man anscheinend immer mehr dieser unverwechselbaren "organischen Überreste". Innerhalb der ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts erhielten, besonders in Skandinavien, Frankreich und Deutschland, noch viele andere Trilobiten wissenschaftliche Namen. Lhwyds Exemplar wurde 1822 angemessen gewürdigt, als der französische Paläontologe Alexandre Brongniart eine kurze Abhandlung über unsere Tiere veröffentlichte, "Les Trilobites", in der er nach einem Fund auf Lord Dynefors Gut der Spezies den Namen debuchii gab. Der Plattfisch war endgültig vom Tisch, und an seine Stelle war ein eigenartiges Tier getreten, das eine kalkhaltige Haut und Segmente wie ein Hummer besaß.

140 Jahre nach der Erwähnung in den "Philosophical Transactions" wurde Lhwyds "Plattfisch" dazu benutzt, um alle Gesteine zwischen Llandeilo und Shropshire einzuordnen und eine Beziehung zwischen ihnen herzustellen. In Sir Roderick Murchisons Buch "The Silurian System" von 1839 werden Trilobiten wie Ogygiocarella debuchii nicht nur deshalb abgebildet, weil sie interessant sind, sondern auch, weil man mit ihrer Hilfe Gesteine eines bestimmten Erdzeitalters identifizieren kann. Zu dieser Zeit hatte die Bezeichnung "Trilobit" bei den gebildeten Klassen bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht, den sie nie wieder verlieren sollte. Die klassischen Namen, die den Tieren ihre Identität sicherten, wurden zu einer Zeit vergeben, als alle Gelehrten die "Aeneis" kannten und mit der Mythologie so vertraut waren wie wir vielleicht mit den Charakteren aus der "Lindenstraße".
Ogygiocarella wurde nach Ogygia benannt, der siebten Tochter von Amphion und Niobe, deren Namen wiederum anderen Trilobiten verliehen wurden. Es ist tatsächlich nicht so einfach, einen klassischen Namen zu finden, der nicht für das eine oder andere Tier benutzt worden ist, sei es den einer auch noch so unbekannten phrygischen Nymphe oder den eines Ziegenhirten von den Abhängen des Olymps. Wir finden bei den Trilobiten verschiedene zeitliche und historische Ebenen: Eine Urschicht ist die längst vergangene ursprüngliche Zeit der Trilobiten; dann gibt es die Zeit der "Antike", aus der die griechischen oder lateinischen Namen stammen; ferner haben wir eine Geschichte der Forschung und schließlich noch eine persönliche Geschichte, die in Form des vorhandenen Exemplars all diese früheren Zeiten mit Leben erfüllt.


Pemmikan: durch Trocknung haltbargemachtes, pulverisiertes Bisonfleisch; ein proteinreicher Dauerproviant (nicht nur) der nordamerikanischen Indianer. (Anm. d. Red.)

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