Richard Fortey: "Trilobiten!"
Fossilien erzählen die Geschichte der Erde
"Ich vermeine beinahe das Kitzeln
der Beine zu spüren, die über meine Handfläche kriechen, ich sehe das lebende
Tier vor mir, wie es durch die Meere des Ordoviziums krabbelt." (Richard
Fortey)
Im Erdaltertum gehörten die
Trilobiten zu den häufigsten Lebewesen. Sie erschienen kurz nach der
sogenannten "Explosion des Lebens" im Kambrium (vor etwa 545 Millionen
Jahren) auf der Bildfläche, bevölkerten in beeindruckender Vielfalt die
Meere und starben schließlich gegen Ende des Perms (vor rund 250 Millionen
Jahren) aus.
Der Buchtitel "Trilobit! Augenzeuge der Evolution", wie er verheißungsvoll im
Original lautet, ist ein echter Blickfang, der auf Anhieb neugierig macht, keineswegs
zu viel verspricht und sozusagen im selben Atemzug bereits Richard Forteys mitreißende
Begeisterung für Trilobiten, welche das Antlitz der Erde - man lese und staune
- doppelt so lange wie die (noch!) weitaus populäreren Dinosaurier
zierten, zum Ausdruck bringt.
Welches Sachbuch schmückt sich schon im Titel mit einem kecken
Rufzeichen? Dass der Originaltitel sowohl in Bezug auf die einzigartigen
Sehorgane der Trilobiten, als auch auf die Ehrfurcht gebietend lange
Existenzspanne dieser Wesen trefflich gewählt ist, wird spätestens während der
Lektüre des den Trilobitenaugen gewidmeten Kapitels klar. Demgegenüber lässt der
etwas blass wirkende deutsche Untertitel, "Fossilien erzählen die Geschichte der
Erde", im Wortsinn Einsicht vermissen.
Trilobiten beschritten nämlich auf dem
Pfad der Geschichte des Sehvermögens einen gänzlich eigenständigen Weg (Hunderte
von Kalzitprismen als Augenlinsen!), sie waren überhaupt die ersten Tiere, die
hochentwickelte Augen besaßen, wenngleich es in ihren Reihen auch blinde
Tiefseebewohner und Schlammwühler gab.
Eine "erste Liebe" mit Folgen
...
"Die Entdeckung", das Eingangskapitel, erweist sich aufgrund eher
ungewöhnlich weit ausholender Betrachtungen möglicherweise als Prüfstein für die
Geduld des einen oder anderen Lesers, doch Hektik wäre bei Trilobiten ohnedies
fehl am Platz, und bald öffnet sich dem Interessierten - Richard Forteys
schwungvollem Fabuliertalent, bereits unter Beweis gestellt mit "Leben. Eine
Biografie", sei Dank - eine faszinierende Welt. Ohne Umschweife bekennt der
Autor, eine weltweit anerkannte Kapazität auf dem Gebiet der Paläontologie:
"Wenn es Liebe auf den ersten Blick gibt, dann verliebte ich mich im Alter von
vierzehn Jahren in Trilobiten."
Wie es geschah? Als Jugendlicher stieß der in
Wales schürfende Fortey auf ein Exemplar der Spezies Paradoxides. Er hatte nicht
"nur" ein Fossil, sondern zugleich seine Berufung gefunden - oder auch sie ihn
...
Zunächst ist von Interesse, was "Trilobit" eigentlich bedeutet und
wie sich diese Namensgebung erklärt:
Trilobiten, von dem Forscher Dr. Lhwyd
im 17. Jahrhundert noch als "Skelette von Plattfischen" bezeichnet, sorgten nach
der Entdeckung, dass es sich bei den versteinerten Überresten jener
Lebensformen, die aufgrund ihres Aussehens "Dreilapper" ("Trilobiten" eben)
genannt werden, um eine den Menschen bis dahin unbekannte Tiergruppe handelte,
für einiges Aufsehen, und auch die in solchen Fällen üblichen Wortgefechte,
Intrigen und Neidbekundungen unter Forscherkollegen sollten in weiterer Folge
nicht ausbleiben.
Der ideale "Vorzeigetrilobit" verfügt über Cephalon
(Kopf), Thorax (Rumpf) und Pygidium (Schwanz). Betrachtet man das Tier der Länge
nach, lauten die korrekten Bezeichnungen für die Abschnitte: Achse
(Mittellappen) und Pleuren (Seitenlappen).
Schützende Exoskelette umhüllten
die beständigen Meeresbewohner von Format; sie mussten sich folglich häuten, um
zu wachsen! Und sie waren Arthropoden (Gliederfüßer).
Man wird
schwerlich eine griffigere Erklärung für "Gliederfüßer" finden als jene Richard
Forteys:
"Insekten, Crustaceen, Spinnen, Tausendfüßer - alle sind sie aus
miteinander verbundenen, gegliederten Segmenten aufgebaut. Und noch etwas ist
ihnen allen gemeinsam: Ihre Beine sind gelenkig miteinander verbunden. Auf den
ersten Blick mag es nicht so einfach sein, die Ähnlichkeiten zwischen den Beinen
einer Fliege und denen eines Hummers zu erkennen. Sie sind jedoch auf ähnliche
Weise über Gelenke verbunden, und zwar so, dass jedes Gelenk gegen das
benachbarte Glied verdreht werden kann, und zwar in einer vorgegebenen Art und
Weise, die sich ganz nach seiner Aufhängung richtet. Diese Beine erinnern an
diese gelenkig verbundenen Leselampen, deren Beweglichkeit derart beschränkt
ist, dass sie einen leicht zur Raserei bringt: Man entdeckt rasch, dass sie sich
nur in bestimmter Weise drehen lassen; trotzdem ist es möglich, ihr Licht in
alle möglichen Ecken zu lenken, sobald man das mit den Gelenkverbindungen einmal
im Griff hat. Man bekommt eine Vorstellung von der Bandbreite der möglichen
Bewegungen, wenn man einen Hummer umdreht, der sich wehrt - die Beine stoßen
mechanisch nach innen und außen. Beobachtet man einen auf den Rücken gefallenen
Käfer, der mit den Beinen strampelt, ist die Ähnlichkeit offensichtlich. Das
gesamte Fleisch dieser Tiere befindet sich in den Beinen. Muskeln ziehen sich
zusammen, um diese Bewegungen um die Gelenke hervorzurufen. Sie richten sich
selbst anhand der Schuhriemen in ihrem Inneren auf. Tiere mit solchen Beinen
bezeichnet man als Arthropoden, und es besteht kein Zweifel, dass Trilobiten
eine andere Art von Arthropoden waren. Wenn sie überlebt hätten, wären sie neben
Skorpionen, Krabben, Schmetterlingen, Käfern und Wanzen ein weiteres Beispiel
für diesen verschiedenartigsten und variantenreichsten aller
Tierbaupläne."
Heutzutage empfindet man diese Ausführungen unter
Umständen als mehr oder minder selbstverständlich, allerdings mussten nicht
wenige Gesteinsbrocken von kundigen Händen behutsam aufgeklopft werden, bis
endlich Charles Doolittle Walcott im Jahr 1876 das Geheimnis lüftete und den
einstigen Meeresbewohnern "unter die Panzer und Schilde" lugen konnte, was
Gewissheit hinsichtlich Lage und Aussehen der nur unter besonderen Bedingungen
in Abdrücken bzw. Versteinerungen sichtbar gebliebenen Gliedmaßen brachte. Heute
lebenden Asseln ähnlich, rollten sich Trilobiten bei Gefahr ein, wodurch sie, so
die Bedingungen günstig waren, zu "Zeitkapseln" wurden, die den Augenblick der
Bedrohung für die Ewigkeit konservieren.
In schier unerschöpflicher
Vielfalt brachte die Evolution bizarr anmutende Trilobitengestalten mit langen
Stacheln ebenso wie solche mit perfekter Stromlinienform hervor. Manche
Trilobiten waren verhältnismäßig glatt, andere gefurcht, alle waren sie den
jeweiligen Gegebenheiten ihres speziellen Lebensraumes hervorragend angepasst:
jede ökologische Nische der Meere wurde von Trilobiten besetzt.
Unter den
Trilobiten gab es Winzlinge, die ausgewachsen etwa einen Millimeter lang waren,
und wuchtigere Kaliber von mehr als 70 Zentimetern Länge, wie nachstehender
Artikel (nicht dem rezensierten Buch entnommen) dokumentiert:
"Kanadische
Paläontologen haben einen 72 cm langen Trilobiten entdeckt, der zwei Mal die
Länge des zuletzt entdeckten Fundes misst. Das rund 445 Millionen Jahre alte
Exemplar wurde während Untersuchungen der antiken tropischen Küste in der Nähe
von Manitoba entdeckt, wie die BBC berichtet. Bei der Ausgrabung entdeckten die
Forscher nur den Rückenteil des Schwanzschildes, während der größte Teil des
Außenskeletts noch verborgen lag. (...) Die Forscher gehen davon aus, dass die
Größe des Trilobiten der bisherigen Meinung, dass größere Tiere gewöhnlich in
kälteren Klimaten vorkommen, widerspreche. Obwohl im Norden Manitobas heute
subarktisches Klima herrscht, könnte das Gebiet vor Millionen Jahren von
Salzwasser aus dem Äquatorgebiet überschwemmt worden sein, so Bob Elias,
Forscher an der Universität Manitoba." (Quelle: nano online;
12.10.2000)
Die Welt unserer Tage kennt
übrigens keine direkten Nachfahren der Trilobiten, Fortey bezeichnet die
heutigen Krebse als "entfernte Vettern". Limulus polyphemus, der
Pfeilschwanzkrebs, auch Schwertschwanz genannt, gilt nach heutigem Wissensstand
als nächster lebender Verwandter der Trilobiten.
Wie zuvor erwähnt,
bevölkerten Scharen höchst unterschiedlich aussehender Trilobiten viele
Jahrmillionen lang die Ozeane. Ein Umstand, der sie zu sogenannten Leitfossilien
macht, anhand derer der Kundige erkennen kann, aus welcher erdgeschichtlichen
Epoche die jeweils untersuchte Gesteinsschicht stammt. Überdies ermöglichte es
die genaue Kenntnis von inzwischen weit auseinander liegenden Fundorten
bestimmter Trilobiten, Karten der Erdoberfläche zu erstellen, wie sie z. B. im
Ordovizium ausgesehen hat (Stichwort: Kontinentalverschiebung). Auch für
paläoökologische Aussagen sind Trilobiten von Bedeutung.
Richard Fortey vermittelt Allgemeinbildung auf hohem Niveau und tut dies auf überaus
abwechslungsreiche Art. Berührungsängste mit anderen Wissenschaftsdisziplinen
sind ihm fremd, und wenn er einmal für eine Überschwemmung in einem Labor
verantwortlich ist, dann nur, weil er erstens mit technischer Gerätschaft
tendenziell auf Kriegsfuß zu stehen scheint und zweitens in bester Absicht die
Stromlinienform eines Trilobitenmodells in einem Bassin einer seriösen Prüfung
unterziehen will ...
Abseits derartiger Wagnisse unternimmt man mit Richard
Fortey, der am berühmten Natural History Museum in London arbeitet und Mitglied
der Royal Society ist, ebenso unterhaltsame wie informative Abstecher in die Welt der Chemie, der Physik, der Genetik, der
Geologie, usw., wie überhaupt mit Fug und Recht gesagt werden kann, dass das
Buch eine glückliche Kombination von
Informationsgehalt und Leselust bietet, wodurch niemals auch nur ein Hauch
von Langeweile aufkommt.
"Trilobiten!" wartet mit einer reichen Fülle an
Fakten auf, deren erschöpfende Darstellung unweigerlich den Rahmen dieser
Rezension sprengen würde. Deshalb sei an dieser Stelle nur noch kurz erwähnt,
was den Leser erwartet: ausführliche Informationen über bahnbrechende
Entdeckungen, darüber, wie Tiernamen vergeben werden, über komische und
tragische Forscherschicksale, über Theorien im Wandel der Zeit, über die
Fortpflanzung der Trilobiten und ihre Wachstumsstadien, Blicke hinter die
Kulissen altehrwürdiger Museen, Exkurse zum Thema "Benimmregeln unter
konkurrierenden Forschern", kuriose Anekdoten zuhauf
u.v.m.!
Und
natürlich laden zahlreiche elegante Schwarzweißabbildungen prächtiger Fossilien
zum Verweilen und Staunen ein.
Es bleibt also noch viel Interessantes zu
entdecken, und zwar sowohl für all jene, die im Schweiße ihres Angesichts den
Geologenhammer im Zeichen der Forschung schwingen als auch für jene, die zwar
nur im kleinen Maßstab "Augenzeugen der Evolution" sind, jedoch quasi in den
Fußstapfen von Richard Forteys Ausführungen durch die Jahrmillionen
wandeln.
(kre; 08/2004)
Richard Fortey: "Trilobiten! Fossilien
erzählen die Geschichte der Erde"
(Originaltitel "Trilobite! Eyewitness to Evolution")
Aus dem Englischen von Kurt Beginnen und Sigrid Kuntz.
Gebundene Ausgabe:
C. H. Beck, 2002. 275 Seiten.
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Taschenbuch:
dtv, 2004. 272 Seiten.
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