Hasan Ali Toptaş: "Die Schattenlosen"
Auflösung
von Raum und Zeit
Der Bürgermeister eines kleinen türkischen Dorfs kann
sich nicht lange über seine Wiederwahl freuen: Das
bildhübsche junge Mädchen Güvercin ist
spurlos verschwunden, und er setzt alles daran, sie zu finden. Doch
Güvercin scheint vom Erdboden verschluckt zu sein. Hat der
Dorftrottel sie entführt? Er leugnet hartnäckig. Dann
verschwinden weitere Menschen: der Frisörlehrling, der
eigentlich nur neue Rasierklingen besorgen soll, schließlich
der Frisör selbst, der Bürgermeister und andere
Personen mehr.
All das geschieht nur kurze Zeit, nachdem ein anderer Verschollener
viele Jahre nach seinem spektakulären Weggang aus dem Dorf
zurückgekehrt ist. Und plötzlich beginnt sich alles
aufzulösen, der Strom der Zeit spaltet sich wie ein Fluss im
Mündungsgebiet zu einem weiten Delta und pflanzt sich in
mehreren Ebenen fort, und auch der Ort verschwimmt; der
Ich-Erzähler, der zuweilen in eine andere Gestalt
schlüpft, findet sich zu seiner Überraschung manchmal
in der nächsten Kleinstadt anstelle des Dorfes wieder.
Allmählich steigt die Dramatik an: Ein Liebeszauber nimmt
aufgrund eines Irrtums eine tödliche Wendung, zudem tauchen
unvermittelt Verschwundene wieder auf, bisweilen in anderer Gestalt
oder verrückt geworden, gelegentlich als Leichen. Es bleibt
rätselhaft, ob sie wirklich fort waren oder sich vielleicht
auf einer anderen Ebene immer im Dorf aufhielten. Und dann wird auch
Güvercin zurückgebracht, aber für sie und
für das Dorf wird nichts sein wie vorher.
Vielfarbig und rätselhaft ist dieser Roman über
Grundfragen der Existenz. Zeit und Raum verändern sich in der
Wahrnehmung des Einzelnen, spielen ihr Streiche und wandeln wiederum
die Wahrnehmung der Menschen, somit auch ihre Seelen. Weil sich
Vorgänge und auch die Personen selbst nicht mehr eindeutig in
das gewohnte Raum-Zeit-Raster einordnen lassen, sind die Menschen
verstört und verunsichert. Und was bedeutet schon Schuld, wenn
die Wahrnehmung nicht mehr zuverlässig funktioniert und das,
was gestern als unverrückbare Tatsache erschien, heute absurd
erscheint? Wenn die Menschen und ihr Umfeld vielfältigen,
überraschenden, verwirrenden Wandlungen unterworfen sind?
Müssen sie solche Veränderungen nicht als
existenzielle Bedrohung empfinden?
Die Menschen in der kleinen, traditionellen Dorfgemeinschaft scheitern,
als ihre Existenz sich über die Grenzen der
räumlichen und der zeitlichen Kontinuität zu weiten
beginnt. Ihre Hilflosigkeit hat für einige ihrer
Mitbürger tödliche Folgen, weil Angst vor dem
Ungewohnten, Anderen Gefährlichkeit gebiert.
Dennoch scheint der Tod kein auswegloser Zustand zu sein, denn sobald
Zeit, Orte und Figuren sich ineinander auflösen wie
Aquarellfarben, können sich auch die Toten unter uns bewegen.
Hasan Ali Toptaş gehört zu den großen
Erzählern unserer Zeit, die das fantastische,
mystisch-rätselhafte Element des Lebens mit fast spielerischer
Leichtigkeit in Worte zu fassen wissen. Wie ein mäandrierender
Fluss findet die Geschichte ihren Weg durch Höhen und Tiefen,
angenehm zu lesen und doch gefüllt mit zutiefst
anrührenden Fragen über das Sein.
(Regina Károlyi; 11/2006)
Hasan
Ali Toptaş: "Die Schattenlosen"
(Originaltitel "Gölgesizler")
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Nachwort von Erika Glassen.
Unionsverlag, 2006.
Türkische
Bibliothek. 247 Seiten.
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Hasan
Ali Toptaş, geboren 1958 in Baklan, einer Industriestadt im
Südwesten der Türkei, arbeitete ab 1981 als
Gerichtsvollzieher und später als Beamter in verschiedenen
Finanzämtern. Hasan Ali Toptaş gilt als urwüchsiges
Erzähltalent. Er besitzt eine magische Beziehung zur
türkischen Sprache, der er in seiner klaren Prosa poetische
Qualitäten abzugewinnen vermag. Bisher hat er drei
Sammelbände mit Kurzgeschichten und vier Romane
veröffentlicht.
2006 wurde er mit dem "Orhan-Kemal-Preis", dem angesehensten
Literaturpreis der Türkei, ausgezeichnet.
Zwei weitere Titel aus der Reihe "Türkische
Bibliothek" des Unionsverlags:
Murathan Mungan: "Palast des Ostens"
Alle Paare dieser fünf Erzählungen sind Liebende.
Überraschende Rituale von Anziehung und Abstoßung
werden durchgespielt.
Der Hirte und der Räuber. Zwei junge Männer aus dem
Nomadenstamm, die den Initiationsritus vollziehen müssen. Der
Todesengel Azrail und der kühne, rebellische
Brückenbauer Deli Dumrul, der alevitische Kulttänzer
und die Prinzessin aus dem Kristallpalast, ja sogar der osmanische
Großwesir und der stumme Bote erfahren das Geheimnis der
Liebe bedrohlich und beglückend zugleich.
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Börte Sagaster (Hrsg.): "Liebe,
Lügen und Gespenster"
Respektlose Familiengeschichten und experimentell anmutende Skizzen,
fantastische Erzählungen und Satiren wie die Geschichte um
einen schmerzenden Zahn, der einen Mann fast in den Selbstmord treibt:
Allen gemein ist der schier unerschöpfliche Reichtum an
Fantasie. Tabus werden aufgebrochen, große und kleine
Lügen entlarvt, Gespenster tauchen aus einer unheilvollen
Vergangenheit auf.
Die Schriftsteller experimentieren lustvoll mit der Sprache, sie
brechen mit herkömmlichen Genres und stellen konventionelle
Handlungsabläufe in Frage.
Dieser Erzählband bietet einen Querschnitt durch die modernste
türkische Prosa. All die Autoren sind Zeugen und Akteure des
kulturellen Wandels, der in der
Türkei seit 1980 stattfindet.
Mit Texten von Mehmet Açar Erendiz Atasü, Nalan
Barbarosoglu, Faruk Duman, Nazlı Eray, Nedim Gürsel
Müge Iplikçi, Sebnem Isigüzel, Cemil
Kavukçu, Gönül Kıvılcım, Gürsel
Korat, Mario Levi, Cem Mumcu, Leyla Ruhan Okyay, Mehmet Zaman
Saçlıoglu, Hakan Senocak, Izzet Yasar, Siirk Erkök
Yılmaz, Tahsin Yücel.
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