Jáchym Topol: "Zirkuszone"


Tschechischer Politzirkus

Das Leben des 1962 geborenen tschechischen Autors Jáchym Topol ist von der jüngeren Geschichte seines Landes nicht zu trennen. Der Sohn des oppositionellen Dramatikers und Shakespeare-Übersetzers Josef Topol unterschrieb schon als Jugendlicher die Menschenrechtspetition Charta 77 und wurde trotz seiner Jugend - wie andere Unterzeichner auch - vom kommunistischen  Regime verfolgt und war den üblichen Sanktionen ausgesetzt. In den späten 1970er- und 1980er-Jahren war er in der Prager literarischen und musikalischen Untergrund-Bewegung aktiv und gab die alternative und natürlich nicht erlaubte Zeitschrift "Revolver Revue" heraus. Daneben arbeitete er als Heizer und Lagerarbeiter. Nach der Wende profilierte er sich als Erzähler.

Auch sein Roman "Zirkuszone" ist ohne Kenntnis der jüngsten Vergangenheit Tschechiens kaum zu verstehen. Der Ich-Erzähler, das Kriegskind Ilja, berichtet vom Großwerden in einem Internat mit brutalen Erziehungsmitteln. (Der tschechische Buchtitel lautet in Anspielung an eine sadistische Disziplinierungsmethode "Teerseife gurgeln"!) Die markanten Einschnitte im Leben des Zöglings entsprechen der tschechischen Geschichte: Enteignung und Vertreibung der früheren deutschen Besitzer des Gutshofes im Jahr 1945, Übernahme des Heimes durch kommunistische Veteranen, die die Zöglinge zu Kindersoldaten heranziehen wollen, Erwachsenwerden in den unruhigen 60er-Jahren und schließlich der Einmarsch der Bruderländer 1968. Historische Traumata sind menschliche Schicksale!

Doch entsteht die historische Zuordnung nur im Kopf der Leser durch Schlüsselwörter und Szenen aus kindlicher Sicht und in kindlicher Sprache. Das Buch kommt ohne Jahreszahlen und Politikernamen aus.

Erinnerungsfetzen und historische oder literarische Versatzstücke lassen so zu eine absurde und groteske Geschichte entstehen, die den Schriftsteller längst nicht mehr in Erklärungsnot als vielmehr in große Spiel- und Erzähllaune bringt. Am Ende des Romans, bei den Schilderungen der Ereignisse rund um 1968, greift die Darstellung über das hinaus, was aus dem Geschichtsunterricht bekannt ist, und führt in eine aberwitzige Welt von Clowns, Tänzerinnen, Raubtieren und Dompteuren, in die "Zirkuszone" und in den fiktiven Einmarsch des tschechischen Militärs in Bayern. Ganz Europa wird zum Zirkus, die als historisch erkannte Realität verblasst angesichts der Artistik des Erzählens.

Die Sprache der Übersetzung kann mit der dichten und zum Ende hin immer dichter, rasanter und abstruser werdenden Entwicklung der Handlung leider nicht mithalten.
Teils kindliche Wortschöpfungen (Heimdaheim), teils norddeutsche Regionalismen (Kohlenkiepen, Säcke aufhucken) und Kreationen unbekannter Herkunft (Bakelit für Roma, wohl wegen der Hautfarbe) wirken in ihrer Kombination unnatürlich und gekünstelt; in Passagen, in denen der Erzähler schon älter ist, sprengen sich russische Worte und Sätze ein, die für die deutschsprachigen Leser in Fußnoten wiedergegeben werden müssen, und Politphrasen, die auch aus der DDR bekannt sind.

"Zirkuszone" ist ein sehr tschechisches Buch, so tschechisch, dass sich deutschsprachige Leser damit auch ein wenig plagen müssen. Aber lesenswert ist es dennoch, oder vielleicht gerade deshalb.

(Wolfgang Moser; 08/2007)


Jáchym Topol: "Zirkuszone"
Aus dem Tschechischen von Milena Oda und Andreas Tretner.
Suhrkamp, 2007. 316 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Jáchym Topol wurde am 4. August 1962 in Prag geboren. In den 1990er Jahren studierte er Ethnologie und bereiste zwischen 1989 und 1991 als Journalist für die Wochenzeitung "Respekt" und Drehbuchautor Osteuropa. 1988 erschien in Samizdat sein erster Gedichtband "Ich liebe Dich bis zum Irrsinn", 1992/93 folgten "Am Dienstag gibt es Krieg" und "Ausflug zur Bahnhofshalle". Seinen Durchbruch als Schriftsteller hatte er mit dem Roman "Die Schwester" (1994, dt. 1998).

Weitere Bücher des Autors:

"Nachtarbeit"

Als die Panzer im August 1968 in Prag einrücken, werden der dreizehnjährige Ondra und sein kleiner Bruder Kamil vom Vater ins Dorf geschickt. In der wilden, von Höhlen, Bunkern und verlassenen Weilern gezeichneten Landschaft unweit der polnischen und deutschen Grenze hat die Familie oft die Sommerferien verbracht. Hier hat Ondra sich im letzten Jahr verliebt, in Zuza, die Tochter des Gastwirts; sehnsüchtig-bang erwartet er das Wiedersehen. Doch die erste Liebe und die Abenteuerwelt der Heranwachsenden werden überschattet von rätselhaften Morden in der Gegend, aber auch von der Prager Geheimpolizei. Sie versucht über die Kinder an den Vater heranzukommen, dessen Erfindung, eine "Wettermaschine", für die Staatsmacht offenbar höchste Bedeutung besitzt.
Versprengte russische Truppen, die durch den Wald irren, wecken bei den alten Dorfbewohnern die Erinnerung an die Vertreibungen, an die Ermordung von Partisanen und jüdischen Kindern. Die Vergangenheit, unter den Kommunisten offiziell aus dem Gedächtnis getilgt, hat in Schuldgefühlen und Aberglauben überlebt. Als hätte sich die gefrorene Zeit wie eine Lavamasse in Bewegung gesetzt, bricht das Verdrängte in diesen Augusttagen wieder auf. Das Wetter spielt verrückt, dichter Nebel herrscht, eisige Kälte. Ein verirrter Panzer feuert auf das Gasthaus, die Bewohner fliehen in Panik über die Grenze. Ondra und Kamil treiben im Boot durch die Nacht.
In einer irritierenden Mischung aus Realismus und Phantasmagorie verwandelt Topol seinen Schauplatz immer mehr in einen apokalyptischen Raum. "Nachtarbeit" erzählt mit großer Intensität vom Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein und von den Träumen und Ängsten, die den Anbruch einer neuen Zeit begleiten. (Suhrkamp)
Buch bei amazon.de bestellen

"Die Teufelswerkstatt"
Ein junger Mann flieht aus Theresienstadt. Sein einziges Gepäck: ein Schließfachschlüssel und ein USB-Stab mit den Kontaktdaten reicher Holocaust-Überlebender, die ihn und Onkel Lebo beim Aufbau eines alternativen Erinnerungsortes unterstützen sollten. Mit "Pritschensuchern" aus der ganzen Welt, jungen Leuten, die im Osten nach ihren ermordeten Großeltern forschen, hatten sie eine Kommune gegründet und mit Kafka-Leibchen, Ghetto-Pizza und Therapieangeboten der offiziellen KZ-Gedenkstätte Konkurrenz gemacht. Als die Behörden die anstößige Institution niederwalzen lassen, verhelfen Alex und Maruška dem Ich-Erzähler zur Flucht nach Minsk. In den Dörfern und Wäldern Weißrusslands, der "Teufelswerkstatt", wo SS-Schergen, aber auch der NKWD gemordet haben, soll er bei der Errichtung einer Gedenkstätte unerhörten Ausmaßes helfen. Verliebt in die schöne Maruška, wird er in eine blutige Erinnerungsverschwörung hineingezogen.
Jáchym Topol, literarischer Enkel Bohumil Hrabals, inzwischen selbst ein Meister der surrealen Groteske, erzählt in seinem dicht und fesselnd geschriebenen Roman vom Kampf um die Erinnerung, die im postsozialistischen Westen an Kommerz und Musealisierung, im Osten an der Unzumutbarkeit des Realen scheitert. (Suhrkamp)
Buch bei amazon.de bestellen