Javier Tomeo: "Hotel der verlorenen Schritte"
Erzählungen
Ein
heiterer, liebenswerter Sarkasmus
Ins Hotel der verlorenen Schritte lädt Javier Tomeo, ein
Meister des schwarzen Humors, seine Leser ein, dahin also, wo hinter
einer heilen oder auch verlogenen Fassade auf Schritt und Tritt der
Wahnsinn lauert, wo der Ich-Erzähler der Titelgeschichte sich
einem skurrilen Selbstfindungsprozess unterzieht und ...
natürlich scheitert. Von vergeblichem Bemühen handeln
auch die anderen Geschichten des Bandes, zum Beispiel der Bericht eines
psychotisch veranlagten Mannes, der sich in seiner Wohnung einkapselt
und von dort aus die Fabrikschornsteine zählt, die er von
seinem Fenster aus sehen kann. Aber natürlich scheitert auch
er, denn nie kommt er bei seinem Abzählen zum gleichen
Ergebnis.
Neben dem Scheitern menschlicher Bemühungen ist die Einsamkeit
ein zentrales Thema in Tomeos kurzen Erzählungen; die Leere,
die mit immer neuen absurden, lumpigen Stoffen bemäntelt wird,
wie beispielsweise durch das Anlegen stets neuer Verkleidungen beim
Mann im Hotel der verlorenen Schritte. Die Menschen bei Tomeo haben
Probleme, zu sich selbst zu finden und daraus resultierend auch
Probleme, Kontakte zu knüpfen,
Beziehungen
mit anderen
Menschen einzugehen. Ihr somnambuler Blick geht in die Weite, in die
Leere, in das Illusionäre, in das Ungreifbare des sich
ständig im Gleichmaß mit dem Fortschreiten des
Betrachters entfernenden Horizonts.
Tomeos Humor ist von einer unterkühlten, feinsinnigen Art; ein
sympathischer, grotesker Humor. Des Autors Stil ist geprägt
von einer unaufdringlichen Nüchternheit. Seine Sätze
vermitteln das Wesentliche, knapp und klar wie Karikaturen stellen sie
die verzerrte Wirklichkeit dar, in der sich seine Protagonisten
wiederfinden. Zwei Sätze aus dem Nachwort des
Übersetzers Heinrich von Berenberg bringen das
Charakteristische von Javier Tomeos Erzählkunst auf den Punkt:
"Die nicht geringste Kunst dieses Autors besteht in der
Tatsache, dass in seinen Büchern, die allesamt die Geschichte
gescheiterter, am Leben verzweifelter, kranker oder am Rande des
Wahnsinns taumelnder Gestalten erzählen, niemals auch nur die
Spur eines depressiven Tons anklingt. Kaum einem Schriftsteller in der
Geschichte der modernen Literatur war oder ist es gegeben, mit solcher
Leichtigkeit, mit so viel heiterem Sarkasmus und Zärtlichkeit
seinen eigenen monströsen Geschöpfen
gegenüber zu schreiben und dabei an die bittersten,
finstersten Seiten der menschlichen Existenz zu rühren, wie
diesem Aragonesen."
Heinrich von Berenberg lieferte neben seinem informativen Nachwort auch
die Übersetzungen der Texte ins Deutsche, die Illustrationen
sind vom Autor selbst und beleuchten eine weitere Facette seines
künstlerischen Schaffens. Eine kurze Erzählung, "Die
brennende Stadt", wurde von Nikola Basler übersetzt. Dort geht
es um die apokalyptische Vision einer sterbenden, brennenden Welt,
während der Ich-Erzähler sich, um dem Inferno zu
entkommen, in eine
Badewanne
mit kaltem Wasser legt.
Mir bleibt als Fazit noch zu sagen: Ein köstliches, herrlich
absurdes Buch, dem man möglichst viele Leser wünschen
kann.
(Werner Fletcher; 03/2007)
Javier
Tomeo: "Hotel der verlorenen Schritte"
Aus dem Spanischen und mit einem Nachwort von Heinrich von Berenberg.
Verlag Klaus Wagenbach, 2007. 96 Seiten mit Zeichnungen des Autors.
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Javier Tomeo wurde 1932 in Quicena, einem kleinen Ort in der spanischen Provinz Huesca geboren. Er studierte Rechtswissenschaften und Kriminologie an der Universität von Barcelona und arbeitete für einen internationalen Schreibmaschinenhersteller. 1967 veröffentlichte er seinen ersten Roman und gehört seither zu den meistgelesenen europäischen Autoren der Gegenwart, dessen Romane und Erzählungen in zahlreiche Sprachen übersetzt sind. Auch mit seinen Theaterstücken ist Tomeo bei Publikum und Kritik erfolgreich. 1994 wurde er mit dem renommierten "Premio Aragón" ausgezeichnet.