Leo Tolstoi: "Meistererzählungen"
Ausgewählt von Christian Strich
Meistererzählungen
im wahrsten Sinne des Wortes
Am Ende beinahe einer jeden
Geschichte steht in der Regel entweder der Tod eines der Protagonisten
oder aber
eine Verlobung beziehungsweise eine Heirat. Glückliche Enden -
unglückliche
Enden. Natürlich gibt es auch die nicht endenden Enden, die
Hektor Haarkötter
unlängst in einer groß angelegten
literaturwissenschaftlichen
Studie unter die Lupe seines scharfen analytischen Verstandes
genommen hat.
Bei Tolstoi ist es der Tod, der in seinen Meistererzählungen,
die diesen Namen
wahrhaft zu recht führen, den Schlusspunkt setzt. Vom Sterben
und vom Tod also
handeln diese Geschichten. Und ob nun ein Mensch, ein Pferd oder eine
Tanne
stirbt, Tolstoi gewinnt dem Sterben und auch dem Leben, das ja den Tod
erst ermöglicht, eine Dimension ab, die anderen Autoren
scheinbar nicht zu Gebote steht.
Da ist zum Beispiel die bewegende Geschichte vom Leiden und Sterben des
Leinwandmessers, eines scheckigen Pferdes, eine Geschichte, die zum
großen Teil
aus der Perspektive des Tieres erzählt wird. Kann ein Mensch
sich überhaupt in
die Gemütslage eines Pferdes versetzen und
anschließend auch noch überzeugend
darüber schreiben? Tolstoi konnte es, jedenfalls was den
zweiten Teil der Frage
angeht. Er verfügte augenscheinlich über mehr
Einfühlungsvermögen für diese
Tiere als alle Pferdeflüsterer hier auf der Erde zusammen.
Nach der Lektüre
dieser Geschichte betrachtet wahrscheinlich so mancher Leser
althergebrachte
Definitionen wie "Sportkamerad Pferd" oder "Das Pferd als
Freizeitpartner des Menschen" mit ganz
anderen, mit eher skeptischen Augen. Leiden, damit andere ihr
Vergnügen haben,
das ist nach Tolstoi das wahre Los der Pferde, ob nun vor der Kutsche
oder unter
dem Sattel. Auch als eine Parabel auf den menschlichen Rassismus kann
die Erzählung
vom Leinwandmesser verstanden werden. Bei den Menschen gilt ein Schecke
nur
aufgrund seines Äußeren nicht viel, während
bei seinen Artgenossen andere
Kriterien der Beurteilung herhalten. Am Ende wird denn auch jedem Leser
klar,
wer eigentlich (in gewissem Sinne) die verständigeren
Geschöpfe sind, Menschen
oder Pferde. Die Geschichte endet wie alle in der vorliegenden Auswahl
mit dem
Tod. Der Schecke hat seine Schuldigkeit getan und stirbt durch das
Messer des
Schlachters. Vom Fleisch seines Kadavers nährt eine
Wölfin ihre Jungen, und
selbst für die Knochen des Leinwandmessers findet sich noch
eine Verwendung.
Auch Serpuchowskoj, ein Mensch, der in dieser Geschichte eine nicht
unwesentliche Rolle spielt, muss
am Ende sterben.
"Weder seine Haut noch
sein Fleisch oder seine Knochen brachten jemandem noch irgendeinen
Nutzen."
(Originaltext Tolstoi)
Herausragend in dieser Sammlung von Meister-Erzählungen war
für mich: 'Der Tod
des Iwan Iljitsch'. Hier dringt Tolstoi tief in die menschliche Psyche
ein, hat
seinen Blick auch nach innen gewandt, hat quasi in sich selbst hinein
gehorcht,
denn weiter braucht es eigentlich nichts, um profunde Menschenkenntnis
zu
erlangen. Und doch ist vermutlich nichts schwerer als das. Tolstoi
jedoch ist
ein unerbittlicher Analytiker, seine Beobachtungsgabe ist von
unerhörter
Tiefenschärfe, er leuchtet verborgene Winkel aus, die fast
unzugänglich
scheinen für einen erhellenden Lichtstrahl. Und auch manch ein
Leser wird sich
selbst wiederfinden in den Figuren Leo Tolstois, wenigstens einen Teil
von sich,
einen Teil seiner alltäglichen Sorgen und Ängste.
Dazu gehört selbstredend
auch die Angst vor dem Sterben, und in Anbetracht dieser Furcht und als
Konsequenz aus derselben, die Verdrängung des Todes als ein
fernes Abenteuer,
das wohl den anderen, aber nicht einem selbst zustoßen kann.
Tolstoi führt in
diesem Zusammenhang den bekannten Syllogismus an: "Cajus ist ein
Mensch,
die Menschen sind sterblich, also ist Cajus sterblich", den wir in
Bezug
auf Cajus wohl für richtig halten, nicht aber in Bezug auf uns
selbst. Bis der
Tod dann irgendwann auch an uns herantritt. Und Tolstoi prangert die
aus diesem
Verdrängungsprozess resultierende Lüge an, dass der
Todgeweihte nur krank sei,
aber nicht sterbe, eine gesellschaftlich sanktionierte Lüge,
die wohl Trost
spenden soll, die in Wahrheit und in ihrem tiefsten Grund jedoch
entwürdigend
ist. Zitat: "Die Lüge, dieser unmittelbar vor seinem Tode an
ihm geübte
Betrug, der das schreckliche, feierliche Ereignis seines Todes auf das
Niveau
all ihrer Visiten, Gardinen,
Fischspeisen
zu Mittag herabdrücken sollte ... das
war es, was Iwan Iljitsch so furchtbar quälte." Das paradoxe,
wohl in
jedem Menschen vorhandene Wunschdenken, einerseits die Wahrheit wissen
zu
wollen, andererseits sich aber auch selbst wieder darüber
hinwegtäuschen zu
wollen, dieses Zerrissene, keimhaft im Menschen angelegte Schizophrene,
bringt
Tolstoi wie kaum jemand zur Geltung. Auch die Frage nach der Rolle
Gottes in
diesem grausamen Spiel des Lebens wird von Tolstoi aufgeworfen. Eine
Frage
allerdings, die auch er nicht beantworten kann, weil er weiß,
dass es keine
Antwort darauf gibt und auch nicht geben kann, solange wir an unser
Menschsein
gebunden sind. Und danach vielleicht auch nicht. Und mit dem Gedanken
an Gott
und an den Tod tritt auch endlich die Frage nach der Rechtfertigung des
eigenen
Lebens an den Sterbenden heran.
In der Erzählung 'Der Teufel' dreht sich alles, wie der Titel
vielleicht schon
erahnen lässt, um die Liebe. Doch auch diese Geschichte endet
tragisch ... mit
dem Tod. Hier wartet Tolstoi am Ende sogar mit zwei verschiedenen
Lösungen auf,
und beide Schlussvarianten sind auch in dieser Ausgabe abgedruckt.
'Wieviel Erde
braucht der Mensch?' ist eine Parabel auf die menschliche Habgier und
Raffsucht.
In 'Herr und Knecht', der letzten Erzählung dieses Bandes,
spielt neben der
Beziehung zwischen dem Herrn und seinem Untergebenen wiederum der Tod
eine
tragende Rolle. Tolstoi beschließt sie mit den Worten, mit
denen auch ich meine
Betrachtungen beschließen will: "Ob es ihm dort, wo er nach
seinem Tode
erwacht ist, besser oder schlechter geht, ob er sich in seinen
Hoffnungen
betrogen gesehen oder das gefunden hat, was er erwartete - das werden
wir alle
bald erfahren."
(Werner Fletcher; 07/2007)
Leo
Tolstoi: "Meistererzählungen"
Ausgewählt von Christian Strich.
Aus dem Russischen von Arthur Luther, Erich Müller und August
Scholz.
Diogenes, 2007. 306 Seiten.
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