J.R.R. Tolkien: "Roverandom"

Die Abenteuer eines kleinen Hundes, der einen großen Zauberer biss


1925 fuhr Familie Tolkien auf Urlaub an die Nordsee. Dabei verlor der junge Michael, "Nummer zwei" von John Ronald Reuels Söhnen, am Strand sein Lieblingsspielzeug, einen kleinen metallenen Hund, weiß mit schwarzen Flecken. Die Trauer beim Tolkien-Spross war groß, so groß, dass der Vater ein Märchen ersann, um dem Filius Trost zuzusprechen. Diese liegt Geschichte liegt nun vor uns.

Sie handelt von Rover, einem aufgeweckten kleinen weißen Hund mit neckisch schwarzem Fell ums eine Auge. Es ist ein schöner Tag in einem schönen Garten. Quirlig rast der vierbeinige Racker einem gelben Ball hinterher, dem seine ganze Aufmerksamkeit gilt. So versunken ist er ins Spiel, dass ihm das Nahen eines alten Mannes mit flickigen Hosen, langem Bart und grünem Hut samt blauer Feder nicht gewahr wird. Ein Fehler, wie sich bald erweist. Als der ungebetene Gast nahe bei ihm steht und Anstalten zum Berühren macht, knurrt und fletscht ihn Rover an. Mehr noch, er beißt dem Alten in die Flickenhose, ein Stück des Stoffes geht mit - wahrscheinlich auch ein Stück vom Zauberer selbst, denn ein solcher ist der Mann mit der seltsamen Kopfbedeckung. Die Rache des brüsk Zurückgewiesenen kann grimmiger nicht sein. Der Hexenmeister verwandelt Rover in einen Spielzeughund, geschrumpft und ständig Männchen machend. Dann zieht er - immer noch grollend - von dannen.

Rover hingegen findet sich bald als Figur im Schaufenster wieder. Eine Frau kauft ihn, um ihrem Sohn "Nummer zwei" (im Engl. "Two") ein Geschenk zu machen. Doch der Bub verliert Rover schon bald am Strand. Ausgerechnet der alte Sandzauberer Psamathos (Achtung! Unbedingt das "P" betonen, sonst kann er recht unwirsch werden) findet das hündische Strandgut. Psamathos ist ein sonderbarer Knilch, der am liebsten schläft und nur dann gerne wacht, wenn Nixen zum Tanz sich treffen. Bei jedem "p" aus seinem Munde stößt er Sandwolken durch die Nase und schilt Rover einen Narren, weil dieser Ataxerxes - so heißt der gebissene Magier nämlich - in den Allerwertesten gezwackt hatte. Unglücklicherweise sei Ataxerxes nicht nur ein sehr alter, sondern auch sehr mächtiger Meister der Zauberei, und der Fluch, der über Rover lastet, kann - wenn überhaupt - nur durch den Mann im Mond aufgehoben werden, meint der Herr des Sandes. Auf dem Rücken der Seemöwe Möwe (im Engl.: Mew), Psamathos’ Postboten, geht es über schwarze Klippen, donnernde Wasserfälle und das finstere Ende der Welt, immer den Mondpfad entlang, direkt zum fahlen Himmelskörper.

Bereits am Anfang der Erzählung fällt Tolkiens berühmte Liebe zum Detail auf. Seine Sätze glänzen wegen der vielen plastischen Adjektiva, seine Figuren werden durch genaue Beschreibungen ihres Aussehens oder ihrer Macken im Kopf des Hörers/Lesers ganz unwillkürlich zum Leben erweckt. Psamathos z.B. vergräbt sich am liebsten tief im Sand, offensichtlich behagt dem stolzen Sandzauberer sein Aussehen rein gar nicht. Er ist klein an Gestalt, von wenig gewinnendem Gesicht und mit Hasenfüßen versehen. Wen wundert da noch, dass er gewichtig Wert auf die korrekte Artikulation seines "klassisch" klingenden Namens legt? Ataxerxes wiederum, eine Ausgeburt an Mieselsucht, gewinnt durch sein Faible für die Pflaumenzucht. Heimlich braut er gern an Schnäpsen. Vor mehr als 2000 Jahren hatte er sich verirrt (gut möglich, dass es am "Pflaumengeist" lag). Und als er nach dem Weg zurück ins heimatliche Persien fragte, verstand man "Pershaw" anstatt "Persia" - seitdem lebte er in England. Der dritte große Magier - wahrscheinlich der mächtigste von allen - hat auch sein Bündel an Schrullen zu tragen. Ja, der Mann im Mond, flucht gerne auf Drachen, wenn er nicht durchs Fernrohr guckt oder an der Pfeife pafft und Klatschblätter von der Erde liest.

Am Mond, da erlebt der kleine Rover fast mehr als ein Hündchen seiner Größe ertragen kann. Immerhin lauern dort Schattenfledermäuse, Drachenmotten, Schwertfliegen oder Glaskäfer, deren Zangen wie Fallen aus Stahl zusammenschlagen. Nicht zu reden von den Spinnen, deren 57 verschiedene Arten feine Fäden spannen, um das Mondlicht zu fangen. Am schlimmsten von allen ist aber der Große Weiße Drache, ein furchtloser Geselle, der schwarzen Rauch und grünes Feuer speit. Er lebt - zusammen mit anderen seiner Art - und allerlei monströsen Wesen, deren Namen besser nicht ausgesprochen werden sollten, auf der dunklen Seite des Mondes, hinter schroffen Felsen und finsteren feuchten Sümpfen. Von seinem Lager fließt ein Rinnsal glühenden Feuers. Und gäbe es nicht den Mann im Mond, würde der Große Weiße Drache wohl den Mond ständig verdunkeln.

Doch Rover erlebt auch viel Schönes auf dem Erdtrabanten. Er lernt sein geflügeltes Ebenbild, den Mondhund Rover, kennen und schätzen. Gemeinsam durchstehen sie mancherlei Abenteuer. Wunderbar, wie Tolkien fantasievoll das Leben am Mond beschreibt. Auf dessen heller Seite leben vogelgroße Insekten und insektengroße Vögel. Eine reiche Flora - Feen,- Weiß,- und Klingelglöckchen - sorgen für dauerhafte Sphärenklänge, verstärkt durch Poly- bzw. Phonieminze. Unter dem mattblauen Blätterdach fast endloser Wälder machen Klingelglöckchen zart und leise wohlige Musik. Mondschafe grasen friedlich neben schimmernd hellen Kaninchen und Hörnchen, während ein einziger weißer Elefant (nur eselsgroß) im Gedanken versunken seine Kreise zieht. Auch Kobolde verschlug es auf den Mond, Mobolde genannt. Gerne verspeisen sie Pfannkuchen aus Schneeglöckchen, pflanzen kleine goldne Apfelbäume (nicht größer als Butterblumen) oder reiten geschwind auf Mondkaninchen.

Es ist der Mann im Mond, der Rover seinen neuen Namen verleiht: Roverandom, denn schließlich gibt es mit dem Mondhund schon ein Tier ersteren Namens. Als Roverandom im Traumland - ebenfalls am Mond gelegen - die Gedanken des Jungen "Nummer zwei" erfährt, dem er sehr fehlt, will er nur mehr eines: runter zur Erde.

Auf Möwes Schwingen geht’s zurück zum blauen Globus. Roverandom beschließt, Ataxerxes aufzusuchen und um Verzeihung zu bitten, damit er seine Gestalt wiedererhält und heim zum Jungen "Nummer zwei" kehren kann. Doch der griesgrämige Hexenmeister weilt nun am Grund des Ozeans. Beim Bad im Mondlicht und Tanz der Nixen hatte er sich in die Tochter des Meereskönigs verliebt. In Uins Rachen, dem ältesten aller Grönlandwale, taucht Roverandom zum Palast des Meereskönigs hinab. Dort angelangt, schenkt Ataxerxes seinen Bitten jedoch kein Gehör. Zu sehr widmet sich der Alte im x-ten Frühling seinen neuen Aufgaben, Gemahl der Prinzessin und PAM zu sein. PAM? Pazifisch-Atlantischer-Magier: der höchste Posten, seit die alten Götter Poseidon, Triton oder Nereus sich in Korallen verwandelten und das Reich schutzlos dastehen ließen.

Dank Psamathos’ Magie kann Roverandom auch unter Wasser atmen - und wieder findet er sein Ebenbild, ein Hundchen namens Rover, versehen mit Flossen, das einst einem Piraten gehörte, der spurlos in den Fluten verschwand. Wie schon am Mond, gedeiht auch im Unterwasserreich reiches Leben: wilde Pflanzenpracht, fragile Meeresfeen in Kutschen aus Muschelhorn, oder aber kecke Seekobolde, die auf Seepferdchen rasen und bei Sturm und Brandung an der Küste toben. Leider hat der Ozean - analog zum Mond - seine dunkle Seite, abgrundtiefe Schwärze, in der von Alters her namenlose Kreaturen von unbeschreiblicher Macht und Rage ihr Unwesen treiben. Die größte Gefahr aber droht von der Uralten Seeschlange, die in einer Reuse nicht weit vom Palast schläft. Wacht sie auf, drohen Flut, Wut und Verheerung. Selbst Fische würden ob des Tosens "seekrank" werden. Ataxerxes, der große PAM, soll sie besänftigen. Ein Vorhaben, das aufgrund von Roverandom gründlich scheitert. J.R.R. Tolkien scheint bei der Beschreibung von Mond und Meer dem alten hermetischen Prinzip "Oben wie unten" zu folgen; einer Entsprechung, typisch für magische Weltbilder.

Wie dem auch sein mag. Es liegt in der Natur von Märchen, dass sie ein gutes Ende nehmen, so auch dieses. Doch weil den Ausgang verraten eine gar garstige Angewohnheit ist, bleibt der Rezensent in den Einzelheiten still.

Für Tolkienforscher stellte "Roverandom" bislang bloß eine Randnotiz im Oeuvre des Meisters dar, da die Handlung nicht ins gewohnte Gefüge von Mittelerde passt. Wenngleich dem Eingeweihten auch in dieser Geschichte ein Hinweis auf das Reich der Elben zuteil wird. Als Roverandom mit Uin den westlichen Ozean durchschwimmt, kann sein Auge die Heimat der Elben von weitem vage erkennen, er ist "eines der sehr wenigen Geschöpfe - ob auf zwei oder vier Beinen -, die in unseren Landen umherziehen und sagen können, sie hätten das Andere Land erspäht, wenn auch in weiter Ferne." (Uin). In "Der Herr der Ringe" ist dies eben jene Sphäre ganz weit im Westen, in die das Elbenvolk sich zu Ende des Dritten Zeitalters (zusammen mit Gandalf und den Hobbits Bilbo und Frodo) zurückzieht. Aber auch manch anderen Mythos lässt J.R.R. in "Roverandom" anklingen. Den etwa vom Kampf des Weißen gegen den Roten Drachen im Wales zu Merlins Zeiten. Oder aber jenen über den Untergang eines ganzen Kontinents, als der Mann im Mond gegen die Uralte Seeschlange kämpfte (Macht der Gezeiten, Seebeben, Atlantis?).

Wer bereit und willig ist, dem eröffnet selbst das Märchen vom unscheinbaren kleinen Hund mit dem schwarzgefleckten Auge Tür und Tor zu neuen Reichen der Legende. Roverandom, vom Namen her ein scheinbar "zufällig Umherziehender", ist in der literarischen Wahrheit einer jener schicksalsbestimmten Tolkienschen "Pilger", die mit dem Umfang ihrer Aufgabe ständig an persönlicher Größe gewinnen.

(lostlobo; 12/2004)


J.R.R. Tolkien: "Roverandom"
Der Hörverlag, 2003. Sprecher: Ulrich Noethen. (Vollständige Lesung)
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