Olga Tokarczuk: "Letzte Geschichten"
Ästhetischer und rätselhafter
Generationenroman
Die Reiseleiterin Ida Marzec ist nach langer Zeit
in die Gegend zurückgekehrt, aus der sie stammt, um noch einmal ihr Elternhaus
anzusehen. Es ist ein Tag im schneereichen Februar; in der Nähe eines Dorfs
verliert sie die Kontrolle über ihr Auto und fährt gegen einen Baum. Ein
verschrobenes altes Ehepaar nimmt die nur leicht Verletzte fürsorglich auf. In
der sonderbar abgeschlossenen Welt des Bauernhauses verfolgen Ida
Erinnerungsfetzen, alte und solche, die das ständige Kreisen in ihrem
gegenwärtigen Leben beschreiben - auf der von ihrer Reisegesellschaft
angebotenen, immer gleichen Fünf-Städte-Tour. Ida weiß, dass sie in ihrem
vorübergehenden Exil nicht bleiben kann, aber sie weigert sich, den Weg zurück
in ihr Leben zu finden.
Dies ist die erste der drei "Letzten Geschichten", die zusammen einen Generationenroman
um drei Frauen ergeben: Ida, ihre Mutter Paraskewia und Idas Tochter Maja. Jede
von ihnen ist Protagonistin einer der Geschichten; zwangsläufig kommt es zu
oft zunächst rätselhaft wirkenden Berührungspunkten, eigentlich jedoch nur peripher:
Die Frauen kreisen stark um ihr eigenes Ich, scheinen losgelöst vom Rest der
Welt und auf der Flucht vor dem
Leben
(oder sich selbst?) zu sein und schaffen sich eigene Welten. Bricht die Wirklichkeit
in diese Welten ein, so lehnen sich die Frauen trotzig und nachhaltig dagegen
auf.
Paraskewia, eine ethnische Ukrainerin,
hat die Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung aus dem der Sowjetunion
zugeschlagenen Teil Polens durchlitten und nie wieder richtig Fuß gefasst. Die
junge Maja durchreist mit ihrem zehnjährigen Sohn als Autorin von Reiseführern
die Tropen. Zu Männern haben die drei Frauen ein seltsam distanziertes und doch
im Grunde intensives Verhältnis; Paraskewia und ihren Mann verbindet eine
eigentümliche Hassliebe, Maja und Ida hängen vor allem an ihrem jeweiligen
Vater. In Maja bricht der Schmerz um das Verschwinden ihres Vaters auf, als sie
während ihrer Tropenreise einen amerikanischen Zauberkünstler kennen lernt, der
sie stark an ihn erinnert.
Olga Tokarczuk ist eine begnadete Erzählerin,
die Stimmungen und Seelenzustände poetisch und bilderreich, ja, mit von Ästhetik
geprägter Ausdruckskraft schildert - ein Lob für die Übersetzerin darf hier
nicht fehlen.
Scheinbar zufällig werden Rückblenden eingestreut, aus denen
der Leser sich allmählich ein Bild der jeweiligen Frauenfigur zusammensetzt. Die
rätselhaften Wege des Lebens stehen bei diesem Roman im Vordergrund, die
gemeinsamen Urängste und die unterschiedlichen Versuche, sie abzuschütteln.
Nicht umsonst spielen alle drei Geschichten im Februar, die zwei ersten im
verschneiten, kalten Polen, die dritte in tropischer Schwüle. Doch auch deren
Protagonistin muss schließlich den Heimweg nach Polen antreten.
Das Buch
überzeugt zudem durch die tadellose Aufmachung. Mir persönlich gefällt übrigens
das Umschlagbild ausnehmend gut, weil es die Grundstimmung des Romans
hervorragend widerspiegelt.
(Regina Károlyi; 02/2006)
Olga
Tokarczuk: "Letzte Geschichten"
Aus dem Polnischen von
Esther
Kinsky.
DVA, 2006. 298 Seiten.
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Weitere Bücher der Autorin
(Auswahl): "AnnaIn in den Katakomben. Der Mythos der Mondgöttin
Inanna"
"Unrast"
Eine Frau und ihr kleiner Sohn verschwinden auf mysteriöse Weise während des
Urlaubs; eine orthodoxe Sekte will durch ständige Bewegung dem
Teufel
entkommen; die Ich-Erzählerin ist auf permanenter Wanderschaft: In ihrem Buch
"Unrast" beschäftigt sich die große polnische Autorin Olga Tokarczuk
mit der Reiselust und dem Nomadentum des modernen Menschen. In einer Vielfalt
von Texten, von der Reiseerzählung über mythologische Geschichten bis zur
pointierten philosophischen Betrachtung, bannt sie die Hektik des modernen
Lebens in einen feinverwobenen erzählerischen Kosmos, der durch brillante Prosa
besticht.
Olga Tokarczuks Figuren sind Getriebene, Flüchtende vor der Starrheit der
Zuordnung, der Verwurzelung, rastlos auf der Suche nach einer immateriellen
Heimat. Der Weg dorthin führt durch ein faszinierendes
Labyrinth von
Geschichten über Menschen, Dinge, Orte und Zeiten, die dieses Buch zu einer
wahren Welt für sich machen.
"Die Reise ist wohl die größtmögliche Annäherung an das, was unsere
moderne Welt zu sein scheint: Bewegung und Instabilität. Jede Epoche sieht sich
versucht, den Zustand des zeitgenössischen Menschen mit irgendeinem schlauen
Wort zu beschreiben. Mir scheint, dass für unsere Zeit 'Unrast' ein solches
Wort sein könnte." Olga Tokarczuk. (Schöffling & Co.)
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Die Konstellation dieses Mythos ist aus vielen Kulturkreisen bekannt: Ein
geliebter Mensch wird im Tausch für das eigene Lebensglück geopfert. Im Falle
AnnaIns ist die das Opfer einfordernde Göttin ihre eigene Schwester. Die
Sprache von Olga Tokarczuk, mit der sie die Gegensätzlichkeit und Hassliebe der
Schwestern sowie ihre Welten beschreibt, ist einzigartig, bildreich und sehr
poetisch. (dtv)
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