Temple Grandin: "Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier"

Wie ich als Autistin Menschen und Tiere einander näher bringen kann


"Ständig wird gesagt, der Mensch habe das Tier domestiziert. Er habe Wölfe in Hunde verwandelt. Doch neuere Forschungen legen nahe, dass der Wolf den Menschen ebenfalls domestiziert hat. Der Mensch hat sich gemeinsam mit den Wölfen entwickelt: Wir haben die Wölfe verändert und sie uns."

(Temple Grandin)

Will man sowohl den Buchtitel als auch das besondere Motiv der Autorin von Grund auf begreifen, so bedarf es einer kurzen Erläuterung zur Person. Temple Grandin ist seit ihrer Geburt Autistin, was sie Tieren zwar nicht wesensverwandt, jedoch in zentralen Wesenszügen ähnlich macht. Der durch ihren Autismus bedingte Zustand innerer Zurückgezogenheit ermöglichte ihr von Kindheitsbeinen an einen besonderen und wohl auch ungewöhnlichen Zugang zur Weltsicht des Tieres. Denn während es die Art normaler Menschen ist ihre Wahrnehmungen ständig zu verallgemeinern, zu abstrahieren und in ihrem Lebensvollzug generalistisch zu verfahren, sind Tiere und Autisten hyperspezifisch und detailorientiert.

In ihrer Wahrnehmung vernachlässigen Menschen unzählige Details, die für Tiere und Autisten jedoch die Welt bedeuten. Ein Lichtschatten oder eine unscheinbare Winzigkeit können Tiere und Autisten verängstigen, während gesunde Menschen dieser Dinge nicht einmal gewahr werden.

Die Gnade ihres Autismus also, eigentlich ja ein Manko, eine Lebensbürde, machte es der Tierwissenschafterin Temple Grandin möglich, die Tier-Mensch-Beziehung aus einem völlig neuartigen Blickwinkel zu erforschen. Nicht rein über intellektuelles Sinnieren, über Beobachtung und Studium von Verhaltensweisen oder das Verständnis tierischer Anatomie, sondern eben aus der Perspektive des Tieres selbst näherte sich die Forscherin dessen Weltsicht an. Deswegen: "Ich sehe die Welt wie ein Tier" - und wie "ein frohes Tier", denn dieses, das frohe Gemüt, ist das tierethische Anliegen von Temple Grandin in ihrem Buch. Tiere und Menschen sind Lebensgenossen; Tiere machen Menschen erst richtig menschlich. Wir sind es ihnen schuldig und dafür verantwortlich, dass ihr Dasein ein frohes ist.

An wen richtet sich nun dieses Buch? Für wen möge es als nützlich und interessant erkannt sein? Nebst privaten und kommerziellen Tierhaltern, Tierärzten, Schlachthausbetreibern und Landwirten, eigentlich für jedermann, den die Psychologie des Lebens interessiert, denn Temple Grandin geleitet den Leser auf einen gelehrigen Streifzug durch die Seelenlogik lebendigen Seins. Angst und Freude, wie fühlen Tiere? Aggressives Verhalten, Schmerz und Leid, wie genial sind Tiere? Wie denken Mensch und Tier? Worin unterscheiden sich Wahrnehmungspotenziale? Wie klug ist das Tier im Vergleich mit der Krone der Schöpfung, als welche sich der Mensch wähnt? Hierzu erwarten den Leser sensationelle Erkenntnisse aus der Lebensforschung, denn Temple Grandin wartet mit noch keineswegs allbekannten Studien und Berichten zum Sprachvermögen von zahmen und wilden Tieren auf. Sprache sei letztlich keineswegs - wie zum Beispiel vom Linguisten Noam Chomsky angenommen - eine besondere Gabe des Menschen, sondern entstehe überall dort, wo sie für das Überleben notwendig sei und gedeihe dabei - je nachdem - bei einzelnen Tiergattungen zu erstaunlicher Ausdruckskraft, deren Grundzug allemal höchst musikalisch sei. Was bereits Wolfgang Amadeus Mozart erkannt haben soll, dessen künstlerische Freundschaft mit einem zahmen Star legendär und durch Werksnotizen des Komponisten belegt ist.

Temple Grandin hat es in den USA zu einer gleichermaßen bemerkenswerten wie segensreichen Wirkkraft gebracht. Ihre Bemühungen um eine fundamentale Verbesserung der Haltungs- und Schlachtungsbedingungen für Nutzvieh wurden von gegenüber dem Tierschutzgedanken aufgeschlossenen Geschäftsführungen großer Lebensmittel- und Gastronomiekonzerne mit regem Interesse wahrgenommen, und so ereilte sie im Jahre 1999 aus den Managementetagen einer Fastfoodkette der Ruf, sämtliche zuliefernde Schlachthöfe und Tierfarmen nach ihrem tierfreundlichen Konzept neu zu gestalten. In weiterer Folge oblag es Grandin, die umfassende Reform der Nutztierhaltung des Weiteren zu kontrollieren und bei Zuwiderhandeln der Mäster und Schlächter gegen diese allfällige Sanktionen zu verfügen. Was Frau Grandin dann auch tat, mit fruchtender Strenge. Die Fastfoodkette machte den Anfang; Andere folgten bald nach. Mittlerweile ist die Haltung und Schlachtung von Nutztieren in den USA im Sinne von Grandin revolutioniert. Ein großer Schritt in Richtung der Wirklichkeit des "frohen Tieres" ist vollzogen. Sein kurzes Leben möge dem Vieh eine Genugtuung sein; sein Tod rasch und ohne Qual. Dass der Mensch zu seinem Wohlleben und Verzehr Tiere hält und mästet, wird von Grandin - bei aller Hochachtung für Vegetarier und Veganer - definitiv als faktisch unabänderliche Naturgegebenheit bejaht. Für militante Tierschützer hegt sie deswegen und aus anderen Gründen eher wenig Verständnis, denn diese hätten zwar hehre Motive, doch ermangle es ihnen an Sachverstand und praktischer Vernunft, weshalb sie als Eifernde mit ihrer Blindwütigkeit mehr Schaden denn Nutzen anrichten würden.

Keineswegs könnte sich an Temple Grandin der Vorwurf einer Tierrechtsromantikern verfangen, denn ihre Schrift ist unerbittlich um einen klaren Blick auf das, was in der Welt wirklich ist, bemüht. So wissen wir doch alle, dass Menschen zuweilen bösartig sind, vergewaltigen, foltern, rauben und morden, im Kollektiv aus nichtigen Gründen Kriege anzetteln und führen. Dass Tiere das alles ebenso tun, stellt Grandin unmissverständlich klar. Ameisen inszenieren gewaltige Schlachten, und Schimpansenhorden führen untereinander ebenso blutige wie unsinnige Kriege. Männliche Delfine vergewaltigen, richten ohne Notwendigkeit Massaker an, und Killerwale wurden beim stundenlangen, mörderischen Quälen von Walkälbern beobachtet. Nichts Menschliches ist den Tieren fremd, und wie beim Menschen ist auch beim Vieh die Ausdrucksform der Gewalt überwiegend dem männlichen Geschlecht vorbehalten. So besagt eine jede Statistik über Hundebisse, dass nicht kastrierte Rüden um ein Mehrfaches öfter und fester zubeißen als Fähen und kastrierte Rüden. Was nicht einfach darauf zurückzuführen ist, dass Rüden eher in falsche Hände geraten. Das männliche Testosteron im Blut macht sie aggressiv.

Für Hundefreunde ist Grandins Buch ein besonderer Leckerbissen, liest es sich doch über weite Strecken wie eine Biologie und Kulturgeschichte des Hundes, obgleich - von einigen schon sehr spezifischen Thematisierungen einmal abgesehen - es nie ganz zum Hundebuch wird. Vor allem im zweiten Teil der Schrift verdichten sich die Abhandlungen zum Thema Hund um schlussendlich in eine faszinierende Anthropologie des Hundemenschen einzumünden, welche anhand einer beeindruckenden Fülle von anthropologischen Forschungsbefunden besagt, dass nicht nur der Mensch den Wolf (zum Hund), sondern in noch höherem Maße der Wolf (bzw. Hund) den Menschen domestiziert hätte. Was daran erkenntlich sei, dass der Mensch in seinem Sozialverhalten als Säugetier aus der Ordnung der Primaten weitaus weniger mit anderen Primaten (den Menschenaffen) denn mit Wölfen gemeinsam habe.

In grauer Vorzeit taten sich demnach Menschen (damals fast noch mehr Homo erectus denn Homo sapiens) und Wölfe zusammen, lernten voneinander, insbesondere jedoch der Mensch vom Wolf (indem er sich wölfische Fähigkeiten aneignete), verschmolzen in Gestalt des modernen Menschen (Homo sapiens) und des Hundes (Canis lupus familiaris) zu einer Wesenseinheit und begründeten eine in der Naturgeschichte ebenso einzigartige wie einzigartig erfolgreiche Entwicklungspartnerschaft. Nach der Auffassung von Grandin wäre der moderne Mensch nicht so, wie er heute ist, vermutlich wäre er nicht mehr als eine primitive Existenzform wie einst der Neandertaler, oder er wäre gleich dem hundelosen und wahrlich rein menschlichen Neandertaler längst bereits ausgestorben, hätte er sich nicht zusammen mit dem Hund entwickelt. Und in der Tat gibt es nebst Grandin zusehends mehr Anthropologen, die den modernen Menschen insoweit als "Schöpfung des Wolfes" erachten, als dass er ohne die enge Partnerschaft mit Wolf und Hund vermutlich überhaupt nicht existieren würde, geschweige denn jemals eine Hochkultur hervorgebracht hätte.

Temple Grandin hat ein in seiner originellen Gedankenfülle bemerkenswertes Buch geschrieben, dessen leidenschaftlicher Tiefsinn jeden Leser betören muss. Engagement für Tierrechte und strikte Sachlichkeit reichen sich in ihren Zeilen zu einem wohltuend ausgewogenen Miteinander die Hände. Keinerlei verfälschende Mythen vom vorgeblich edlen Tier werden gepflegt, denn Grandin ist stolz darauf, mit beiden Füßen fest auf der Erde zu stehen. So wie es Tiere allemal ebenso tun. Selbst noch die bei übereilter Betrachtung spekulativ anmutende These vom Hunde- bzw. Wolfsmenschen ist in der Tat seriös, weil wissenschaftlich fundiert ausgeführt. Grandins Sprachfluss ist von der ungezwungenen Leichtigkeit eines durchaus melodiösen und schlichten Ausdrucks, ohne jeden Anflug von wortartistischer Koketterie, bar jeglichen Fachlateins und alles in allem von still bewegter Schönheit. Anmutig eben, weil es die liebende Sorge um des Tieres Wohlergehen ist, welche die Autorin zum Schreiben bewegt. Und ist es denn nicht das sittliche Motiv, das jede Bewegung verklärt und verzaubert?

(Harald Schulz; 11/2005)


Temple Grandin: "Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier"
(Originaltitel "Animals in Translation")
Deutsch von Christiane Burkhardt.
Ullstein, 2005. 381 Seiten.
ISBN 3-550-07622-3.
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Temple Grandin ist Professorin für Tierwissenschaften an der Colorado State University. Sie schrieb Hunderte von wissenschaftlichen Aufsätzen und mehrere Bücher über Autismus und Tierverhalten. Lien zur Netzseite der Autorin: https://www.grandin.com/.