James Thomson: "Die Jahreszeiten / The Seasons"
Ein Klassiker neu zu entdecken
Jedes Jahr sind sie mehrmals im
Konzertsaal zu hören, "Die Jahreszeiten", Oratorium von Joseph Haydn. Wer das
Programmheft genauer liest, wird dort den folgenden Hinweis finden: Text des
Oratoriums "nach" James Thomson. Wer sich nun wiederum für diese Textvorlage
interessieren sollte, der hatte bisher keine Möglichkeit, sich kundig zu machen.
Thomsons "The Seasons" sind am Buchmarkt seit Jahren vergriffen. Der Verleger
Urs Engeler - und dafür gebührt ihm ungeteilter Beifall - schafft hier Abhilfe:
In einer mustergültigen Edition publiziert er Thomsons "Die Jahreszeiten" in
einer zweisprachigen Ausgabe. Der erste Teil des Buches bringt die deutsche
Fassung, nach einem Essay des Übersetzers
Wolfgang
Schlüter folgt die englische Version, wobei die Seitenzählung in der
englischen Fassung wieder bei 1 beginnt. Dies hat den großen Vorteil, dass man
die deutsche Version ohne große Mühe mit der englischen Vorlage vergleichen
kann: durch diese Paginierung sind beide Fassungen seitenident: jede Seite in
deutscher Sprache mit einer bestimmten Seitenzahl hat weiter hinten im Buch
einen englischen Zwilling mit derselben Seitenzahl.
Was aber könnte einen
heutigen Leser dazu verführen, sich mit dem Text von James Thomson (1700-1749),
einem, so könnte man sagen, englischen
Klopstock, zu befassen? Für einen
Liebhaber klassischer Musik mag die Tatsache ausreichen, dass Baron van Swieten
diesen Text zur Vorlage für Haydns Komposition umgearbeitet - präziser wäre wohl
die Bezeichnung "verstümmelt" - hat. Was hat dieser Text aber für den
Normalleser zu bieten?
Zunächst sei der Klassikfreund davon in Kenntnis gesetzt, dass Thomsons "The
Seasons" mit der beschaulich-naiven Welt der Haydnschen "Die Jahreszeiten" so
gut wie nichts zu tun haben. Um nur ein besonders auffälliges Beispiel zu geben:
Während in Haydns "Winter" der Wanderer am Ende seiner gefährlichen Expedition
in Eis und Schnee - dank eines in der Ferne leuchtenden Lichts einer Hütte -
doch noch den Weg zurück in die menschliche Gesellschaft, bei Haydn gleichbedeutend
mit Behaglichkeit und Wärme, findet, muss derselbe Wanderer
in Thomsons "Winter" jämmerlich erfrieren.
Haydnsche Gemütlichkeit wird man bei Thomson also kaum finden.
Sehr wohl jedoch ausführliche Naturschilderungen; eine große Anzahl von
Beobachtungen zu allen möglichen Daseins-Phänomenen in allen möglichen
Weltgegenden, Beobachtungen, die das Weltwissen im 18. Jahrhunderts auf geradezu
enzyklopädische Weise wiedergeben; philosophische Reflexionen und Kommentare zum
Beobachteten; schließlich Dankadressen an die Gönner sowie kritische Seitenhiebe
auf die Gegner des Autors, was eine gesellschaftspolitische Verortung Thomsons
erlaubt.
Können diese Aspekte einen heutigen Leser ansprechen? Mich
persönlich haben vor allem jene Seiten interessiert, in denen die
politisch-philosophischen Auseinandersetzungen und Diskussionen jener Zeit
anklingen, sowie jene Stellen, die quasi soziologische Einblicke in die
gesellschaftliche Ordnung des 18. Jahrhunderts (beispielsweise in das Verhältnis
des schreibenden Intellektuellen zu seinen - im Text hofierten - Gönnern)
erlauben. Die Naturschilderungen und enzyklopädischen Betrachtungen dagegen
haben im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter der lückenlosen multimedialen
Aufbereitung jeder nur erdenklichen Facette des beobachtbaren Universums, ihre -
vor zweihundertfünfzig Jahren wahrscheinlich noch sensationelle - Wirkung
großteils eingebüßt.
Die größte Stärke der "Seasons" liegt meines
Erachtens aber in der sprachlichen Gestalt des Textes selbst, und zwar, so
möchte ich hier unterstreichen, der englischen Version. Wer ein "Ohr" für die
lyrischen Qualitäten des Blankverses hat und sich auf den "sound" des
Thomsonschen Epos einzulassen versteht, der wird, so meine ich, mit jenem
ästhetischen Genuss belohnt, der für die Texte der Klassiker so kennzeichnend
ist. Die hochambitionierte Übersetzung von Wolfgang Schlüter kann diese
Qualitäten nur teilweise ins Deutsche transferieren. Vor allem die inhaltliche
Prägnanz der englischen Fassung geht in der deutschen Version an vielen Stellen
verloren. Die Übersetzung wirkt holpriger, umständlicher, weniger entspannt als
das Original. Natürlich will das kein Vorwurf an den Übersetzer sein, der mit
jeder Zeile seiner Übersetzung seine Fachkundigkeit ebenso belegt wie seine
Freude am Rekonstruieren der für die Hochliteratur des 18. Jahrhunderts
typischen Diktion. Es handelt sich bei solchem Verweis auf die englische
Originalversion ausschließlich um die Anerkennung der nicht übersetzbaren
sprachlichen Exzellenz eines Klassikers, um dessen Neuentdeckung sich der Verlag
Urs Engeler große Verdienste erworben hat.
(alexart; 12/2003)
James Thomson: "Die Jahreszeiten / The
Seasons"
Deutsch / Englisch.
Übersetzt von Wolfgang Schlüter.
Gva
& Frieden, 2003. 440 Seiten.
ISBN 3-905591-68-5.
ca. EUR 28,-.
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Gottfried van Swieten übersetzte und
bearbeitete "The Seasons" einst: Er schrieb das Libretto für
Joseph Haydns
(1732-1809) anno 1801 uraufgeführtes Oratorium "Die Jahreszeiten".
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