Das Thomas-Evangelium


1945 wurden in Nag Hammadi, einem Ort in Oberägypten, in einem Krug dreizehn in Leder gebundene Papyrusbücher gefunden. Einmal entziffert stellte sich heraus, dass der Großteil dieser Codices zu den wichtigsten Dokumenten des gnostischen Christentums gehört.

Die Gnosis (von griechisch "gnosis" - "Erkenntnis") ist kurzgefasst eine möglicherweise aus Ägypten, jedenfalls aber aus vorchristlicher Zeit stammende Geistesströmung, welche von einer höchsten Wirklichkeit, einem Urgrund ausgeht, der sich durch den Vorgang der Schöpfung in verschiedenen mehr oder weniger verunreinigten, das heißt durch Beimengung des Irdischen von seinem reinen Ursprungszustand entfremdeten, Seinsformen manifestiert. Der Mensch hat grundsätzlich die Möglichkeit, diese höchste Wirklichkeit zu erkennen - ist sie doch nichts anderes als sein eigenes Wesen - muss zu diesem Zweck jedoch von den Verhaftungen des Irdischen befreit bzw. (um einen christlichen Begriff zu verwenden) erlöst werden, was durch ein schrittweises Abstrahieren und letztlich Transzendieren seiner eigenen konditionierten Gefühls- und Gedankenwelt, oder anders ausgedrückt durch Erkenntnis des Tatsächlichen verwirklicht werden soll. Diese Weltsicht weist starke Parallelen mit mittel- und ostasiatischen Traditionen auf, wie überhaupt die Gnosis (auch ihre christliche Tochter, die Christus als den Zeugen für die höchste Seinsstufe sieht) eine universalistische Erscheinung ist, die keine Scheu hat, andere Traditionen auf ihrem Weg miteinzubeziehen.
So verwundert es auch nicht, dass der Fund von Nag Hammadi auch Nicht-Christliches wie Übersetzungen von Platotexten (allerdings gnostikernahe Passagen) beinhaltet.

Und auch die wahrscheinlich bedeutendste Schrift aus dem Fund von Nag Hammadi, das sogenannte Thomas-Evangelium, unterscheidet sich von anderen rein gnostischen Texten dadurch, dass es sich kaum der sonstigen Fachausdrücke gnostischer Theologie bedient, mithin unabhängig entstanden und wahrscheinlich älteren Ursprungs ist. Ohne auf die zahlreichen Spekulationen über den Verfasser des Thomas-Evangeliums eingehen zu wollen (dazu finden Sie übrigens einiges Interessante im Vorwort des vorliegenden Buches), möchte ich nur erwähnen, dass des Apostel Thomas` berühmte Ungläubigkeit nicht in erster Linie als mangelndes Urvertrauen oder hartnäckiges Leugnen des nicht Materiellen, sondern als Vorliebe für selbständiges Verstehen angesehen werden kann, und Thomas, der Zwilling (so nennt sich auch der Verfasser jener Schrift), in diesem Sinn als Ahnherr der christlichen Gnosis sehr einleuchtend ist.

Abgesehen von seinem Prolog

Dies sind die geheimen Worte,
die Jesus der Lebendige sprach
und die Didymus Judas Thomas aufgeschrieben hat.

besteht das Thomas-Evangelium aus 114 Logien, vermischten, in etwa thematisch geordneten Sprüchen. Allen Logien ist gemeinsam, dass Jesus in ihnen auftritt, indem er kurz und bündig (meist in 2-3 Sätzen oder innerhalb eines Kurzdialogs mit einem seiner Jünger), ein Thema anspricht. Nicht zur Sprache kommt im Thomas-Evangelium das Leben Jesu und seine Umstände (möglicherweise eine zu irdische Thematik). Mit dem Wort "geheim" spielt der Verfasser auf der Worte versteckten Sinn an, ihre tiefste Bedeutungsebene, die sich erst bei vollständigem Verstehen des Textes offenbart.
Und das ist nicht einfach - der Jesus des Thomas-Evangeliums bedient sich einer stark symbolischen Bildersprache, die im übrigen der Sprache der kanonisierten Evangelien zum großen Teil sehr ähnlich ist, bis hin zur Identität mancher Sprüche.

Insgesamt sind es allerdings deutlich kühnere, unerwartetere (manchmal auch gewalttätige und erotische) Bilder und Gleichnisse, als wir sie aus dem Neuen Testament kennen. Der Jesus des Thomas-Evangeliums will seine Jünger aufrütteln, ihre Sichtweisen in Frage stellen, und bedient sich dazu sehr oft provokanter Wendungen. Ein Beispiel für dieses verunsichernde Element, überhaupt für eine größere Radikalität der Sprache, ist - im Vergleich mit der verwandten Stelle bei Matthäus - das Logion 14 über das Fasten, dessen Schlusssatz sich auch zur Traumdeutung trefflich eignet.
Aus dieser Radikalität ergibt sich, dass auch der Gegner (wiederum grundsätzlich kein Unterschied zum kanonisierten Jesus) besonders häufig und scharf angegriffen wird: das Farisäertum als Inbegriff von Heuchelei und starrer Buchstabengesetzlichkeit, den Durchschnittsmenschen in seiner Gier nach Besitz und Sicherheit (der nicht dürstet nach dem
"Königreich des Vaters") sowie die Laxheit und Halbherzigkeit des Wahrheitssuchers.
Ein größerer Schwerpunkt als im Neuen Testament, um nicht zu sagen die Hauptthemen, sind der nachdrückliche Hinweis auf die fundamentale Einheit alles Seienden und das jedem Menschen grundsätzliche Lichthafte, die Unterscheidung zwischen
Lebenden und Toten sowie der damit (und offensichtlich auch mit ostasiatischerem Erfahrungsgut) zusammenhängende Begriff der Auferstehung.
Und auch sonst gibt es einige interessante Überraschungen, zum Beispiel einen filosofierenden Jesus und die Andeutung einer mündlichen Übertragungslinie von Jesus zu Thomas.

Als Brücke in die Gegenwart hat der Mystiker und Dichter Erik van Ruysbeek jedes einzelne Logion mit einer poetischen Reflexion, Marcel Messing das Buch mit einem ausführlichen Vorwort versehen.

(stro; märz 02)


Hrsg E. van Ruysbeek; M. Messing:
"Das Thomasevangelium"

Benzinger Verlag. 164 Seiten.
ca. EUR 9,95.
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Lien: Das Thomasevangelium in deutscher Übersetzung nebst einigen Anmerkungen