Donna Tartt: "Der kleine Freund"

Eine Mischung aus Mr. Ripley, Miss Lizzie und Tom Sawyer

Donna Tartt erzählt in ihrem neuen Roman "Der kleine Freund" nicht nur von einem schrecklichen Verbrechen, sondern auch von einer Familie, die mit diesem Verbrechen leben muss.


Zwölf Jahre ist es her, dass der kleine Robin am Muttertag im Garten der Familie erhängt aufgefunden wurde. Der Täter konnte von der Polizei nie gefasst werden. Doch von diesem Tag an war nichts so wie zuvor. Robins Vater verließ mehr oder weniger die Familie und verlor das Interesse an seinen Töchtern. Die Mutter schaffte es nicht, das Erlebte zu verarbeiten, und lebt seither in ihrer eigenen kleinen Welt aus Beruhigungsmitteln und erzwungenem Schlaf. Die Großmutter, die Robin über alles geliebt hat, bewahrte zwar nach außen hin ihre Haltung und schaffte es, relativ normal weiter zu leben, doch auch sie kommt nie über Robins Tod hinweg, und es ist ihr nicht möglich, mit jemandem über Robin zu sprechen.

In dieser noch immer vom Schock versteinerten Familie wächst Harriet, die zum Zeitpunkt von Robins Tod noch ein Baby war, zusammen mit ihrer um drei Jahre älteren Schwester auf. Harriet, ein Mädchen, von dem man gemeinhin sagen würde, es wäre besser als Junge zur Welt gekommen, ist wild und eigensinnig und kann sich mit den Grenzen, die ihr von der Gesellschaft und der Familie vorgegeben werden, nicht abfinden. Ihr Bruder, von dem alle nur reden als sei er ein wahrer Engel gewesen, und das Verbrechen, über das niemand redet, üben auf Harriet eine ungemeine Faszination aus. Und so beginnt sie in einem heißen Sommer zusammen mit ihrem gleichaltrigen Freund Hely zu ermitteln. Einen vermeintlich Schuldigen haben die beiden schnell ausfindig gemacht, und nun ist Rache Harriets einziges Ziel. Sie will den Mörder ihres Bruders töten.

Der Leser erlebt die Handlung meist zusammen mit Harriet. Nur selten lernt er die Dinge aus der Sicht anderer Personen (Harriets Schwester, Großmutter oder einer Familie von Verbrechern) kennen.

Zur gleichen Zeit als Harriet und Hely eine Möglichkeit suchen, Robins Mörder aus den Weg zu schaffen, geschehen an einem anderen Ort der Stadt auch wichtige Dinge. Ein Prediger erlaubt seinen mit Drogen handelnden Brüdern, giftige Schlangen in seiner Wohnung zu lagern. Drogen werden hergestellt und sollen in einem größeren Deal verkauft werden. Das Leben vieler Menschen scheint sich auf mehr oder weniger drastische Weise zu verändern.
Wie die einzelnen Handlungsstränge miteinander verknüpft sind, wird dem Leser umso klarer, je weiter die Geschichte voranschreitet. Harriet und Hely starten ihren ersten Versuch, Robins Mörder zu töten. Dieser misslingt gründlich. Und damit nicht genug, Harriet bringt sich selbst in Lebensgefahr. Zudem droht die fragile Ordnung, die ihre Familie noch zusammenhält, immer mehr zu zerbrechen.

Die Geschichte endet in einem bis zur letzten Sekunde spannenden Showdown. Und auch wenn Robins Mörder nicht stirbt, so ist das Ende für den Leser doch befriedigend, weil sich alles wie es scheint zum Besseren wendet.

Donna Tartts Art und Weise, eine Geschichte zu erzählen, erinnert an Patricia Highsmith und Walter Satterthwait. Wie der bekannte "Mr. Ripley" begeht hier die Hauptheldin ein Verbrechen, und es geht nicht darum einen Verbrecher zu überführen, sondern um viel primitivere menschliche Gelüste wie Rache und um das einfache Verlangen jedes Menschen, seine eigene Haut zu retten. Und wie bei Walter Satterthwaits "Miss Lizzie" lernen wir auch hier die Welt mit den Augen eines kleinen Mädchens auf dem Weg zum Erwachsenwerden kennen. Die Geschichte spielt in Alexandria im Süden der USA in den 1970er-Jahren.

Beeindruckend ist vor allem, wie gut es Donna Tartt versteht, die Gefühle der einzelnen Personen zu beschreiben. Der Leser lernt Harriet kennen. Ein rebellisches kleines Mädchen, das sich am meisten wünscht, auch wenn sie es niemals zugeben würde, dass jemand für sie da ist und sich um sie kümmert. Harriet kann sich an ihren verstorbenen Bruder nicht mehr erinnern, und trotzdem muss sie mit seinem Erbe leben. Ein Erbe, das alle Verstorbenen, aber besonders Kinder, hinterlassen. Den Erinnerungen und Vermutungen darüber, was hätte sein können. Wäre Robin ein guter Schüler geworden? Hätte er sich über dieses oder jenes gefreut? Obwohl Robin schon lange nicht mehr lebt, scheint er allgegenwärtig und obwohl niemand über ihn sprechen will, wird er ständig erwähnt. Harriet kann mit dieser zwiespältigen Art und Weise, Robins Tod zu verarbeiten, nicht umgehen. Wie jedes Kind will sie Fragen stellen und Antworten darauf erhalten. "Der kleine Freund" zeigt uns, welch ein Problem es für ein Kind sein kann, einen Bruder oder eine Schwester nie gekannt zu haben und trotzdem zu wissen, dass die toten Geschwister ein Teil des eigenen Lebens sind. Harriet sucht nicht nur den Mörder ihres Bruders, sie sucht auch einen Teil ihrer eigenen Geschichte und der Geschichte ihrer Familie.

Der Leser lernt auch Harriets Mutter kennen. Eine einstmals gefühlvolle und lebenslustige Frau, die am Schicksal zerbrochen ist. Den Schmerz, den der Verlust Robins ausgelöst hat, kann sie nur mit starken Psychopharmaka überwinden. Sie lebt in ihrer eigenen Welt aus Erinnerungen und Träumen. Dass diese Art zu leben für ihre Töchter beinahe unerträglich wird, will oder kann sie nicht wahrhaben.

Harriets Schwester Allison meint, die Mutter gäbe ihr die Schuld an Robins Tod. In ihrer rücksichtsvollen Art geht sie der Mutter aus dem Weg und beginnt langsam ihr eigenes Leben zu leben. Allison wünscht sich nur eines: in Ruhe gelassen zu werden. Ihr übermäßiges Schlafbedürfnis rührt nicht, so wie es die Großmutter vermutet, von einer Krankheit her, sondern schlicht und einfach von dem Wunsch, in Frieden leben zu können. Allison hegt keine großen Pläne. Sie will einfach nur ihr Glück finden.

Harriets Großmutter ist das komplette Gegenteil von Allison. Eddie, wie sie von ihrer Familie genannt wird, ist äußerst selbstbewusst und verfolgt ihr Ziel stets beinhart und ohne Rücksicht auf die Gefühle ihrer Mitmenschen. Den kleinen Robin liebte sie abgöttisch. Er konnte sie aus der Reserve locken und ihre Maske aus Strenge und Härte durchbrechen. Robins Tod hat Eddie am härtesten getroffen. Denn anders als ihre Tochter kann sie es sich nicht erlauben, ihren Schmerz auszuleben. Zusätzlich trifft sie noch die Belastung, sich in der Familie um alles kümmern zu müssen. Sie organisiert das Leben ihrer Enkeltöchter und mehr oder weniger auch das Leben ihrer drei Schwestern. Ihr eigenes Leben ist auch bis ins Kleinste durchorganisiert, nur für eines ist darin kein Platz mehr: für Gefühle. Vor allem nicht für die Gefühle ihrer Enkeltochter Harriet, die nie so ist, wie man es von ihr erwarten würde und die trotzdem Eddie mehr ähnelt als irgendeinem anderen Menschen.

Auf spannende Art und Weise erzählt Donna Tartt so die Geschichte eines Kriminalfalls und die Geschichte einer Familie. Nebenbei macht sie den Leser auf soziale Probleme aufmerksam. Auf die Probleme der schwarzen Hausangestellten, die, trotzdem die Rassentrennung aufgehoben ist, noch immer nicht für voll genommen werden. Sie zeigt uns, wie tief der Rassismus in den Köpfen vieler Menschen verankert ist und wie weit manche gehen, nur um scheinbare Gerechtigkeit zu erlangen.

Donna Tartts Art, eine Gesellschaft zu beschreiben, erinnert in mancherlei Hinsicht stark an Mark Twain. Auf leicht überzogene Weise beschreibt sie die Personen, die die Gesellschaft in Alexandria prägen. Den bigotten Sonntagsschullehrer, der sich rührend um ältere Damen kümmert, wenn ein Erbe in Aussicht ist. Die biedere Nachbarin, die ihre Nase in alles steckt und trotzdem ängstlich vor allem Neuen zurückschreckt. Und trotzdem die erzählte Geschichte traurig ist, kommt der Leser nicht umhin zu schmunzeln, vielleicht auch gerade deshalb, weil in jeder noch so überzogenen Beschreibung ein Körnchen Wahrheit steckt und weil die beschriebenen Charaktere jedem schon einmal begegnet sind. Vielleicht unter anderem Namen und in einem anderen Beruf, aber jeder kennt die auf diese Weise beschriebenen "lieben" Mitmenschen.

Mir hat der Roman von Donna Tartt sehr gut gefallen, und ich kann ihn jedem, der spannende und vor allem niveauvolle Unterhaltung schätzt, nur empfehlen, wenngleich "Der kleine Freund" sicher kein Buch ist, das man so nebenbei beim Strandurlaub oder in der Badewanne lesen kann.

Donna Tartt wurde 1963 in Greenwood, Mississippi, geboren. Mit fünf Jahren schrieb sie ihr erstes Gedicht. 1981 begann sie an der Universität von Mississippi zu studieren und wechselte dann auf das Bennington College in Vermont, wo sie 1986 auch ihren Abschluss machte. Während des Studiums begann sie mit der Arbeit an ihrem Debütroman "Die geheime Geschichte". Heute lebt Donna Tartt mit ihrem Boston Terrier und zwei Möpsen abwechselnd in Charlottesville, Virginia, und Manhattan.

(Anna Mehlmann; 09/2003)


Donna Tartt: "Der kleine Freund"
(Originaltitel "The Little Friend")
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rainer Schmidt.
Goldmann, 2003. 763 Seiten. 
ISBN 3-442-30668-X.
ca. EUR 24,90.
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Ergänzender Buchtipp:

Donna Tartt: "Die geheime Geschichte"
Richard Papen stammt aus einfachen Verhältnissen. In einem kalifornischen Provinznest geboren, träumt er von nichts Anderem, als fortzukommen. Endlich gelingt es ihm, ein Stipendium für das College von Hampden in Vermont zu erhalten, und die Welt, der er dort begegnet, zieht ihn sofort unwiderstehlich an. Besonders fasziniert ist Richard von einer Gruppe fünf junger Studenten, die sich zusammen mit ihm bei dem verschrobenen Griechischprofessor Julian Morrow eingeschrieben haben. Da ist Henry, der Sohn reicher Eltern und heimliche Kopf des Zirkels, da ist Francis, ein leicht dekadenter und blasierter Gelderbe, das sind Charles und Camilla, die Zwillinge, die seit dem Tod ihrer Eltern von den Zuwendungen ihrer Großmutter leben, und schließlich Edmund, von allen "Bunny" genannt, der liebenswürdige Schnorrer, der stets auf großem Fuß lebt, ohne je einen Cent in der Tasche zu haben. Gemeinsam mit ihnen paukt Richard Griechisch, zusammen mit ihnen huldigt er dem täglichen Alkohol, in ihrem Kreis verbringt er wunderbare Wochenenden auf Francis' feudalem Landsitz. Doch bald spürt er, dass unter der Oberfläche unverbrüchlicher Freundschaft auch Spannungen bestehen und dass ein furchtbares Geheimnis auf seinen Freunden lastet - ein Geheimnis, das auch ihn mehr und mehr in seinen dunklen, mörderischen Sog zieht.
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