Christoph Türcke: "Der tolle Mensch"
Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft
Der
Aphorismus "Der tolle Mensch" ist jene denkwürdige Szene aus
Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft", welche
Türcke zum thematischen Ausgangspunkt seiner Gesamtschau
Nietzschescher Philosophie macht. Am helllichten Tage lässt
Nietzsche seinen tollen Menschen auf den Marktplatz treten um diesen
mit einer Laterne nach Gott auszuleuchten.
Was im ersten Moment wie
eine völlig absurde Handlung ohne jeden Sinn noch Zweck
erscheint, entblößt sich bei näherer
Betrachtung als Akt von tiefem metaphysischen Symbolgehalt. Der
Marktplatz, die Agora, war die Seele der griechischen Polis, wo nicht
nur Waren feilgeboten wurden, sondern sich auch die Berufsphilosophen
jener Tage, die Sophisten, versammelten, um sich in geschliffener Rede
zu üben, und wo sich ihnen darüber hinaus zuweilen
die Möglichkeit bot, nebst Zuhörern auch zahlende
Kunden für ihre Erkenntnisse zu finden.
Sokrates'
philosophische Hebammenkunst bediente sich dieses Forums, wie auch
Platons Dialoge überwiegend stilisierte
Agora-Gespräche wiedergeben. Die Agora ist folglich nicht nur
Warenmarkt, sondern ebenso Brutstätte abendländischer
Metaphysik, deren Inbegriff Gott ist. Denn Gott ist mehr als nur das
höchste aller Wesen, Gott ist die Verkörperung aller
objektiven Wahrheit, welche das irdische Dasein mit Sinn und Zweck
versieht und einer höheren Bestimmung zuleitet. Bei aller
Müh und Plag findet der Mensch seelischen Halt bei Gott, und
selbst noch der Tod beschreibt einen sinnvollen Akt innerhalb des
allumfassenden göttlichen Sinngefüges. Gott ist
sozusagen der in Transzendenz entrückte Lebenssinn des
Menschen.
Laut Türcke schließt dieses Gottesbild
folgende bedrohliche Konsequenz in sich ein: Stürzt Gott, so
stürzt das gesamte unstoffliche, geistartige Sein, das der
physischen Welt Form, Zusammenhalt, Erkennbarkeit verleiht. Der Ausgang
der Gottsuche des tollen Menschen ist uns allen mehr oder weniger
geläufig, die da lautet: "Gott
ist tot! Und wir haben ihn getötet."
Eine Feststellung, deren plakativer erster Teil mittlerweile bereits
dem Bestand eines allgemein gebräuchlichen Zitatenschatzes
angehört und Nietzsche den unverdienten Ruf eines militanten
Atheisten und Gottesmörders einbrachte, welcher er in dieser
platten Form ganz gewiss nicht gewesen ist. Denn weder tötete
er Gott, noch forderte er den Tod Gottes, sondern Nietzsche
verkündete den Tod Gottes mit pathetischer Wortgewalt:
"Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? - auch
Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben
ihn getötet! ... Ist nicht die Größe dieser
Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht
selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu
erscheinen?"
Der Zeitpunkt, mit dem die Tötung Gottes beginnt,
lässt sich laut Türcke mit der Widerlegung des aus
der Antike überlieferten geozentrischen bzw.
anthropozentrischen Weltbilds durch den polnischen Astronomen Nikolaus
Kopernikus (1473-1543) datieren, ein Weltbild, welches dem Menschen
noch gestattete sich als Mittelpunkt einer Schöpfung zu
inszenieren, die von einem liebenden Gott für eben diesen Menschen geschaffen worden sei.
Was folgt, ist der Verlust absoluter Wahrheit, ein wirres
Vielerlei konkurrierender Wahrheiten, deren Beliebigkeit zu einer
geistigen Verfasstheit des Menschen führt, die Nietzsche
für die abendländische Kultur als Nihilismus
diagnostiziert, als, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: "Die
radikale Ablehnung von Wert, Sinn und Wünschbarkeit." Die
obersten Werte sind entwertet, das Lügengebäude des
schwächlichen christlichen Denkens und der klassischen
Philosophie in der Nachfolge des Sokrates fällt in sich
zusammen. Die Schwachen werden an diesem Faktum verzweifeln, die
Starken (die Übermenschen) werden darin das Fanal zu einer
Neuordnung, zu einer Umwertung der Werte sehen.
Der Künstlerphilosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900), der
sich selbst zuweilen mehr als Künstler denn als Philosoph sah,
gilt gemeinhin als Prototyp des subjektiven Denkers, dessen Philosophie
nur im Lichte seiner privaten Persönlichkeitsentwicklung
hinreichend gewürdigt und verstanden werden kann.
Christoph
Türcke hat es sich zur Aufgabe gemacht, zu ergründen
inwiefern "Der tolle Mensch" das Konzentrat des Nietzscheschen
Selbstbekenntnisses darstellt, wobei Türcke, um den besonderen
Ruf des Philosophen wissend, wohlweislich vorausschickt, dass der
Aphorismus vom tollen Menschen nicht etwa kurz vor Wahnsinnsausbruch
(27.12.1888 - manifester Ausbruch der Umnachtung), sondern mehr als ein
halbes Jahrzehnt zuvor - in der eher heiteren Zeit, als Nietzsche Sils
Maria entdeckte und Lou
von Salomé kennen und begehren
lernte.
Im Zuge dieser mit großem sprachlichen Geschick
dargelegten Studie philosophischer Tollheit finden sich alle
großen Motive Nietzsches wieder, wie: der Tod Gottes, der
Wille zur Macht, der Übermensch, die ewige Wiederkehr -
allesamt kenntlich als Termini einer radikalen Vernunftkritik, welche
Schutzwälle gegen eine Praxis entfesselter Vernunft errichtet,
die als Kult ihrer selbst permanenter Verfall und Niedergang von
Lebenskraft bedeutet und als Weltkrankheit zuletzt in Wahnsinn
mündet. Schutzwälle, die sich letztlich für
Nietzsche als brüchig erweisen sollten, zumal alle
Denunziation des Vernunftmenschen ihn nicht davor bewahrte, dem
Schicksal des tollen Menschen zu entrinnen.
Richard Klein beanstandete in einer Kritik in der Tageszeitung "Die
Welt" ("Literarische Welt" v. 19.8.2000), dass Türckes Buch
nebst bemerkenswerter Stärken, wie etwa die eindrucksvolle
Charakterologie des tollen Menschen oder die Klarheit, mit der gezeigt
wird, wie kulturpsychologische Kritik und ästhetische
Lebenskonstruktion bei Nietzsche ineinander greifen, auch eine
folgenreiche Schwäche aufweist: Den Konstrukten vom "Willen
zur Macht", von der "Ewigen Wiederkunft" und vom
"Übermenschen" wird tendenziell jeder eigenständige
philosophische Sinn abgesprochen, sie erscheinen als bloße
Abwehrformen oder Schutzmaßnahmen gegen den drohenden Kollaps
von Nietzsches Denken und Dasein.
Derart wird nicht nur die Spannung
zwischen Lebensbezug und Philosophie etwas billig aufgelöst,
sondern auch Nietzsches "negative" Kritik von seiner "positiven" Lehre
gewaltsam abgetrennt.
Indirekt spricht Türcke zwar immer
wieder über das, was - im Sinne einer ästhetischen
Integration der Extreme - über Katastrophendiagnostik
hinausgeht. Nur zieht er daraus keine Konsequenz, die Bewegung zur
"Mitte" hin wird geradezu methodisch tabuisiert.
Soweit die Kritik
von Richard Klein, die an dieser Stelle nicht verschwiegen werden
soll, die jedoch - wenn auch nicht allgemein, so doch im Zusammenhang
gegenständlicher Thematik - als unbegründet zu werten
ist, wenn man allein das tragische Schicksal des Philosophen bedenkt,
dessen Streben nach Stärke, Vitalität und Macht im
eklatanten Widerspruch zu seiner leiblichen Geringheit stand und dessen
bis zum Größenwahn (Ecce
homo) gesteigerte positive Lehre durchaus als
Aufbegehren gegen den Verfall eigener Lebenskraft zu erachten ist.
Zumindest scheint die Türcksche Auslegung der positiven Lehre
zulässig und plausibel und in gegebener Themenstellung
geradezu zwingend, hingegen jeder Versuch eigenständiger
philosophischer Sinnzuschreibung im Licht der biografischen
Faktenlage zweifelhaft bleiben muss. Denn das Motiv aller Gedanken und
Handlungen ist laut Nietzsche der zielgerichtete Wille nach
Selbsterhaltung, Steigerung von Lebensgefühl und
Lebensfähigkeit, Gewinn von Stärke und Macht. Und
dieses Prinzip des Gesunden waltet in allem und wird von Nietzsche mit
folgenden Worten umschrieben: "Diese Welt, ein Ungeheuer von Kraft,
ohne Anfang, ohne Ende, eine feste eherne Größe von
Kraft ... Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts
außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht -
und nichts außerdem!"
Es wäre unvermessen, diese gar
griffige Formel von der Vernunftpassion Nietzsches abstrahieren zu
wollen, die mit logischer Konsequenz Wahnsinn nach sich ziehen musste,
obgleich sie natürlich, wie Türcke eingesteht,
keineswegs logisch erklärt, dass diese Konsequenz auch
faktisch eintrat. Die Umnachtung Nietzsches ab 1889 dürfte
wohl eher auf einen medizinischen Sachverhalt als auf philosophischen
Wahnsinn verweisen, doch lässt sich die philosophische
Tollheit der Vorjahre nicht wirklich aus seinem Werk austreiben.
Und
mag es auch möglich sein, Nietzsches positive Lehre vom
"Willen zur Macht" in einen geistesgeschichtlichen Kausalzusammenhang
mit den Philosophien von Schopenhauer und
Spinoza sowie mit zeitgenössischer Biologie zu setzen,
so spricht aus den Kraftgesten doch die Stimme eines gequälten
Menschen, die fürchtet, über die Erkenntnis von
Wahrheit den Verstand zu verlieren.
Alles in allem handelt es sich bei "Der tolle Mensch" von Christoph
Türcke um fundierte Literatur zum Kultphilosophen Friedrich
Nietzsche, die mit viel Überblick und sprachlichem Geschick
geschrieben ist. Als besonders lobenswert ist die gute Lesbarkeit des
Textes zu würdigen, was für erstaunlich viele Autoren
philosophischer Literatur heutzutage keine selbstverständliche
Tugend zu sein scheint. Sperrige Formulierungen bleiben ausgespart,
Verständlichkeit geht vor sprachvirtuosem Gehaben. Nicht
zuletzt aus diesem Grund sollte "Der tolle Mensch" selbst
philosophisch völlig unbedarften Personen zum
Lesevergnügen gereichen und ist ganz allgemein als
bekömmlicher Einstieg in die Gedankenwelt von Friedrich
Nietzsche zu empfehlen, der auch studierte Philosophen und selbst noch
geeichte Anhänger und Gegner des nun schon seit hundert Jahren
epidemisch um sich greifenden Nietzscheanismus begeistern sollte.
(Misanthropos; 04/2002)
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