Andrzej Szczypiorski: "Eine Messe für die Stadt Arras"


Wir schreiben das Jahr 1458. In der Stadt Arras sterben plötzlich Pferde und Kühe ohne ersichtlichen Grund. Ein Bürger will gesehen haben, wie ein Jude einen Fluch ausgesprochen hat. Der Jude wird zum Verhör vor den Stadtrat gezerrt.
Albert, ein italienischer Priester, der seit vielen Jahren seine christliche Mission in dieser Stadt betreibt, führt das Verhör. In seiner Ausweglosigkeit erhängt sich der Jude in der Nacht.
Viele Stimmen glauben, das zu hart geführte Verhör Alberts hätte den Juden zu dieser Verzweiflungstat geführt. Es gibt aber auch andere Stimmen.

Der im Jahr 2000 verstorbene polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski zieht in seinem mittelalterlichen Roman ein Spiel von tiefer psychologischer Menschenkenntnis auf. Das vordergründige Geschehen ist nur eine Leitlinie persönlicher Versuche, sich den Gedanken von Gott und Satan, von Himmel und Hölle zu nähern.
Wenige Zeit nachdem sich der Jude erhängt hat, bricht in Arras die Pest aus. David, der Bischof von Utrecht, lässt die Stadt absperren, um die Seuche auf diese Stadt beschränkt zu halten. Da es der Stadt bald an Nahrungsmitteln fehlt, versucht der Bischof Lebensmittellieferungen zu senden, die jedoch zum Teil von Räubern und Wegelagerern aufgebracht werden.

So leiden die Menschen in Arras an der Pest und am Hunger. Das Sterben ihrer Mitmenschen vor Augen kämpfen die Bewohner um das nackte Überleben. Einen Höhepunkt findet der Hunger, als eine Mutter angeklagt wird, ihr Neugeborenes erstochen, gekocht und verzehrt zu haben. Die Mutter leugnet nicht und wird zum Schafott geführt. Sie, die sterben soll, ist die Einzige am Platz, die nicht an Hunger leidet. Aber ihr Tod ist nicht das Schlimme.
Entsetzen erfasst die Menschen, als der Priester Albert der zum Tode Verurteilten die Absolution versagt. Denn so schlimm es ist, das Leben zu verlieren, so gibt doch der Gedanke auf das Jenseits einen letzten Trost. In Ermangelung der Absolution ist aber auch diese Hoffnung auf ewig dahin.

Ebenso unverständlich wie sie begonnen hat, hört die Pest wieder auf. Die Toten sind begraben, es gibt wieder Nahrungsmittel, die Räuber ziehen sich zurück. Die Bewohner fragen sich, was denn passiert sei und warum gerade sie von Gott so geprüft worden sind. Oder war es vielleicht ein Spiel des Teufels?
Die Menschen von Arras haben immer ein offenes Ohr für die Predigten des Priesters Albert gehabt. In anderen Städten Brabants gaben sich die Menschen der Völlerei und anderen Lastern hin. In Arras war man gemäßigter. Und doch starben hier die Menschen an Hunger und an der Pest. Was hat Gott dann erzürnt?

Die Menschen in Arras begeben sich auf die Suche nach Schuldigen. Zuerst richtet sich der Zorn gegen die im Ort ansässigen Juden. Der Älteste wird am Scheiterhaufen verbrannt, ein paar ihrer Häuser gehen in Flammen auf. Aber das sühnt die Stadt nicht. Der Stadtrat greift langsam auch nach ehemals ehrwürdigen Bürgern, verbrennt Frauen als Hexen.

Der Faden, der durch den Roman führt, wird von einem jungen, reichen Bürger aus Gent gehalten. Er ist Beobachter, später auch Opfer der Geschehnisse. In seinen Gedanken spiegeln sich die Dynamiken wider, die dieses grausame Spiel entwickelt. Er fühlt sich hin und her gerissen zwischen dem Versuch, seinem Verstand zu folgen oder dem Glauben anzuhängen.

Die psychische Entwicklung, welche die Stadt in dieser Zeit durchmacht, wird an seinen Gedanken manifest. Und so handelt es sich bei Andrzej Szczypiorskis Buch um ein Meisterwerk, das tief in die Seele des Menschen zu blicken vermag.

(Pierre de Carois; 10/2005)


Andrzej Szczypiorski: "Eine Messe für die Stadt Arras"
(Originaltitel "Msza za miasto Arras")
Aus dem Polnischen von Karin Wolff.
Diogenes, 2005. 272 Seiten.
ISBN 3-257-05711-3.
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Noch ein Buchtipp:

Marta Kijowska: "Der letzte Gerechte. Andrzej Szczypiorski. Eine Biografie"

Mit seinem Roman "Die schöne Frau Seidenman" wurde Szczypiorski weltweit bekannt. Er war nicht nur Romancier, sondern auch Publizist, Diplomat, Krimiautor, Senator im polnischen Parlament 1989/90 und nicht zuletzt ein Vermittler zwischen Polen, Deutschen und Juden. Szczypiorskis Biografie dokumentiert exemplarisch ein Intellektuellenschicksal im 20. Jahrhundert. Als Jugendlicher erlebte er den Einmarsch der deutschen Wehrmacht. Er nahm 1944 am Warschauer Aufstand teil, wurde ins KZ Sachsenhausen deportiert und trat nach seiner Befreiung mit ersten publizistischen Arbeiten hervor. In den folgenden Jahrzehnten wandelte er sich von einem regimetreuen zum oppositionellen Schriftsteller. Sein nachsichtiger Umgang mit den Deutschen brachte ihm in Deutschland Sympathien, in Polen scharfe Kritik ein. Marta Kijowska untersucht das Phänomen Szczypiorski aus polnischer wie aus deutscher Sicht. Die Autorin zeigt das Leben und Wirken Szczypiorskis vor dem Hintergrund polnischer Mentalität, Geschichte, Politik und Kultur. (Aufbau)
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