Steven Strogatz: "Synchron"
Vom rätselhaften Rhythmus der Natur
Seit nunmehr zwanzig Jahren fasziniert
Steven Strogatz, den Harvard-Absolventen und nunmehrigen Professor für
angewandte Mathematik an den renommierten Kaderschmieden Massachusetts Institute
of Technology (MIT) bzw. Cornell University, das Phänomen Synchronismus. Was ist
darunter zu verstehen? Wann ist Synchronismus unvermeidlich, wann unmöglich?
Welche praktische Bedeutung hat er für uns? Das ist die Thematik von
"Synchron", einem Buch, das anschaulich gegliedert ist in drei
Großkapitel über belebten und unbelebten Synchronismus sowie dessen Erforschung.
Ein reiches Register belegt Zitate und Quellenangaben.
Schon im Vorwort verrät Strogatz: "Im Innersten wird das
Universum
von einem stetigen, eindringlichen Rhythmus bestimmt - dem Takt gleichzeitiger,
synchroner Schwingungen. Er durchzieht die Natur in jeder Größenskala, vom Atomkern
bis zum Kosmos". Das heißt, Billionen von Elektronen im Gleichschritt ermöglichen
Elektrizität aus dem Mikrokosmos. Im Makrokosmos wiederum kann z.B. durch Schwerkraft
bewirkter Synchronismus Meteoriten aus der Umlaufbahn katapultieren. Ersteres
sorgt dafür, dass wir Licht einschalten oder schlicht und einfach den PC hochfahren
können. Zweiteres bewirkte vor 65 Millionen Jahren höchstwahrscheinlich das
Aussterben der Dinosaurier durch einen kosmischen
Treffer.
Mit einem Wort: Synchronismus ist ein universelles
Gesetz von gewichtiger Relevanz für die belebte wie unbelebte Natur. Strogatz:
"In allen Fällen kommen diese Leistungen des Synchronismus spontan zu
Stande, beinahe so, als sei die Natur von einer geheimnisvollen Sehnsucht nach
Ordnung beseelt." Soll heißen, Gleichzeitigkeit über einen längeren
Zeitraum kann weder als bloßer Zufall noch als metaphysisches Wunder abgetan
werden, sondern bedarf wissenschaftlicher Erforschung. Dabei ist Strogatz ein
interdisziplinärer
Zugang sehr wichtig. Nicht nur Mathematiker, Physiker oder Astronomen sollen
Forschungen anstrengen, sondern auch Biologen, Soziologen oder
Ingenieure.
Veranschaulichend bietet das Buch Musterbeispiele für so
genannte "gekoppelte Oszillatoren", ob das nun Planeten oder Glühwürmchen sind.
Bleiben wir bei den Letztgenannten. Schon 1917 schrieb der Forscher Philip
Laurent im Fachblatt "Science" über riesige
Schwärme von Glühwürmchen,
die im gleichen Takt aufblitzen. Das Phänomen war kilometerweit an Malaysias
Flüssen zu beobachten. Laurent glaubte damals, dass die Insekten nicht das
Geringste damit zu tun hätten. Das Zucken seiner Augenlider nahm er als Ursache
an. Andere Beobachter suchten eine Erklärung in Wetterfaktoren, wieder andere
vermuteten einen "Konzertmeister"; also ein Insekt, das den anderen den Takt
vorgab. Heute wissen wir, dass all diese Annahmen falsch sind. Weder
Sinnestäuschung noch Dirigent sind ursächlich, sondern die Selbstorganisation
ist es. Der Synchronismus des flächendeckenden gemeinsamen Leuchtens entsteht
durch wechselseitige Signalgebung. Das führt zum Schluss, dass jedes
Glühwürmchen einen Oszillator in sich hat, dessen Zeittakt sich automatisch an
das Blitzen der Artgenossen anpasst - wie ein Metronom. Wahrscheinlich sitzt
dieser Synchronisationsmechanismus irgendwo in den Neuronen des winzigen
Insektengehirns. Aber das Wo ist gar nicht so bedeutend. Erstaunlich ist viel
mehr, dass Strogatz und Kollegen der Nachweis gelungen ist, dass dieser
Synchronismus unter bestimmten Bedingungen nicht nur funktionieren kann, sondern
stets funktioniert.
Steven Strogatz wagt den Sprung zum Menschen:
"Selbst unsere Körper sind Symphonien aus Rhythmus, am Leben erhalten durch
das unermüdliche koordinierte Feuern Tausender Schrittmacherneuronen ..."
Diese natürlichen Schrittmacher sitzen in unseren Herzen in Form des
Sinusknotens, einer Anhäufung von etwa 10.000 Zellen. Seine Aufgabe ist es,
jenen elektrischen Rhythmus hervorzurufen, der die Herzfrequenz bestimmt. Warum
so viele Zellen? Die Evolution ging auf Nummer sicher, denn wenige Taktgeber
erhöhen die Gefahr, dass bei Versagen das ganze Organ ausfällt. Zellen in dieser
Menge erzeugen wiederum das Problem der Koordination, denn widersprüchliche
Signale würden das Herz ebenso schädigen. Wie bei den Glühwürmchen funktioniert
das System der Oszillatoren aber einwandfrei durch
Selbstorganisation.
Ein gutes Exempel für Synchronismus bei Gegenständen
bieten etwa Pendeluhren.1665 musste der holländische Physiker Christiaan Huygens
mehrere Tage das Bett hüten. Währenddessen machte er eine interessante
Beobachtung. Zwei Uhren, die eng nebeneinander hängen, befinden sich in völligem
Einklang. Ihre Pendel schwingen ohne die geringste Abweichung miteinander im
Takt. Wurde ihr Pendelsynchronismus durch Huygens willkürlich gestört, kehrten
sie nach einer halben Stunde stets zur Übereinstimmung zurück. Drehte der
Physiker aber die Pendeluhren um 90 Grad zueinander oder vergrößerte den Abstand
der beiden Chronometer um mehr als 180 cm, verschwand dieser
Synchronismuseffekt. Das Beispiel zeigt erneut, dass Synchronismus unter
bestimmten Voraussetzungen immer auftritt.
"Der Gleichklang der Uhren hat uns gezeigt, dass die Fähigkeit zum Synchronismus
nicht von Intelligenz oder Leben oder natürlicher Selektion abhängt", so
Strogatz. Das Phänomen ist vielmehr aus den Gesetzen der Physik und Mathematik
zu erklären. Ein weiteres Exempel: CD-Player. Der gebündelte Laserstrahl, welcher
auf die Disc trifft, besteht aus Billionen von Atomen, die synchronisiert Lichtwellen
emittieren. Ohne Synchronismus, gäbe es keine digitale Musik. Vielen wird das
Navigationssystem GPS (Global Positioning System) bekannt sein, das z.B. Flugzeugen
Blindlandungen möglich macht. GPS besteht aus 24 Satelliten, die in rund 18.000
Kilometer Höhe im Erdorbit kreisen und so angeordnet sind, dass jede beliebige
Stelle auf dem Planeten von mindestens sechs Satelliten gemeinsam "gesehen"
wird. Alle Satelliten wiederum sind mit Atomuhren ausgestattet, die von der
Hauptuhr in Boulder, Colorado, auf die Milliardstel Sekunde synchronisiert werden.
Erneut ist Einklang das Prinzip zum Erfolg.
Steven
Strogatz zieht Resümee: "Aus Gründen, die wir noch nicht verstehen, ist das
Synchronismusstreben eine der verbreitetsten Tendenzen im Universum,
gleichermaßen verbreitet bei Atomen und Tieren, Menschen und Planeten."
Seriöserweise räumt der Professor ein, dass es Formen von vorübergehendem
Synchronismus gibt, die auf purem Zufall basieren. Zum Beispiel wenn zwei Autos
an der Ampel stehen und ihre Blinker in Übereinstimmung einige Takte lang
aufleuchten.
Noch ist unser Wissen über die Gesetze des Synchronismus
rudimentär, aber vielleicht bewirkt ein Einklang vieler unterschiedlicher
Forschungsdisziplinen im Laufe der Zeit einen gebündelten Laserstrahl neuer
naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Mit "Synchron" möchte der
Mathematiker Strogatz den aktuellen Forschungsstand dieser unterschiedlichen
Bereiche einem möglichst breiten Publikum nahe bringen. Dabei ist nicht das
Vorwissen des Lesers zum Verstehen des Buches vorrangig, sondern die
Bereitschaft, sich auf die Gedankengänge von Strogatz ein- und eine
Synchronizität zuzulassen.
(lostlobo; 06/2004)
Steven Strogatz:
"Synchron"
(Originaltitel "Sync")
Aus dem Amerikanischen von Hainer
Kober.
Berlin Verlag, 2004. 464 Seiten.
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