Jonathan Wright: "Gustav Stresemann 1878-1929"
Weimars größter Staatsmann
Aufgerieben
zwischen den Extremen
Wenn die Weimarer Republik ein Gesicht hat, dann wohl seines: Sechs
turbulente Jahre hindurch prägte er ihr Geschick und
versuchte, die labile Demokratie gegen ihre Feinde aus dem rechten und
linken Lager zu schützen.
Betrachtet man den Beginn von Stresemanns Biografie, so wirkt seine
spätere Rolle als Bewahrer der Republik erstaunlich.
Stresemann, der unteren Mittelschicht entstammend, vertrat zeit seines
Lebens nationalliberale Ideale. Nach dem Studium der
Nationalökonomie nahm er eine leitende Stellung in einem
sächsischen Industrieverband an und sammelte dort erste
politische Erfahrungen. Sein Talent als Redner und sein Engagement im
Wahlkampf brachten ihm bereits 1907 ein Reichstagsmandat für
die Nationalliberalen ein. Während des Ersten Weltkriegs
vertrat er bis zum Ende unerschütterlich die nationalistische
Überzeugung, es werde zu einem Siegfrieden für
Deutschland und zu Gebietsannexionen kommen. Eigentlich hätte
seine Karriere spätestens beim Abschluss des Versailler
Vertrags enden müssen. Doch Stresemann gelang eine
Neuorientierung. Er wurde Vorsitzender der DVP, die aus den
Nationalliberalen hervorging, und begriff rasch, dass Deutschlands
Zukunft an die der Republik gekoppelt war. Zunächst
Republikaner wider Willen, kämpfte er schließlich
leidenschaftlich für den Fortbestand der Weimarer Verfassung,
1923 als Kanzler, dann bis zu seinem Tod 1929 als
Außenminister. Er versuchte - mit einigem Erfolg - vor allem,
die Reparationszahlungen auf ein erträgliches Niveau zu
drücken, die Franzosen zum Abzug aus dem Ruhrgebiet, dem
Rheinland und dem Saarland zu bewegen, ausländische Kredite zu
erhalten und Deutschland zu einem verlässlichen Partner in der
Völkergemeinschaft zu machen, aber auch (Rapallo!), in der
Sowjetunion einen Bündnispartner zu finden, um Druck auf die
Alliierten auszuüben und eines Tages die Grenze zu Polen neu
festlegen zu können.
Außen- und Innenpolitik waren eng verquickt. Aufgrund der
ständig wechselnden Kabinette und
Mehrheitsverhältnisse schien es fast unmöglich,
berechenbare, vertrauenswürdige Außenpolitik zu
machen. Der SPD erschienen Stresemanns Ziele zu "rechts", die
rechtsradikale DNVP, die zunehmend Macht errang, betrachtete ihn
aufgrund seiner Vertragsabschlüsse als Hochverräter.
Pausenloses Lavieren und manche Intrige im Sinne der guten Sache, der
Republik, waren notwendig und untergruben Stresemanns Gesundheit
nachhaltig. An der Haager Konferenz nahm er gegen den Willen seines
Arztes teil. Todkrank hielt er eine beeindruckende Rede vor der
Vollversammlung des Völkerbundes. Anschließend
bemühte er sich noch verzweifelt, die Koalition unter Kanzler
Müller vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren, denn im
Gegensatz zu vielen anderen sah er die Gefahr sehr deutlich, die von
der DNVP und ihrem Vorsitzenden Hugenberg sowie von
Hitler drohte.
Zwei schwere Schlaganfälle setzten Anfang Oktober 1929 seinem
Leben ein Ende.
Es ist nur auf den ersten Blick erstaunlich, dass ein britischer Autor
eine ausführliche und sehr ausgewogene Biografie über
Stresemann vorlegt. Stresemann, der wohl verlässlichste
Politiker der Weimarer Republik, genoss im Ausland hohes Ansehen, auch
wenn seine Verhandlungspartner sich mit seinen unverblümten
Forderungen oft schwertaten.
Der Autor schildert nicht nur Stresemanns Leben, sprich: seinen
Werdegang, seine Politik und natürlich die sozialen und
politischen Umstände, aus denen diese Politik resultierte,
sondern er interpretiert und wertet Stresemanns Entscheidungen auch,
wobei er die unterschiedlichsten Quellen heranzieht. Eine gerechte
Wertung ist indes manchmal schwierig, weil Stresemann zuweilen
scheinbar sehr widersprüchlich gehandelt hat. Die freundlichen
Kontakte zum Kronprinzen etwa wurden ihm stets negativ ausgelegt.
Ebenso verwundern seine seltenen Aussagen mit antisemitischer Tendenz,
zumal Stresemanns Ehefrau jüdischer Herkunft war. Wright sucht
und entwickelt jedoch plausible Begründungen für
Stresemanns Aktionen, ohne den Politiker dabei in Schutz nehmen zu
wollen; auch Kritik findet sich, denn auch Stresemann machte
gelegentlich gravierende Fehler oder schätzte Situationen
falsch ein: so etwa, als er glaubte, die DNVP schwächen zu
können, indem er sie in die Koalition und somit in die
Verantwortung drängte.
Insgesamt zeichnet diese Biografie auf spannende und respektvolle Weise
ein differenziertes Bild eines der großen
Staatsmänner des letzten Jahrhunderts, der Deutschland nach
dem verheerenden Krieg in die Völkergemeinschaft
zurückführte, die Fesseln des Versailler Vertrags
lockerte und als einer der Ersten begriff, dass in Europa die beste
Form von Patriotismus in der Verständigung mit den
Nachbarländern liegt. Dass dem Mann mit den weit gespannten
Visionen und dem praktischen Verstand immer wieder der
Rückhalt der eigenen Fraktion fehlte, erst recht
natürlich jener durch die republikfeindlichen Elemente des
Reichstags, lässt ihn umso tragischer wirken. Der Verlust
seiner Gesundheit und schließlich seines Lebens durch seinen
unermüdlichen Einsatz für politische und
wirtschaftliche Stabilität, somit den Erhalt der Republik,
macht ihn beinahe zu einem der Märtyrer Weimars, einen
Märtyrer mit Schwächen zwar, der sich aber vom weit
rechts angesiedelten Nationalisten zum engagierten und sehr
erfolgreichen Verfechter der neuen Verfassung bekehrte.
In der Schlussbetrachtung arbeitet der Autor noch einmal konsequent
Stresemanns Bedeutung für die Weimarer Republik heraus. Zudem
spekuliert er darüber, wie sich Deutschland weiter entwickelt
hätte, wenn Stresemann nicht so früh gestorben
wäre - es ergeben sich durchaus interessante Ansätze,
auch wenn Stresemann wohl, so das Resümee, nicht in der Lage
gewesen wäre, Hitlers Machtergreifung zu verhindern, es sei
denn vielleicht als Reichspräsident.
Das Buch enthält eine Reihe von Fotografien sowie Abbildungen
von Stresemann-Karikaturen, die in Zeitungen erschienen; Stresemann
selbst besaß eine ganze Sammlung davon, aus der viele der
abgedruckten Exemplare stammen.
Der Umfang der Anmerkungen und des Literaturverzeichnisses ist nicht
zwingend ein Gradmesser für die Qualität eines
Sachbuchs, aber die über 100 Seiten am Ende der
Stresemann-Biografie weisen doch auf eine gründliche Recherche
hin. Als sehr praktisch empfand ich bei der Lektüre die
Karten, die zum einen den Verlauf der Rheingrenze 1919-1933 darstellen,
zum anderen die Grenzen zu Polen nach 1919. Ich hätte zudem
eine Zeittafel begrüßt, die jedoch fehlt.
Jonathan Wrights packende Stresemann-Biografie bietet also nebst
umfangreichen, sorgfältig aufbereiteten Informationen auch
eine fachkundige, erfreulich objektive Beurteilung und Bewertung des
politischen Handelns der vielleicht einzigen Lichtgestalt, die die
Weimarer Republik aufweisen konnte. Das Buch ermöglicht dem
Leser zudem, jenes politische Ränkespiel und den enormen Druck
aus dem In- und Ausland besser zu durchschauen, die letztlich die
Entstehung stabiler Kabinette unmöglich machten. Somit ist es
für den an der neueren Geschichte Interessierten sicherlich
ein wichtiges Puzzleteil für das Verständnis der
verhängnisvollen Entwicklung vom Kaiser zu Hitler.
(Regina Károlyi; 09/2006)
Jonathan
Wright: "Gustav Stresemann 1878-1929"
(Originaltitel "Gustav Stresemann. Weimar's Greatest Statesman")
Übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt.
DVA, 2006. 666 Seiten.
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Jonathan
Wright lehrt Zeitgeschichte, Politik und Internationale Beziehungen an
der Universität von Oxford. Seit vielen Jahren
beschäftigt er sich mit Leben und Werk Gustav Stresemanns. Zu
seinen weiteren Forschungsschwerpunkten zählen Hitlers
Außenpolitik sowie die deutsch-englischen Beziehungen seit
dem Zweiten Weltkrieg.
Weitere Buchtipps:
Heinrich
August Winkler: "Weimar 1918- 1933. Die Geschichte der ersten deutschen
Demokratie"
Das Scheitern der Weimarer Republik gehört zu den
großen Katastrophen der deutschen, ja der Weltgeschichte.
Hätte sich die Machtübertragung an Hitler abwenden
lassen, oder war sie ein notwendiges Ergebnis der Geschichte der ersten
deutschen Demokratie? Eine Antwort auf diese Frage gibt Winklers
spannendes, ganz aus den Quellen geschriebenes Buch. (C.H. Beck)
Buch bei
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Eberhard
Kolb: "Gustav Stresemann"
Gustav Stresemann ist unter den führenden Politikern der
Weimarer Republik wohl die faszinierendste und bedeutendste
Persönlichkeit. Eberhard Kolb, einer der besten Kenner der
Weimarer Republik, zeichnet in diesem Band konzise und kenntnisreich
die Biografie des Mannes nach, der 1926 für seine Verdienste
als erster Deutscher den Friedensnobelpreis erhielt. (C.H. Beck)
Buch bei
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