Wolfgang Paul Strassmann: "Die Strassmanns"
Schicksale einer deutsch-jüdischen Familie über zwei Jahrhunderte
Der zerstörte Traum von der
Anerkennung durch die Gesellschaft, der die Strassmanns über Generationen
dienten
Ende des 18. Jahrhunderts nahm ein jüdischer Tuchhändler aus
der Provinz Posen den Namen Strassmann an. Aufgrund der politischen
Gegebenheiten geriet seine Familie in Armut. Sein Sohn aber erkannte, dass seine
Kinder nur durch Bildung Chancen auf ein finanziell abgesichertes Leben und
Akzeptanz durch die Gesellschaft haben würden - eine sehr fortschrittliche
Einstellung. In der Folge wurde einer seiner Söhne Maurermeister, die anderen
vier erfolgreiche Ärzte in Berlin.
Diese Strassmanns vertraten liberale
Gedanken, die zu Schwierigkeiten während der Revolution von 1848 führten. Zwei
von ihnen, insbesondere Wolfgang als Stadtverordnetenvorsteher, waren später
maßgeblich an den Reformen in Berlin nach 1863 beteiligt, unter anderem auf dem
Hygiene-Sektor. Zu dieser Zeit wurde bereits ein unterschwelliger Antisemitismus
spürbar.
Zur nächsten Generation gehörte Paul Strassmann, der eine weltweit
anerkannte gynäkologische Privatklinik gründete und weit über 30 Jahre leitete.
Ärzte aus aller Welt ließen sich von ihm schulen, und er führte bahnbrechende
neue Operationstechniken ein, insbesondere bei Fehlbildungen der weiblichen
Geschlechtsorgane. Pauls Vetter Fritz revolutionierte die
Gerichtsmedizin.
Die Strassmann-Familien verloren im Ersten Weltkrieg eine
Reihe von engagierten Soldaten, und überlebende Familienmitglieder wurden mit
Orden ausgezeichnet. Umso weniger verstand Paul Strassmann die
nationalsozialistische Ideologie, zumal die meisten Familienangehörigen längst
und zumeist aus Überzeugung konvertiert waren. Paul musste 1936 seine Klinik
verkaufen und zerbrach innerlich daran. Er starb, bevor der Holocaust ihn
einholen konnte.
Paul hatte seinen Kindern, auch den Mädchen
(!), eine umfassende Bildung zukommen lassen. Sohn Erwin trat beruflich in seine
Fußstapfen, emigrierte aber angesichts der zunehmenden Repressionen durch die
Nazis frühzeitig in die USA, ebenso seine Schwester
Antonie,
deren bewegtes Leben als Schauspielerin, beherzte Flugpionierin und
Unternehmerin eine eigene Biografie wert wäre. Auch ein Sohn von Fritz
Strassmann, der bekannte Gerichtsmediziner Georg Strassmann, emigrierte mit
seiner Familie frühzeitig in die USA - wie etliche weitere Strassmann-Verwandte.
Andere fielen der "Endlösung" zum Opfer oder überlebten in Verstecken. Ein
ausführliches Kapitel widmet sich dem entfernten Verwandten Ernst Strassmann,
der im Widerstand gegen die Nazis aktiv war und sich in der Nachkriegszeit sehr
um Berlin verdient machte.
Der Autor, Sohn Erwin Strassmanns, sammelte
zahlreiche Originalquellen (vielfach Briefe), Fotos und mündliche
Überlieferungen, besuchte die Orte, an denen Strassmanns gewirkt hatten, und
ordnete seine Funde zusammen mit einigen Informationen über den historischen
Kontext zu einem Buch.
Zunächst sei festgestellt, dass Sie sich von den
vielen Namen - im Buch erscheinen noch etliche mehr - nicht verwirrt fühlen
müssen, denn Stammbäume im Anhang machen die verzweigte Familie
durchschaubar.
Das Buch erzählt anhand dieser einmaligen Familiengeschichte
anrührend nach, wie sehr sich die liberalen Juden und jüdischstämmigen,
getauften Bürger Deutschlands im 19. und frühen 20. Jahrhundert um
gesellschaftliche Akzeptanz bemühten, wie intensiv sie assimiliert waren, wie
fortschrittlich sie in vielerlei Hinsicht eingestellt waren (siehe oben), wie
national sie dachten, wenn es um das Schicksal ihres Landes ging - etwa im
Ersten Weltkrieg - und wie schmerzlich sie der dumpfe, oft von Neid und Ignoranz
hervorgerufene Antisemitismus traf. Spannend und durch die persönliche
Orientierung gut nachvollziehbar lässt W. Paul Strassmann zwei Jahrhunderte des
historischen Deutschlands aus dem Blickwinkel einer um die sie umgebende
Gesellschaft bemühten "Dynastie" auferstehen. Die fairen Schuldzuweisungen, die
stete Sachlichkeit und das Briefmaterial jener sich darin als sehr sympathisch
offenbarenden, mehrfach vom Leid überrollten Menschen wirken umso bestürzender,
als der Autor Pauschalurteile meidet und dem heutigen Deutschland ohne
Bitterkeit gegenübertritt.
Dem Autor gelingt das schwierige Unterfangen, die
einzelnen Lebensläufe zugunsten einer hauptsächlich chronologischen Darstellung
zu unterbrechen, ohne dass der Leser allzu häufig nachblättern muss oder
inhaltliche Überschneidungen ihn langweilen. Der Inhalt erweist sich jedenfalls
auch dann als spannend, wenn einem die wohl berühmtesten Strassmanns, Paul und
Fritz, zunächst kein Begriff sind, denn die bewegten Biografien fast aller
Familienmitglieder lesen sich wie packende Romane. Nützliche Anmerkungen und ein
ausführliches Literaturverzeichnis ergänzen den Text.
Die sorgfältige,
stilschöne Übersetzung und die ansprechende Aufmachung, vor allem aber die
vielen Fotos aus diversen Strassmannschen Familienalben verleihen der
"Strassmann-Saga" einen angemessenen, würdigen Rahmen. Ein ganz
außergewöhnliches Buch über eine wahrlich außerordentliche Familie!
(Regina Károlyi; 02/2006)
Wolfgang Paul Strassmann: "Die
Strassmanns"
Übersetzt von Evelyn Zegenhagen.
Campus, 2006. 376
Seiten.
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Leseprobe:
(...)
Erwin und ein Verwandter hatten Antonie auf ihren ersten Flug mitgenommen: in
einem Korb, der unter einem gelben Leinwandballon hing, in der Dämmerung eines
Maimorgens des Jahres 1925. Erwin, der während des Krieges Artilleriebeobachter
in einer Balloneinheit gewesen war, hatte
Ballonfahren
zu seinem Hobby gemacht. Die drei verließen Bitterfeld, etwa 100 Kilometer
südlich von Berlin gelegen, und fuhren per Ballon 300 Kilometer nach Westen, wo
sie nach 14 Stunden in Marburg landeten. Drei Jahre später beschrieb Antonie das
magische Gefühl, "hoch über der Landschaft an einem festlichen Sonntag zu segeln
und weit unten die Kirchglocken zu hören. Sonst ist alles still, kein Geräusch,
nicht mal Wind".
In den nächsten zwei Jahren verbrachte Antonie ihre
Wochenenden mit Ballonfahrten und schloss auf diese Weise vielfältige
Freundschaften mit Fliegern. Einer von ihnen, C. H. Edzard von der Firma
Junkers, ein Weltrekordinhaber, lud sie ab und an zu Flügen in seinem
zerbrechlichen Zweisitzer ein. Manchmal flogen beide nachts auf die friesischen
Inseln und warfen dort Postsäcke ab. So begann Antonies langjährige Verbindung
mit der Firma Junkers. Antonie sagte, dass diese Flüge in ihr nicht nur die
Freude am Fliegen wachriefen, sondern einen regelrechten Durst danach. "Einen
Ballon kann man nicht kontrollieren, aber ein Flugzeug kann man beherrschen und
dorthin steuern, wo man will." Im September 1927 schrieb sich Antonie zur
Ausbildung an der Flugschule Bornemann in Staaken ein, ein paar Kilometer
westlich von Berlin.
Zu jener Zeit spielte sie die Königin Hippolyta im Sommernachtstraum
im Berliner Theater am Bülowplatz. Die Aufführung dauerte drei Stunden, und
Antonie war nie vor Mitternacht daheim in der Schumannstraße. Jeden Morgen stand
sie um fünf Uhr auf und fuhr nach Staaken, um dort für fünf Stunden Fluglektionen
und theoretischen Unterricht zu nehmen. Am Rande des Staakener Flugplatzes stand
neben einem schlichten Hangar ein kleines Backsteingebäude mit einem riesigen
Schild: "Lernt Fliegen!" Im Inneren gab es einen Raum mit einem langen Tisch,
auf dem sich Landkarten, Flugzeugmodelle und Instrumente befanden. In einem
kleineren Raum daneben standen Etagenbetten, in denen sich die Piloten vor einem
Alleinflug ausruhen oder bei Bedarf auch ausnüchtern konnten. Flugschüler lernten
nicht nur die Theorie des Fliegens, sondern auch, wie man Motoren und mechanische
Vorrichtungen auseinander nahm und wieder zusammensetzte. Nach 98 Flügen mit
ihrem Fluglehrer absolvierte Antonie am 13. Oktober 1927 ihren ersten Alleinflug.
1930 wurde Ernst Udet Antonies neuer Liebhaber. "Erni" gab ihr auch einen von
seinen warmen Pilotenoveralls, den Antonie viele Jahre lang trug. Ernst Udet
(1896-1941) war ein herausragender Kunstflieger, der gern als fliegender Clown
auftrat, mit Zylinder, Perücke und falschem Bart als "fliegender Professor"
ausstaffiert. Udet war ein Flieger-Ass, der Pilot mit der höchsten Zahl von
Abschüssen unter den überlebenden Piloten des Ersten Weltkriegs. Auf seinem
Kriegskonto standen 62 Abschüsse; der im Krieg gefallene "Rote Baron", Manfred
von Richthofen, hatte 80 gehabt. Udet war Deutschlands populärster Flieger,
er lehrte Kunstflug und spielte an der Seite von
Leni
Riefenstahl in den Abenteuerfilmen von Arnold Fanck. Ernst Heinkel schrieb
über ihn: "Udet war ein Freund jeder guten Flasche Wein und jeder guten Flasche
Cognac. ... Und seine Anziehungskraft auf Frauen entsprach dem merkwürdigen
Reiz seiner ganzen Persönlichkeit, wenngleich die Legenden, die darüber erzählt
wurden, die Wirklichkeit weit übertrieben." (...)