Thomas Karlauf: "Stefan George"
Die Entdeckung des Charisma
Dichterleben dicht erleben
"Stefan George ist fast der einzige Mensch in der dokumentierten
Geschichte, der ganz und nur sein Werk, seine Schöpfung ist! Jedes
Wissen um die organische Existenz mit all ihren Gesetzen und Zufällen
(Schnupfen, Lieben) bedeutet nicht sein Bild, sondern trübt dessen
wirkende Macht über die Seelen." (Aussage von Karl
Wolfskehl, S. 170)
Eben jene "organische Existenz mit all ihren Gesetzen und Zufällen"
und deren Lieben, (dankenswerterweise nicht Schnupfen), stellt Thomas
Karlauf, 1955 in Frankfurt am Main geboren, in den Mittelpunkt seiner
umfänglichen Betrachtungen. Der Autor der Biografie war zehn Jahre lang
für die George-Zeitschrift "Castrum Peregrini" tätig. Anlässlich seines
Mammutprojekts hat er von 1999 an sieben Jahre lang die gesamte
Forschung durchgearbeitet, in Archiven Berge von Material gesichtet.
Dies geschah im Bestreben, das Phänomen Stefan George akribisch zu
untersuchen. Thomas Karlauf: "Was ich dem Verleger als Entwurf
skizziert hatte und was mir als Ideal vorschwebte, war eine klassische
Biografie mit vielen erzählerischen Elementen (...)"
Das Ergebnis ist, was der Mensch Stefan George zweifelsohne nicht war:
grundsätzlich jedem Interessierten zugänglich.
Von den insgesamt 816 Buchseiten entfallen 639 auf die eigentliche
Biografie, mit Fußnoten zusammenhängende Anmerkungen finden auf den
Seiten 641 bis 768 Platz, sieben Seiten füllen Thomas Karlaufs
Äußerungen "Zu diesem Buch". Sechzehn Seiten mit
Schwarzweißfotografien, Danksagungen, ein 25-seitiges
Literaturverzeichnis, eine Zeittafel sowie ein elfseitiges Namenregister
komplettieren den Band.
Dieser stellt in erster Linie eine mit großem Kenntnisreichtum ebenso
ordentlich wie übersichtlich aufbereitete "Fundgrube"
(Künstleranekdoten, Briefwechsel, ...) dar, eine sachkundige
Aneinanderreihung aufgestöberter Zitate, die u.a. auch aufschlussreiche
Einblicke in die Literaturszene um die Jahrhundertwende (19./20. Jhdt.)
verschafft und viele bekannte Größen vergangener Tage zu Wort kommen
lässt.
Karlaufs Ausführungen weisen - das kann bei aller Wertschätzung für die
beachtliche Arbeitsleistung nicht verschwiegen werden - sprachliche
Störenfriede bzw. stilistische Misstöne auf. Gelegentlich versteigt sich
Karlauf, offenbar aller Recherche zum Trotz, zu ebenso befremdlichen wie
entbehrlichen Mutmaßungen, und stellenweise wirkt seine Wortwahl schnöde
bis angekränkelt; gelindegesagt fehl am Platz. Hierzu einige Beispiele:
Karlauf bezeichnet eine Lesung Georges in Den Haag als "Event" (S.
181), schreibt dem Dichter einen "Masterplan" (S. 207) sowie "cruising"
(S. 212) zu. Man liest von Georges "Marktstrategie" (S. 225),
stößt auf "schwules Happening" (S. 332) sowie "inner
circle" (S. 774) und findet George gar als "missing link"
eingestuft (S. 412). Derlei Vokabular trübt den Gesamteindruck
erheblich.
Seine Absichten verdeutlicht der Biograf im Abschnitt "Zu diesem
Buch", dem die nachstehenden Sätze entnommen sind:
"Das Werk Stefan Georges ist in der Öffentlichkeit nicht mehr präsent.
Eine Rezeptionsgeschichte, die zugleich Ideengeschichte wäre, gehört
sicher zu den spannendsten Desiderata in der George-Literatur. Mein
Ziel war es, ein biografisches Fundament zu schaffen, das den Zugang
zur Person künftig erleichtert und vielleicht zur weiteren
Beschäftigung mit dem Werk anregt." (S. 774, 775) "Ich habe
die Gedichte durchgängig als biografische Quelle genutzt und weiß,
dass ich mich damit angreifbar mache, zumal ich sie als verschlüsselte
Botschaften und intime Geständnisse lese."
Auf Seite 370 definiert Karlauf: "Das Ziel ist eine 'dichte
Beschreibung".
Mammutprojekte zu verwirklichen setzt bei allen Beteiligten langen Atem
voraus, wie schon ein Beispiel aus der Kunstgeschichte der ersten Hälfte
des 16. Jahrhunderts belegt: Papst Clemens VII. beauftragte
Michelangelo Buonarroti mit dem Fresko des "Jüngsten Gerichts" in
der Sixtinischen Kapelle; er hat dessen Fertigstellung nicht mehr
erlebt.
Der Verleger Karl Blessing, der im Jahr 1999 bei Karlauf die
George-Biografie in Auftrag gegeben hatte, starb noch vor deren
Veröffentlichung.
Des sehers wort ist
wenigen gemeinsam: Schon als die ersten kühnen wünsche kamen In einem seltnen reiche ernst und einsam Erfand er für die dinge eigne namen - (...) (Aus "Das Jahr der Seele" von Stefan George) |
Er galt als
kompromissloser Verfechter ästhetischen Literaturschaffens,
und sein Wort war im oftmals (laut Karlauf fälschlich) so
genannten "George-Kreis" Gesetz: Stefan George, einer der
bedeutendsten deutschen Lyriker des 20. Jahrhunderts. |
George hielt sich oft als
Gast bei seiner Schwester oder Freunden auf, so zum Beispiel bei den
Eheleuten Wolfskehl in München, in wachsendem Ausmaß verehrt nicht nur
von der aus schillernden Figuren und allerlei Sonderlingen bestehenden
Schwabinger Bohème um die umtriebige Franziska
Gräfin zu Reventlow. Es dauerte nicht lange, und die lokale
Gerüchteküche brodelte, wie Karlauf anhand eines Zitats ausführt: "'Die
seltsamsten Gerüchte', seien damals umgegangen, erinnerte sich Oscar
Schmitz. 'So wurde erzählt, George lese mitternachts bei
Lepsius, auf einem Elfenbeinthron sitzend, von nackten Epheben
umgeben, zwischen Weihrauchwolken seine Gedichte vor.' Als Schmitz
Wolfskehl um Aufklärung bat, entgegnete ihm dieser: 'Sie haben es doch
hoffentlich nicht dementiert.'" (S. 314)
Mit seinen vorwiegend in durchgehender Kleinschreibung gehaltenen,
beinahe ohne Satzzeichen auskommenden Gedichten, die in Bänden mit
klingenden Titeln wie z.B. "Das Jahr der Seele", "Der
Teppich des Lebens", "Der Siebente Ring", "Der Stern
des Bundes" und "Das Neue Reich" vorliegen, schuf
er ein bemerkenswertes Gesamtwerk, zu dem auch einige wenig beachtete
Prosastücke zählen. Thomas Karlauf dazu: "Die Georgesche Prosa,
schroff und spröde, noch in ihrer Beiläufigkeit von imperialem Gestus,
entfaltete allerdings einen eigentümlichen Reiz." (S. 307)
Überdies erarbeitete Stefan George nachdichtende Übersetzungen einzelner
Werke berühmter Autoren wie z.B. Dante, Shakespeare,
Baudelaire
und Mallarmé.
Stefan Georges Werk ist nach dem Zweiten Weltkrieg ins Abseits geraten
oder vielmehr gänzlich von der Bildfläche verschwunden. Der Einsatz
problematisch-dehnbarer Begriffe wie z.B. "Reich" und "Führer" hatte
sich als verhängnisvoll erwiesen. Aufschlussreiches hierzu bietet
Karlaufs Biografie im Kapitel "Staat - Nation - Reich" ab Seite
577. "Georges Einstellung zu den Juden entsprach dem vor allem im
Mittelstand der 'ganz gewöhnlichen Deutschen', von denen 1933 viele so
unempfindlich geworden waren, dass die schrittweise Entrechtung von
Juden sie nicht wirklich empörte. So schlimm wird es schon nicht
kommen, dachten 1933 viele, und zu ihnen gehörte auch Stefan George",
schreibt Thomas Karlauf auf Seite 605.
Stefan George quartierte sich 1933 abermals in Minusio bei Locarno ein,
wo er im Beisein seiner Getreuen am 4. Dezember starb.
Alfred Henschke, auch bekannt unter seinem Künstlernamen Klabund,
äußerte sich über Stefan George in "Deutsche Literaturgeschichte in
einer Stunde" folgendermaßen:
"In einem seiner ersten Gedichte versteigt er sich bis zur Apotheose
der Ausschweifung: im Heliogabal. Aber immer reiner klärt sich seine
Welt: bis das Jahr der Seele herrlich sichtbar wird, der Teppich des
Lebens sich vor ihm breitet, der Engel ihm den Weg weist und der Stern
des Bundes magisch erblinkt. Stefan George begann als Fackelträger des
reinen Wortes in einer Zeit, die das Wort verunreinigte und
beschmutzte, er schritt fort in einer Zeit, die verschwelt und rauchig
loht, die zu Baal und Beelzebub betet, die kein Sonnengold, nur ein
Geldgold kennt, die alles "zweckmäßig" einrichtet und als Ziel
die Zweckmäßigkeit postuliert oder die Ziellosigkeit an sich. Die
geistige und moralische Begriffe verwechselt und ein politisches
Parteiprogramm von Spinozas Ethik nicht zu unterscheiden vermag. Sie
hat auch bei George gebändigte Leidenschaft mit Temperamentlosigkeit,
die Gebärde des echten Priesters mit den Tingeltangelallüren ihrer
geistigen Charlatane, die gekonnte Kunst mit gemachter Mache
verwechselt. Sei’s. Die Weltgeschichte ist auch das Weltgedicht:
einige der schönsten Strophen dieses Gedichtes hat Stefan George
gesungen.
Aus dem Kreise Georges sind als Dichter vom Rang Hugo von Hofmannsthal
(geb. 1874 in Wien) und
Rainer Maria Rilke (geb. in Prag 1875)
hervorgegangen. (...)
Die "ersten Hergereiften", die der kommenden deutschen
Dichtergeneration die neuen Lieder lehrten, waren
Nietzsche
und George."
"Weil er sich mit der 'Entzauberung der Welt' nicht abfinden wollte,
suchte er das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Mit Hilfe einer neuen
Spiritualität sollte der Zauber neu in die Welt gebracht werden." (S.
311)
Die Entdeckung des Charisma - Position und Pose
Stefan George, der autoritäre Meister von eigenen Gnaden, stand über
seinen "Jüngern", und diese unterwarfen sich seinem Führungsanspruch und
Sendungsbewusstsein sowie den Initiationsriten samt Verhaltenskodex in
quasi-religiösem Eifer bedingungslos, nicht selten mit Haut und Haar.
Interessanterweise wurden viele Briefe Georges, die dieser für
verhängnisvoll-intim hielt, auf Geheiß des Absenders, nachdem sie
gelesen waren, von gehorsamen Empfängern verbrannt, und George selbst
vernichtete zum Leidwesen der Forscher nicht zur Veröffentlichung
bestimmte Vorstufen seiner Gedichte.
Stefan George verfügte unbestritten über eine bereits in jungen Jahren
eigentümliche Ausstrahlung, schon allein seine Erscheinung fiel auf ("Die
breite, weit vorspringende Stirn über verschatteten Augenhöhlen, die
hohlen Wangen, der herbe, schmallippige Mund, zuletzt der eigenartig
wächserne Teint, der mitunter fast olivenfarben schimmerte", "George
war unter 1,75 Meter groß. Da er aufrecht ging, den Kopf meist in den
Nacken warf und den kurzen Hals durch einen hohen Stehkragen mit
weißer Schleife optisch verlängerte, wirkte er jedoch größer." S.
14).
Allgemein bekannt ist seine einst vom Dichter selbst gern unterstrichene
Ähnlichkeit mit Dante.
So schrieb beispielsweise Rolf Vollmann in "Die Zeit" (38/2004)
unter dem Titel "Wir haben ewig nichts von Stefan George gehört":
"Von einem bestimmten Alter an sah Stefan George wie Dante aus, er sah
gern wie Dante aus, aber natürlich sind das bloß Attitüden. Ist es
schön, wie Dante auszusehen? Ist es angenehm? Oder angenommen, man
nimmt es hin, wie Dante auszusehen: Spricht nun irgendetwas dafür, wie
Dante aussehen zu wollen? Ausgerechnet wie Dante? Andererseits sieht
auch Franz
Liszt manchmal wie Dante aus, sodass also Stefan George
vielleicht nur wie Franz Liszt aussehen wollte, aber keiner hat es ihm
abgenommen, alle fanden, er sähe wie Dante aus, und darein hätte er
sich dann schließlich geschickt. Aber, wie gesagt, das sind alles bloß
Attitüden."
Besagter Ähnlichkeit kann man in Karlaufs Buch ab Seite 255 selbst
nachspüren. Im ersten Bildteil findet sich hierzu auch eine im Jahr 1904
entstandene Aufnahme, die George entsprechend kostümiert zeigt.
Charisma: Das Fremdwort ist seit dem 18. Jahrhundert belegt. Es
stammt ab von griechisch chárisma "Gnadengabe", zum Verb charízesthai
"gefällig sein, gerne geben". Ins Deutsche ist es über die Vermittlung
von vulgärlateinisch charisma "Geschenk" gelangt. Zunächst
wurde es nur im religiösen Bereich im Sinne einer "von Gott als
Geschenk verliehenen außergewöhnlichen Begabung eines Christen in der
Gemeinde" verwendet. Seit dem 20. Jahrhundert findet es sich in der
allgemeineren Bedeutung "besondere Ausstrahlung". (Aus "Duden.
Das Herkunftswörterbuch")
"'Charisma' - dieser schillernde Begriff besitzt in der
abendländischen Kultur erhebliches Gewicht, und zwar sowohl in
Theologie und Frömmigkeit, als auch in der politischen und sozialen
Praxis. Die Bedeutung des Konzepts beschränkt sich nicht auf den
Zeitraum bis zum späten Mittelalter, es wirkt vielmehr bis in die
Gegenwart fort. Seit Max Weber dient der Begriff zudem als
soziologisches Interpretament. Auf ein Charisma oder auf Charismen zu
reflektieren, dient zur Legitimation wie zur Kritik verschiedenster
Macht-, Geltungs- und Wahrheitsansprüche, die als unhinterfragbar
gelten oder behauptet werden sollen." (Klappentext von "Das
Charisma - Funktionen und symbolische Repräsentationen"; siehe Buchtipps
am Seitenende).
Karlauf eröffnet - warum
auch immer - seine George-Biografie mit der als "Prolog"
bezeichneten detaillierten Darstellung der bislang
vielleicht nur in groben Zügen bekannten Vorkommnisse im
Zuge der "Affäre Hofmannsthal", die im Winter 1891/1892 im
Wiener Innenstadtcafé "Griensteidl" ihren Anfang nahm und in
der Androhung einer Herausforderung zum Duell gipfelte. |
Der Prophet (Hugo von Hofmannsthal, 1891) |
Nach Ansicht Karlaufs war "Georges
Karriere (...) die eines Homosexuellen, der sich selber so nicht
definierte und sich weigerte, Homosexualität als gesellschaftlichen
Makel zu akzeptieren. Aus dem Widerspruch zwischen groß gefühlten
Idealen und der Angst vor Verfemung entwickelte er im Laufe der Jahre
eine eigene Weltanschauung, in der die Überwindung des Sexus durch die
'übergeschlechtliche Liebe' als Sieg des 'pädagogischen Eros' gefeiert
wurde." (S. 772, 773)
Die Bedeutung des "Sodomie"-Prozesses gegen Oscar Wilde ist in Bezug auf
Georges Abgrenzung, seine Geheimniskrämerei, diverse Verschlüsselungen,
seine grundsätzliche Vorsicht bis zu Misstrauen in vielen Belangen nicht
zu unterschätzen, denn Homosexualität wurde damals auch in Deutschland
strafrechtlich verfolgt. Nicht von ungefähr fühlte sich George von
gewissen Lebenswirklichkeiten im antiken Griechenland besonders
angezogen ("pädagogischer Eros, heroisierte Liebe"). Allerdings
erspart Karlauf der Leserschaft pikante "Bettgeschichten" ebenso wie
sensationslüsterne Rückblicke durch Schlüssellöcher.
"Ich kann mein leben nicht leben es sei denn in der vollkommnen
äussern oberherrlichkeit, was ich darum streite und leide und blute
dient keinem zu wissen.", schrieb der stets auf die Wahrung seiner
Privatsphäre bedachte George im Jahr 1905 in einem Brief an Sabine
Lepsius (S. 350).
Drei chronologisch aufgebaute Großkapitel ("Der Aufstieg 1868-1898":
Der Sternegucker, Heldenverehrung, Paris-Berlin, Lauter Abschiede,
Schmerzbrüder, Neue Perspektiven, Der Durchbruch; "Die Sendung
1899-1914": Das schöne Leben, Ahnengalerie, Blutleuchte, Der Herr der
Wende, Knabenerziehung, Die charismatische Herrschaft, Prophetenmusik;
"Der Rückzug 1918-1933": Pfingsten, Die Deutung des Krieges, Das
große Aufräumen,
Der Biograf beleuchtet also Kindheit, Schulzeit, Werdegang,
Mythenbildung und Personenkult im Licht von Georges unbeirrbarer
Ausgestaltung der eigenen Individualität und des Aufbaus eines
mythologisch-esoterischen Wertesystems eigener Prägung. Er unternimmt
Exkurse in die damalige politische Landschaft, erläutert
gesellschaftliche Entwicklungen sowie Strömungen und befasst sich auch
mit den Vorfahren des Dichters.
Er wartet sowohl mit Hintergrundinformationen über Personen auf, die
sich einige Zeit im Glanz des Meisters sonnen durften oder dessen engen,
manchmal unberechenbaren Sympathie-Lichtkegel nur mehr oder weniger
flüchtig streiften, als auch mit einer beeindruckenden Fülle an Aussagen
sowie Urteilen von Zeitgenossen über den Literaten, dem es wichtig war,
eine Elite Gleichgesinnter um sich zu scharen und das Einssein von Leben
und Dichtung zu verwirklichen.
"Der Wunsch, einen Freundeskreis um sich zu sammeln, der beides in
einem war, Inspirationsquelle und Resonanzraum, begleitete George seit
den Schultagen. (...) Trotz aller Mängel und Schwächen bei der
Umsetzung hielt George jedoch an der Vorstellung fest, dass nur der
Geist der Gemeinschaft vor den Zersplitterungen rette." (S.
205)
Georges Bezugspersonen (Mitstreiter, Freunde, Gefährten und auch
sogenannte "Sehr Süße") mussten offenbar vor allem schier
unerschöpfliche Duldsamkeit an den Tag legen, um den Anforderungen des
Meisters gerecht zu werden und Zerwürfnisse sowie endgültige Brüche, die
den Ausschluss aus dem Kreis zur Folge hatten, zu vermeiden. Man
wetteiferte nach Kräften um die Gunst des Meisters. Naturgemäß blieben
Meinungsverschiedenheiten ebensowenig aus wie Intrigen, Streitereien und
wechselnde Konstellationen, wovon nicht zuletzt die "Blätter für die
Kunst" oder auch andere Publikationen aus dem Umfeld Georges
Zeugnis ablegen.
Es entstand eine anhaltend kreativ-fruchtbare Atmosphäre, zu der Georges
Bekanntschaften mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Carl
August Klein, Carl Rouge, Arthur Stahl, Ida Coblenz (zeitweilige Muse),
Paul Gérardy, Edmond Rassenfosse, Waclaw Lieder, Richard Perls, Karl
Wolfskehl ("der Zeus von Schwabing"), Melchior Lechter, Albert
Verwey, Sabine Lepsius, dem Verleger Georg Bondi, Richard M. Meyer,
Georg Simmel, Gundolf (eigentlich Friedrich Gundelfinger), Erich
Boehringer, Ernst Morwitz (den Karlauf 1971 noch persönlich
kennenlernte), Alfred Schuler (ein homosexueller obskurer "Mysterienforscher";
"Durch ihn wurde der Phallos zur eigentlichen Obsession von
Schwabing"), Ludwig Klages ("der brillanteste Kopf der
Schwabinger Szene"), dem am 15. April 1904 im Alter von 16 Jahren
verstorbenen Maximilian Kronberger ("Maximin"), Max Kommerell, Norbert
von Hellingrath (der den Nachlass Hölderlins erschloss), Max
Weber (Charisma wird zum Ausgangspunkt einer neuen
Herrschaftssoziologie), Percy Gothein, Woldemar Graf von
Uxkull-Gyllenbrand, Ernst Kantorowicz (verfasste auf Anregung und unter
Mitwirkung Georges die 1927 erschienene Biografie des
Hohenstaufenkaisers Friedrich II.), Ludwig Thormaehlen, Frank Mehnert
sowie den
Brüdern
Stauffenberg, um nur einige zu nennen, das Ihre beitrugen.
Dem von etlichen Zeitgenossen als "künstlerische Sekte" bezeichneten
Freundeskreis galten Platon
und Hölderlin
als Identifikationsfiguren. Man schwelgte in Visionen vom "neuen Leben"
und begeisterte sich für die Jugend in Gestalt ansehnlicher Knaben. Der
Bund war für seine Mitglieder die Keimzelle eines "Geheimen
Deutschlands", eines geistigen "George-Staates", der sich u.a. über
männliche Ideale der Antike, Gesinnungstreue, die Einheit von Dichtung
und Tat und in späteren Jahren auch über die Verehrung des
Hohenstaufenkaisers Friedrich
II. definierte.
Karlauf: "Kantorowicz war nicht der einzige der Georgeaner, der dem
toten Kaiser im Dom von Palermo die Ehre erwies. In der Osterwoche
standen am Sarkophag auch Albrecht von Blumenthal mit seinem jungen
Freund Berthold von Stauffenberg und Maria Fehling sowie Erika Wolters
in Begleitung Kurt Singers. (...) Wer von ihnen den Kranz niederlegte,
mit dem die Sage vom Geheimen Deutschland letztlich begründet wurde,
ist nicht mit Sicherheit auszumachen, am ehesten wohl Erika Wolters."
(S. 557)
Stefan George kümmerte sich zeitlebens kaum um Tagespolitik, legte sich
politisch nicht fest und ließ sich - als Person - nicht vereinnahmen.
Auch teilte er die Euphorie der Massen beim Ausbruch des Ersten
Weltkriegs im August 1914 nicht. Wie Franz Schonauer in seiner kleinen
aber feinen bei Rowohlt erschienenen Monografie ausführte: "Der
Aufeinanderprall der Massen ist nicht sein Krieg; schon äußerlich
betont George, wie wenig ihn die Ereignisse angehen und wie wenig er
sein Leben von ihnen bestimmen lässt." und: "Als Deutschland
den Krieg verliert, ändert das Georges Meinung über die Rolle, die
diesem Land zufallen wird, nicht; mit dem Zusammenbruch seiner
militärischen Macht geht nur eine alte Zeit zu Ende. Zugleich aber
sind die Besten des Volkes durch die Not geläutert worden und nun erst
reif für die eigentliche Aufgabe: die Errichtung des 'neuen Reiches.'"
Der Dichter selbst wurde aufgrund seines Alters nicht einberufen. Unter
den zahllosen Kriegstoten waren auch Mitglieder des Freundeskreises, und
George blickte sorgenvoll auf sein in den Grundfesten erschüttertes
Lebenswerk.
Symbolträchtig scharte der Dichter zu Pfingsten 1919 eine Auslese seiner
Getreuen in Heidelberg um sich, und es begann, was Karlauf "das
große Aufräumen" nennt.
Die ersten Nachkriegsjahre gestalteten sich schwierig; man suchte sich
zu positionieren. "In der öffentlichen Wahrnehmung der zwanziger
Jahre war George ein Vorkriegsdichter, der den Höhepunkt seines
Schaffens hinter sich hatte." (S. 507)
Zudem schwächte den Dichter seit etwa 1915 ein körperliches Leiden: Er
litt an einer schmerzhaften Entzündung der ableitenden Harnwege und
beginnendem Nierenversagen, weshalb er sich im Lauf der Jahre einigen
Operationen unterziehen musste.
1926 war Stefan George der ständigen Wanderschaft müde und überlegte, in
der Schweiz sesshaft zu werden. "Bingen sei vorbei, in München finde
sich nichts, Heidelberg habe sich zerschlagen, Königstein könne jeden
Augenblick aufgegeben werden; am besten sei vielleicht Basel." (S.
572)
George, selbst ein über die Maßen kritischer Leser, erstellte für seine
Freunde Bücherlisten (unterteilt in "die Unbedingten", "die
Nötigen", "die Nützlichen"), schätzte die Werke
Jean
Pauls, wohingegen er die allgemeine Begeisterung für
Goethes
Schaffen nicht vorbehaltlos teilte. Dem enorm breitenwirksamen Werk "Der
Untergang
des Abendlandes" von Oswald Spengler bescheinigte er "nur
vorübergehende Bedeutung" (S. 499), und auch bei
Heine
fand er wohl mehr als ein Haar in der Buchstabensuppe, wie Karlauf zu
berichten weiß: "Witz und Ironie hatten in der Dichtung so wenig zu
suchen wie die von Heine lustvoll betriebene Zerstörung der
dichterischen Illusion durch schnöde Reminiszenzen an den Alltag."
(S. 303)
Auch Thomas Mann war George nicht geheuer; das hatte allerdings
menschliche Gründe. Wie auf Seite 539 nachzulesen, bezeichnete George
den Zunftkollegen als "gemeinen und gefährlichen kerl", und im
November 1924 trafen die beiden unbeabsichtigt in Berlin im Haus des
Verlegers Bondi, wo Stefan George zu jener Zeit wohnte, aufeinander: "'Unheimliche
Begegnung mit IHM', notierte Mann." (S. 571)
Den Abschluss der Biografie bilden Thomas Karlaufs eigene Gedanken über
den deutschen Geist: "Am Anfang stand der folgenschwere Irrtum, dass
der Geist die eigentliche Macht repräsentiere und alle politischen,
gesellschaftlichen und ideologischen Entwicklungen ihn nichts
angingen. Weil er nicht einmal im Jahr 1933 von dieser Hybris ließ,
wurde der deutsche Geist, wie ihn Stephan Anton George aus Büdesheim
bei Bingen aufgefasst und mit imperialer Geste vertreten hatte,
mitschuldig und verschwand für immer im Abgrund der Geschichte."
Darüber, wer diesem deutschen Geist im "Abgrund der Geschichte"
bereits Gesellschaft leistet oder bald leisten wird, darf und soll
natürlich spekuliert werden. Doch vielleicht wendet man sich zunächst
einfach (wieder) Stefan Georges Gedichten zu und hält es wie seinerzeit
Karl Wolfskehl, der sich vor der ersten Begegnung über seinen späteren
langjährigen Weggefährten einmal wie folgt äußerte: "Von ihm als
Erscheinung, Schicksal, Lebensgang erfuhr ich nichts, die magische
Wirkung ging aus allein vom Werke selber, vom gestalteten Wort. Dies
so sehr, so ausschließlich, dass nicht einmal der Wunsch rege ward,
Einzelnes, Äußerliches zu erfahren." (S. 168).
(kre; 10/2007)
Thomas Karlauf: "Stefan George. Die
Entdeckung des Charisma"
Gebundene Ausgabe:
Karl Blessing Verlag, 2007. 816 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Taschenbuchausgabe:
Pantheon, 2008. 816 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Weitere Buchtipps:
Ulrich Raulff: "Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. Eine
abgründige Geschichte"
"Auch Totsein ist eine Kunst", hat der einstige George-Jünger Max
Kommerell einmal bemerkt. Stefan George hat diese Kunst meisterhaft
beherrscht. Wo andere Dichter eine Rezeptionsgeschichte haben, da hat er
ein Nachleben. Eines, das es in sich hat.
Ulrich Raulff legt in seinem fulminant geschriebenen Buch die postume
Biografie Georges frei, die es noch zu entdecken gilt. Spannend, kurios,
exzentrisch, schräg, zugleich akribisch recherchiert, erzählt es die
Geschichte eines einzigartigen Kreises voll illustrer Charaktere, der
langsam zerfällt, Allianzen bildet und Feindschaften pflegt, um
Deutungshoheit und Treue ringt und dabei vom annus horribilis 1933 bis
zum Satyrspiel 1968 beinahe nebenher eine höchst außergewöhnliche
Wirkungsgeschichte entfaltet. Eine abgründige Ideengeschichte, eine
kaputte Apostelgeschichte und ein Lesevergnügen der exquisiten Art.
(C.H. Beck)
Buch bei amazon.de bestellen
Christophe Fricker
(Hrsg.): "Friedrich Gundolf - Friedrich Wolters. Ein Briefwechsel aus
dem Kreis um Stefan George"
Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters zählen zu den Schlüsselfiguren
des intellektuellen Lebens im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts.
Gundolf war Professor für Germanistik in Heidelberg. Wolters lehrte mit
beträchtlicher Wirkung Geschichte in Marburg und Kiel. Nicht zuletzt
gehörten beide zum engsten Kreis um Stefan George.
Ihr hier vorliegender Briefwechsel, dessen Veröffentlichung lange
erwartet wurde, wirft neues Licht auf beide Korrespondenten und ihr
Umfeld. Ihre Themen, darunter Gundolfs skandalumwitterte Beziehung zu
Elisabeth Salomon, die zum Bruch mit George beitrug, kreisen um das
Verhältnis von Denken und Handeln, die Bedeutung von Gedichten und von
Gemeinschaft. Stefan George ist darin als persönlicher Freund, aber auch
in seiner gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedeutung präsent.
Mit diesem Briefwechsel wird das Bild der geistigen Landschaft zwischen
1910 und 1925, und des George-Kreises als eines ihrer
Kristallisationspunkte, beträchtlich erweitert. (Böhlau)
Buch bei amazon.de bestellen
"Frauen um Stefan George" zur Rezension ....
Georg Dörr: "Muttermythos
und Herrschaftsmythos - Zur Dialektik der Aufklärung um die
Jahrhundertwende bei den Kosmikern / Stefan George und in der
Frankfurter Schule"
W. Benjamins frühes Interesse an der Lyrik Stefan Georges und der
Philosophie Ludwig Klages' (etwa ab 1914) hat zu einem verzögerten (aber
nachhaltigen) Ideenimport von mythischen Modellen in die Philosophie der
Frankfurter Schule geführt (v.a. in der "Dialektik der Aufklärung"
1947). In dieser Untersuchung werden deshalb zwei in ihrer Zielrichtung
verschiedene Formen von Antike- und Mythenrezeption einander
gegenübergestellt: Während die Kosmiker und Stefan George versuchen,
gegensätzliche Formen antiker Religionen (Muttermythos und
Herrschaftsmythos) in der Moderne wieder zu beleben, gewinnen in der
neomarxistischen Philosophie der Frankfurter Schule unter dem Druck der
historischen Ereignisse die von Benjamin vermittelten Anstöße zunehmend
an Bedeutung, ohne dass eine letztlich messianische Zielrichtung
aufgegeben wird.
Durch den interdisziplinären Ansatz der Untersuchung wird u.a. ein mit
Hilfe von antiken Mythen legitimierter Konnex zwischen Homoerotik
(Männerbund), Antifeminismus (bzw. mythischer Überhöhung des Weiblichen)
und Antisemitismus deutlich, der in den verschiedenen Diskursen
aufscheint. Dass für diesen Zusammenhang die heute neu diskutierte
Spannung zwischen Polytheismus (oder mit J.
Assmann "Kosmotheismus") und Monotheismus konstitutiv ist,
verleiht der Arbeit einen aktuellen Bezug. (Königshausen & Neumann)
Buch bei amazon.de bestellen
Pavlína Rychterová, Stefan
Seit, Raphaela Veit (Hrsg.): "Das Charisma - Funktionen und
symbolische Repräsentationen"
(Akademie Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen
Friedrich Voit: "Karl Wolfskehl. Leben und Werk im Exil"
Das Leben des Dichters Karl Wolfskehl (1869-1945) während des Exils wird
hier erstmals umfassend dargestellt. Zugleich vermittelt das Buch einen
Einblick in die Entstehung des Spätwerks.
Die Flucht des vierundsechzigjährigen Karl Wolfskehl aus Deutschland am
Tag nach dem Reichstagsbrand markiert eine Zäsur nicht nur in der
Biografie, sondern auch im Schaffen des Dichters. Mit dem Beginn des
Exils setzte eine neue schöpferische Phase ein, die bis zu seinem Tode
im fernen Neuseeland anhalten sollte. Es sind die Gedichte und die
Briefe des letzten Lebensabschnitts, die heute das Bild bestimmen, mit
dem er in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Wolfskehl floh
zunächst in die Schweiz und
nach Italien, und dann 1938 nach Neuseeland,
als der deutsche Faschismus
sich über ganz Europa auszubreiten drohte. Trotz des bisweilen fast
überwältigenden Gefühls des Verlustes von Heimat, Familie und Freunden
bewahrte sich Wolfskehl eine erstaunliche Vitalität. Es gelang dem
Dichter noch im hohen Alter mit der jungen neuseeländischen Avantgarde
und einigen Mitflüchtlingen aus Europa in einen wechselseitigen
fruchtbaren Kontakt zu treten.
Die wichtigsten Dichtungen dieser Jahre - "Die Stimme spricht" von 1934,
das große Gedicht "An die Deutschen" (1934 und 1944 entstanden, 1947
erschienen), die Zyklen "INRI oder die vier Tafeln" (entstanden
1933-1947) und "Hiob oder die vier Spiegel" (entstanden 1944-1947)
sowie die umfangreichen Briefwechsel mit weltweit verstreuten Freunden
und Bekannten kreisen um die Themen Exil und jüdische Identität. Mit
seinem Spätwerk trat Wolfskehl endgültig aus dem Schatten Stefan Georges
heraus und schuf einen gewichtigen und einzigartigen Beitrag zur
deutschsprachigen Exilliteratur im 20. Jahrhundert. (Wallstein Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen
Stephan Kurz: "Der
Teppich der Schrift. Typografie bei Stefan George"
Typografie liegt an der Oberfläche jedes Buches - gerade deshalb wird
sie gewöhnlich übersehen. Schrift
und Typografie erhalten bei George eine Bedeutung, die über die der bloß
vermittelnden Instanz hinausgeht. Dies zeigt sich an den von George
selbst handgeschriebenen Druckvorlagen seiner Gedichtbände, das zeigt
sich an der gewählten bzw. eigens entwickelten Typografie, der
sogenannten "Stefan-George-Schrift", in der ab 1904 seine Gedichte
erschienen. Georges als "Gesamtkunstwerk" durchgeplante Bücher,
insbesondere "Der Teppich des Lebens" und die "Lieder von Traum und Tod
mit einem Vorspiel" (1899/1900) zeigen, wie eng typografische und
buchgestalterische Entscheidungen mit den in den Texten zugleich
angelegten und ablesbaren Poetologien verknüpft sind. Stephan Kurz
liefert mit seiner Untersuchung eine interdisziplinäre Annäherung an die
Bedeutungen und Funktionen von Typografie, die neue Lesarten des Textes
ermöglicht.
Die Fokussierung der lyrischen Produktion Stefan Georges auf ihre
grafischen und typografischen Ausformungen wird mit den Poetologien des
Autors verschränkt, deren Umrisse in den kunsttheoretischen
Auseinandersetzungen der "Blätter für die Kunst", aber auch in vielen
Gedichten Stefan Georges sichtbar werden. Die historischen und
medienhistorischen Kontexte, die typografischen und technologischen
Bedingungen und ihre Entstehungsgeschichte sowie die dichterischen
Programmschriften Stefan Georges zeigen: Die esoterische
Abgeschlossenheit von Georges Dichtung verdankt sich auch in ihrer
sozialen Überformung im George-Kreis letztlich einer dichten Moderne,
die sich - nicht nur technologisch - auf der Höhe der Zeit befindet und
alles mit allem verstrickt. (Stroemfeld Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen