Laurence Sterne: "Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman"


Die Erfindung der Abschweifung

"Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman" heißt das Buch mit vollem Titel, wobei man allerdings über das Leben des Tristram Shandy herzlich wenig erfährt, dafür aber über dessen Vater, die Mutter, den Onkel Toby und allerlei Nebenfiguren. Gleich zu Anfang wird der Vater beim Zeugen des Tristram unterbrochen, der eigentlich Trismegistus hätte heißen sollen, aber zweier Einfaltspinsel wegen das Geburtsregister nur noch fragmentarisch als Tristram erreicht. Wäre einem Trismegistus Shandy ein anderes Schicksal beschieden? Doch dagegen spricht der Nachname Shandy, der im Yorkshire English "ein wenig verrückt" bedeutet.

Tristrams Vater Walter ist ein wahrer Pedant, verschrobenen Geistes Betrachtungen niederschreibend, ohne diesen eine Gestalt oder gar ein Ende zu verleihen. Walters Bruder und somit Tristrams Onkel Toby fuhr einst ein massiver Splitter eines Festungssteins mächtig ins Gekröse und lässt ihn Zeit seines Lebens daran leiden. Aber zur Schilderung dieses Vorgangs und seiner Folgen benötigt der erzählende, abschweifende, sich im Kreise drehende Erzähler Seite um Seite, ohne dass der Leser wissen kann, ob er wirklich erfahren wird, was passierte und was daraus resultierte. Doch Onkel Toby leidet ein wenig genüsslich und entwickelt sich kraft der unmittelbaren Erfahrung mit Festungsgemäuer zu einem veritablen Fachmann für Festungsfragen.

Eine Handlung im eigentlichen Sinn hat das Buch nicht, auch keine Chronologie, aber es zeugt von einer unglaublichen Fabulierkraft Sternes. Als Fußnotenroman wird das Buch gelegentlich gehandelt, der sich über nebensächliche Anmerkungen so weit erstreckt, bis womöglich das Papier ausging. Scheinbar ohne roten Faden, aber auch in kurzen Erzählstrecken ohne erkennbaren Plan, zahllose Nebensätze eröffnend, mit dem Bindestrich das gerade Erzählte fixierend. Den Weg scheint dieses Werk dem Leser quasi erzählerisch als Ziel zu präsentieren.

Eine Kostprobe des Textes: YORICK war des Pfarrers Name, und was besonders bemerkenswert daran ist, man buchstabiert ihn (wie eine uralte, auf starkem Pergament geschriebene und noch jetzt makellos erhaltene Familienurkunde bezeugt) schon akkurat so seit, - ums Haar hätt' ich gesagt neunhundert Jahren; - doch ich möchte meine Glaubwürdigkeit nicht durch das Behaupten einer unwahrscheinlichen Wahrheit erschüttern, so unbestreitbar diese an sich auch ist; - und darum will ich mich begnügen bloß zu sagen, --- Man buchstabierte ihn ohne die geringste Änderung oder Vertauschung einer einzigen Letter, schon akkurat so, was weiß ich wie lange; [...].

Sterne präsentiert dem Leser auch nicht den fertigen Text, sondern entwickelt diesen vor den Augen des Lesers. Man wartet darauf, dass sich eine neue Erzählebene auftut und ein virtueller Leser sagt: "Angeklagter, jetzt kommen Sie aber einmal zum Punkt." Aber er kommt nicht zum Punkt, sondern fabuliert drauflos, verzettelt sich, baut unmögliche Sätze, die sich über eineinhalb Seiten erstrecken, die sich jedoch nicht in einem Sinn verdichten, sich hingegen am Ende schlicht auflösen. Wie das obige Beispiel, das sich über ein Drittel einer Seite erstreckt und nur beinhaltet, dass der Erzähler von einem alt aussehenden Pergament nicht weiß, wie alt es ist. Aber das wäre nicht Shandy, wäre nicht Sterne.

Dieses Buch war wohl als ein Frontalangriff gegen den Rationalismus und die bürgerliche Moral des 18. Jahrhunderts gedacht und wurde genau so aufgenommen. Bereits im 18. Jahrhundert beeindruckte Sterne die französischen Enzyklopädisten, aber auch die deutschen Klassiker. Der Erfolg des Werkes wurde sicherlich auch durch eine gelegentlich frivole, gar anzügliche Schilderung getragen. Doch wahre Wertschätzung erfuhr "Tristram Shandy" erst im 20. Jahrhundert.

Man muss sich aber als Leser auch darauf einlassen können, der Kopf muss einigermaßen frei sein, um sich in das Werk fallen zu lassen und sich von den Sätzen langsam durch dieses außergewöhnliche Werk treiben zu lassen. Auch Zeit ist nötig, denn der Text kann seinen Zauber oft erst entfalten, wenn man den Anfang einer seitenlangen Abschweifung noch in Erinnerung hat. Dieses Buch sollte man sich zu Gemüte führen, wenn man Zeit und Muße dazu hat, auch einmal 100 Seiten am Stück zu lesen. Abendliche zehn Seiten vor dem Einschlafen sind nicht geeignet, mehr als nur Puzzlesteine freizulegen, ohne dass dabei die Ästhetik des Werkes zu Tage treten könnte.

Ob diese Übersetzung - oder besser Übertragung - als so sensationell anzusehen ist, wie es der Verlag ankündigte, ist schwer zu beurteilen. Andere deutschsprachige Versionen hinterlassen keinen unharmonischen Eindruck. Womöglich werden sich Anglisten trefflich darüber streiten können, wie man einzelne Passagen stilgerecht überträgt. Aber was den Leser interessiert, ist der Gesamteindruck, das Maß von Korrelation an Inhalt und Sprache, und daran gibt es freilich nichts auszusetzen.

Etwas gewöhnungsbedürftig wirkt in dem deutschen Text die dem Englischen entlehnte Apostrophierung, denn die Schreibweise des kunstvoll gealterten Texts ist durchaus aktuell, sofern man die jüngst reformierte Rechtschreibreform einmal außer Acht lässt.

Aus dem letztlich für ein Stück Belletristik umfangreichen Anhang stechen die Anmerkungen des Übersetzers hervor, der auch gleichzeitig Herausgeber ist. Dem interessierten und mit dem Original bestückten Leser stehen hier interessante Sprachstudien zur Verfügung - Studenten der Anglistik werden jedoch wohl auf die Taschenbuchausgabe warten.

(Klaus Prinz; 11/2006)


Laurence Sterne: "Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman"
(Originaltitel "The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman")
Ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Michael Walter.
Eichborn, 2006. 854 Seiten.
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Hörbuchempfehlung:
"Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman"
vorgelesen von Harry Rowohlt.
Aus dem Englischen von Michael Walter.
Kein & Aber, 2006. 9 CDs, Spieldauer ca. 30 Stunden.
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Laurence Sterne wurde am 24. November 1713 geboren. Er beschenkte die Welt mit nur zwei Büchern. Beide aber machten weltweit Furore wie kaum je andere: "Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman" (1759-1767) und "Empfindsame Reise nach Frankreich und Italien". Laurence Sterne starb am 18. März 1768.
Michael Walter ließ sich für seine Übersetzung des "Tristram Shandy" acht Jahre Zeit. Er arbeitet zur Zeit an einer Neuübersetzung der "Empfindsamen Reise".

Das zweite Buch Laurence Sternes:

"Empfindsame Reise nach Frankreich und Italien"

Laurence Sternes weltberühmtes Buch, das in der Übersetzung Johann Joachim Christian Bodes aus dem Jahre 1768 erstmals in Deutschland erschien, machte Furore wie kaum ein anderes Werk vorher. Dieses Kabinettstück voll Witz, Ironie und sublimer Erotik, das die Reiseschriftstellerei revolutionierte und literaturfähig machte, gab einer ganzen literarischen Epoche, der "Empfindsamkeit", den Namen.
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