Domenico Starnone: "Das Rasiermesser"
Spielen
Schreiben Leben
Ein Schriftstellerdasein gefährdet den Betroffenen: er lebt in
zwei Welten und weiß nicht, welcher er tatsächlich
zugehört - ja er weiß nicht einmal, welcher er
zugehören möchte. So geht es dem Protagonisten dieses
von Helene Flöss aus dem Italienischen übersetzten
Romans. Der Ich-Erzähler ist nun mit 60 Jahren nach einigen
erfolgreichen Büchern offenbar am Zenit, wenn nicht am
Wendepunkt seiner Karriere und seines restlichen Lebens angekommen. Das
Verhältnis zu seiner Frau ist gefährdet, eine
Affäre mit einer Jüngeren dauert allerdings nur
wenige Monate. Was er erlebt, liest, imaginiert und schreibt verengt
sich zu einem Konglomerat, das kein anderer Mensch verkraften kann
außer ihm. Ihn suchen Fantasiebilder aus Vergangenheit und
Gegenwart heim - eines davon ist das titelgebende Rasiermesser, das
eines Tages in seinem Briefkasten liegt.
Zur Tragik des Protagonisten gehört der plötzliche
Erfolg eines Nachwuchsautors, dessen ihm aufgedrängtes
Manuskript er zunächst schlecht findet, später nach
der Veröffentlichung findet er das Buch gut, als er es in
einer Veranstaltung vorstellen soll, findet er es eigentlich wieder
schlecht, spricht aber positiv darüber. Der vorliegende Roman
handelt gewissermaßen von der Wahrheit und ihrer
Verdrängung, von Eitelkeit und Missgunst, von abgenutzter und
neuer naiver Liebe, vom Schreiben wie unter einem elementaren Zwang -
und von der schwer substanziell daneben lebbaren Existenz.
Lange Zeit hatte der Ich-Erzähler gemeint, Schreiben sei eine
Art Fortsetzung der Kinderspiele, und er könne allen Menschen,
sich selbst und seinen Figuren Rollen zuweisen. Was im Schreiben zu
funktionieren scheint, verwandelt sich im Leben in schale Ironie - vor
allem was die Beziehungen und den Literaturbetrieb angeht. Hier finden
Spiele statt, die den Protagonisten nie befriedigen. Jedes Lob zieht
Neid mit sich, jede Liebesgeste korrespondiert mit einem
Kontrollanspruch. Die Momente der Offenheit und der gelösten
Glückseligkeit werden seltener, sogar in der Fiktion.
Das vorliegende Buch handelt also von den Problemen eines
Schriftstellers beim Schreiben, beim Lieben und im Leben. Man kann
behaupten, es gebe bessere Themen, und ein Autor solle nicht
über einen Autor schreiben (womöglich gar indirekt
über sich selbst). Immer häufiger werden die
Bücher der Autoren selbstreferenziell - warum immer wieder
diese Nabelschau, das Suhlen im eigenen Milieu?! Müssen sich
Schriftsteller inzwischen für ihr Schreiben rechtfertigen, um
Mitleid betteln oder renommieren mit ihrem Genie bzw. ihren
Schwierigkeiten?! Zugegeben, der Künstlerroman ist ein
traditionelles Genre, und Starnone gehört zu den
intelligenteren Autoren - aber künftig möchten wir in
einem Roman auch wieder andere Themen als das Romanschreiben lesen.
(KS; 09/2006)
Domenico
Starnone: "Das Rasiermesser"
Aus dem Italienischen von Helene Flöss.
Haymonverlag, 2006. 315 Seiten.
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Domenico
Starnone, geboren 1943 in
Neapel, lebt als Publizist und Autor
in Rom.
Einige seiner Romane dienten als Filmvorlage, wie "Denti" (1994), der
2000 von Gabriele Salvatore verfilmt wurde. Autor zahlreicher
Drehbücher, u.a. "Del perduto amore" (1998, Regie: Michele
Placido).
Ein weiteres Buch des Autors:
"Via Gemito"
Der in Neapel geborene und in Rom lebende Autor erzählt von
seinem Vater und taucht dabei in seine Kindheit ab. In dem mehrfach
ausgezeichneten Roman kommt vieles zur Sprache: Evakuierung im Krieg,
Not und Überlebenskampf bei Kriegsende und in der
Nachkriegszeit, dunkle Geschäfte, soziale Strukturen und das
bunt-faszinierende Leben in Neapel, Zusammenhalt und Streit in einer
typisch süditalienischen Großfamilie.
Vor allem aber geht es um Lebenslust, Enttäuschungen und
zorniges Aufbegehren einer einzigartigen Vaterfigur. Der Sohn versucht,
die Wutausbrüche des Vaters gegen die Mutter, die manchmal in
brutale Handgreiflichkeiten ausarten, im Nachhinein zu verstehen und
sich mit seinem "Erzeuger" zu versöhnen, auch dessen absurde
Lügengeschichten als Teil einer subjektiven Wirklichkeit zu
begreifen, nicht zuletzt seine Zerrissenheit zwischen dem Brotberuf als
Eisenbahner und der tief empfundenen Berufung zum Künstler.
So wird Starnones Roman, dessen mitreißender
Erzählduktus gleichermaßen überzeugt wie
das außergewöhnliche literarische Niveau, auch zur
Auseinandersetzung mit dem Wesen der Kunst, der Bedeutung und dem
"Wert" von Kunstwerken sowie dem Schaffensprozess kleiner Meister und
großer Genies. (Haymonverlag)
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