Saša Stanišić: "Wie der Soldat das Grammofon repariert"
Macht
und Zauber der Geschichten
Višegrad, die Kleinstadt im östlichen
Bosnien-Herzegowina, ist ein Kosmos für sich, voller
Geschichten, wahren und erdachten. Der Fluss Drina erzählt
Geschichten, so intensiv, dass mancher sich ihnen nicht mehr entziehen
kann, manches Haus spinnt eine eigene Mär, und die besten
Geschichten stammen von Aleksandars Großvater Slavko.
Der Junge und sein Großvater haben beide ein Ohr für
all diese Geschichten, die urkomisch sein können wie das Fest
zur Kloeinweihung beim Urgroßvater auf dem Lande oder
bittersüß wie jene von Aleksandars anderem
Großvater, der seine Arbeit verlor und danach den
Verführungskünsten der Drina erlag. Angesichts dieser
Fülle an Geschichten, die selbstverständlich
erzählt werden wollen, verwundert es nicht, dass Aleksandars
Schulaufsätze stets mit dem Vermerk "Thema verfehlt" versehen
werden.
Als Opa Slavko überraschend stirbt, rettet sich der Junge
mithilfe seiner Fantasie scheinbar vor dem Verlust. Aber auf den
Todesfall folgt der Krieg, und nun erhalten die Geschichten, aus denen
das Leben besteht, eine alptraumhafte Färbung. Aleksandars
Familie flieht nach Deutschland: eine neue Welt, schärfer
konturiert, ärmer an Farben. Aleksandar nimmt sich die alten
Geschichten vor und erzählt sie neu, um sie nicht zu
verlieren; er schreibt einer Freundin aus Višegrad Briefe,
obwohl er nicht einmal ihren Nachnamen genau weiß, geschweige
denn, ob sie noch lebt oder überhaupt außerhalb
seiner Gedanken je existiert hat, und die Tatsachen verschwimmen mit
der heilsamen Fantasie.
Jahre später kehrt Aleksandar nach Višegrad
zurück. Hier wird sich der Kreis schließen, wird er
das Grab von Opa Slavko besuchen, dessen Erzähl- und
Beobachtungstalent in Aleksandar den Grundstein zum Schriftstellerberuf
gelegt haben. Aber die Stadt hat sich verändert, viele
Bekannte fehlen, und es gibt zahlreiche Fremde; die Gegenwart passt
nicht zu Aleksandars Geschichten.
Da ist es sicher kein Zufall, dass sich am Grab des
Großvaters eine neue Geschichte entspinnt.
Saša Stanišićs Roman trägt ganz
unverkennbar autobiografische Züge: Heimatstadt, Alter, Krieg
und Flucht
nach Deutschland, selbst der verwandte Name des
Protagonisten verweisen auf den Autor zurück. Über
den grauenvollen Balkankrieg kann man wohl nur als Zeitzeuge
glaubwürdig erzählen, und aus dem von Vorurteilen
unverstellten Blickwinkel eines von unbändiger Fantasie
erfüllten Kindes wirkt eine solche Aufarbeitung besonders
erschütternd. Dennoch steht der Krieg nicht allein im Zentrum
des Romans, in dem es um das Ende einer Kindheit in ihrer Gesamtheit
geht und um den Umstand, dass der Übergang ins
Erwachsenenleben nicht zwangsläufig den Abschied von Fantasie
und Geschichtenerzählen bedeuten muss, auch wenn die Natur der
Geschichten sich zwangsläufig ändert und vielleicht
ein anderes Verhältnis zur Realität annimmt.
Der junge Autor beweist ein ungeheures Erzähltalent.
Farbenfroh und voller Bewegung entfalten sich seine Geschichten; dank
einer bemerkenswerten Gabe zu scharfer, analytischer Beobachtung
entwirft er authentische, lebendige Charaktere. Und der Roman wird
immer wieder gewürzt durch eine Situationskomik, die nie
aufgesetzt oder "erfunden" wirkt. Auf diese Weise verliert der durch
Aleksandars Kinderaugen betrachtete Krieg etwas von seinem Schrecken,
auch wenn der Soldat das Grammofon natürlich so repariert, wie
Soldaten im Krieg die vorausgegangene verfehlte Politik reparieren
sollen: durch rohe Gewalteinwirkung.
(Regina Károlyi; 10/2006)
Saša
Stanišić: "Wie der
Soldat das Grammofon repariert"
Luchterhand Literaturverlag, 2006. 317 Seiten.
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Hörbuch:
Random House Audio, 2006. 1 CD, Laufzeit ca. 78 Minuten.
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Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad/Bosnien geboren. Er lebt seit 1992 in Deutschland. Philologiestudium in Heidelberg. "Assistant Teacher" an der Bucknell University (USA). Studiert seit Herbst 2004 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet an seiner Promotion über Fußball und Literatur. Netzseite des Autors: https://www.kuenstlicht.de/.