Thomas Stangl: "Ihre Musik"
Es
gibt Bücher, die sperren sich, wollen sich einfach nicht
aufschließen. Und so bleiben sie, möglicherweise
für immer, im Regal stehen, wenn nicht der Rezensent die
Aufgabe übernommen hat, ein solches Buch schließlich
doch zu öffnen um zu versuchen, seinen Sinn und seine Absicht
zu entschlüsseln.
Thomas Stangls "Ihre Musik" ist so ein Buch. Der zweite Roman des 1966
in Wien geborenen und dort auch lebenden Schriftstellers ist
widerständig, will quasi "erlesen" werden. Er ist schwer zu
lesen; eine Lektüre, die einem bei nachlassender Konzentration
sofort entgleitet. Denn es sind die Zwischentöne, das
Ineinandergreifen von Bildern und Erinnerungen der Personen, die
dauernd wechselnden Zeitebenen und die verschiedenen Orte, die damit
verbunden sind, welche das Buch zunächst einmal zu einem recht
verwirrenden Leseerlebnis machen.
Erst langsam entschlüsseln sich die Geschichte und ihre
Bedeutung. Es wird erzählt von der 60 Jahre alten Emilia Degen
und ihrer ungefähr 30 Jahre alten Tochter Dora. Seit
Jahrzehnten leben die beiden in einer Altbauwohnung in der Wiener
Leopoldstadt. Dora hat lange
Philosophie studiert, vor der letzten
Prüfung aber gekniffen und damit endgültig den
Zeitpunkt für ein mögliches Verlassen dieser Wohnung
und ein eigenständiges Leben verpasst. Ihre Mutter Emilia war
früher Lehrbeauftragte an der Universität, engagierte
sich auch politisch. Auf ihrer alten Schreibmaschine tippt sie nach wie
vor Artikel für eine Zeitschrift und wundert sich immer
wieder, dass sie jemand lesen will.
Und so leben die beiden Frauen miteinander und nebeneinander ihre
jeweiligen Leben, die zunehmend durchsichtiger werden und sich
aufzulösen beginnen. Dora leidet an einer tödlichen
Krankheit. Diese Krankheit bestimmt mehr und mehr die gemeinsame
Lebenszeit von Mutter und Tochter und ist eine grausam-harte
Realität in einer Wirklichkeit, die ansonsten nur
ungefähr bleibt.
Sie gleiten miteinander hinüber in den Tod und versuchen,
ihrem Leben einen Sinn zu geben. Aber was bleibt wirklich ? Da gab es
einmal einen Liebhaber Doras, aber er ist ihr irgendwo verloren
gegangen, sie weiß nicht mehr wie. Vor allen Dingen vermochte
sie nichts davon für sich festzuhalten.
Und da gibt es ein Bild, das sie beide immer wieder
in die Hand nehmen, wie um eine verblassende Vergangenheit greifbar zu
machen. Es zeigt Emilia mit der zwölfjährigen Dora an
irgendeinem Strand in einem weit entfernten Leben, zu einem Zeitpunkt,
wo für beide noch Alternativen möglich gewesen
wären. Der Lebensweg ist im Roman Stangls wörtlich zu
nehmen. Am Ende seines Buchs ist das Gehen "nur noch ein
Wiederkehren". Und Emilia, alt und zerbrechlich geworden,
spürt, "dass sie im Wiederkehren die Orte noch mehr
verliert, als sie sie im Verlassen verlieren würde." |
Jede Annäherung (so unvermittelt sie
erscheinen mag) hat etwas von einem Wiedererkennen und zugleich von
einem immerfort Verlieren. Ich habe einmal nah an dem versteckten, nur
zu besonderen Gelegenheiten wiederzufindenden Platz
in der
Leopoldstadt, zwischen Karmeliterviertel, Praterstraße und
Donaukanal gewohnt, wahrscheinlich nur für wenige Tage (oder
Nächte), in einem hohen, alten, halb in den Berg
hineingebauten Haus, das zum Großteil leer stand, in einem
der obersten Stockwerke; wenn ich (anstatt den Aufzug zu
benützen) die Treppen hinablief, konnte ich durch die Spalte
der bloß angelehnten Türen ins Innere der
verlassenen Wohnungen schauen, nur einen unbestimmten Lichtschein auf
den Parkettböden ausmachen, mir die Wege durch die
Zimmerfluchten und die wenigen zurückgebliebenen
Einrichtungsgegenstände (oder sind es nur alte Schuhe,
vergilbte Bücher, rostige Pfannen und Spiegel, zerfledderte
Fotoalben, sind es nur die weißen Stellen an den
Wänden, wo Bilder hingen, die helleren Stellen an den
Parketten, wo Möbel standen) vorstellen; ohne dass ich aber je
wusste, ob sich nicht doch noch Bewohner hier versteckt halten und das
Wort oder gleich eine Waffe gegen mich richten konnten. |
"Ihre Musik" bleibt widerständig, lässt sich nicht einordnen, will noch einmal und noch einmal erlesen werden. Ein Buch, das gerade deswegen lange in Erinnerung bleiben wird.
(Winfried Stanzick; 11/2006)
Thomas
Stangl: "Ihre Musik"
Literaturverlag Droschl, 2006. 190 Seiten.
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Thomas
Stangl studierte Spanisch und Philosophie. Für seinen ersten
Roman "Der einzige Ort" (2004) erhielt er den "aspekte-Preis"
für das beste deutschsprachige Debüt:
"Der einzige Ort"
In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts bewegen sich zwei Reisende auf
die sagenhafte Stadt Timbuktu zu: Major Alexander Gordon Laing, der
eine Karawane von Tripolis aus
durch die Sahara führt, und
René Caillié, der als Moslem, von niemandem
beauftragt und von niemandem unterstützt, von Senegal her den
Niger zu erreichen sucht.
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