Alexander Christiani, Frank M. Scheelen: "Stärken stärken"

Talente entdecken, entwickeln und einsetzen


Gehören Sie zu der Minderheit, die in der Schule hervorragende Noten erbringen konnte, egal um welche Fächer es sich handelte und egal um welchen Lehrer? Oder gehören Sie zu denjenigen, die ihre Schwächen und Stärken hatten, ja vielleicht sogar das eine und andere Mal Gefahr liefen, ein Schuljahr wiederholen zu müssen, weil Sie in einem Fach besonders schwach waren, obwohl Sie in Ihren Lieblingsfächern brillierten? Viele wesentliche Mängel unseres Schulsystems wurden und werden bereits an anderer Stelle diskutiert. Im Zuge dieser Rezension möchte ich deshalb zu Beginn lediglich die Frage stellen, ob es denn sinnvoll sei, Schüler aus der Schullaufbahn zu werfen, nur weil sie in einer bestimmten Richtung eine Schwäche aufweisen, ansonsten aber intelligent genug sind, durchaus gute Leistungen in der Schule zu erbringen. Das Leben ist voll von Menschen, die bewiesen haben, dass sie sehr wohl in der Lage waren, markante Schwächen in der Schule im Leben auszugleichen und erfolgreich zu werden. Die Zeiten der Universalgenies, wie etwa Leonardo da Vinci oder Johann Wolfgang von Goethe, sind längst vorbei und wir leben im Zeitalter der Spezialisten. Dass sich die Schule dieser Tatsache noch nicht angepasst hat, liegt wohl an der Trägheit von Institutionen. Aber egal, ob Sie bereits im Berufsleben stehen oder Kinder haben, die unter unserem derzeitigen Schulsystem leiden, das Buch "Stärken stärken" der Autoren Alexander Christiani und Frank M. Scheelen gibt Hoffnung, dass jeder von uns über genügend Talente verfügt, mit deren Hilfe er ein erfolgreiches Leben zu führen im Stande ist. Alexander Christiani ist Geschäftsführer der Christiani Unternehmer AG und Berater führender Spitzenkräfte aus Wirtschaft, Wissenschaft und Sport, hat selbst drei Kinder, die er nach bestem Ermessen in ihren Talenten zu fördern sucht. Frank M. Scheelen ist Direktor des SCHEELEN® Instituts für Managementberatung und Bildungsmarketing und Experte für Talenterkennung und Spitzenleistung.

Zu Beginn erzählen die Autoren die Geschichte vom Trugschluss des Prokrustes. Kurz nachdem in Athen die Demokratie eingeführt worden war, beauftragte der Areopag Prokrustes, ein renommiertes Mitglied der Akademie, die Unterschiede zwischen den Menschen zu bestimmen. Prokrustes entwickelte das nach ihm benannte Folterbett und stauchte und streckte die Athener Bürger so lange, bis alle hineinpassten. Daraufhin teilte er dem Areopag mit, alle Athener seien gleich groß. Sein Irrtum war, Demokratie meine, alle Menschen seien gleich. Sie sind eben nicht gleich, sondern gleichwertig. Ausgehend von dieser Geschichte widersprechen die Autoren der Meinung, man könne allen Menschen durch Erziehung und Lehre ein gleiches Maß an Wissen und Können mitgeben. Sie vertreten die These, dass Erfolg nur dadurch erreicht werden kann, indem man seine eigenen Talente entdeckt und sie gewinnbringend einsetzen kann. Sie zitieren eine Vielzahl an Intelligenzforschern und weisen auch auf die emotionale Intelligenz hin. Als bedauerlichen Fauxpas erwähnen sie auch das Buch "The Bell Curve" des Harvard-Professors Richard J. Herrnstein und Charles Murray aus dem Jahre 1994, in dem die Autoren zeigen, dass die menschliche Intelligenz zu einem Großteil erblich bedingt ist und sich in der Bevölkerung in Form einer Glockenkurve darstellt. Der Haken an diesem Buch ist, dass die Autoren angeblich nachwiesen, die Afroamerikaner seien aus genetischen Gründen weniger intelligent als die Weißen und eine stärkere schulische Förderung sei aus diesen Gründen wenig sinnvoll. Das soziale Problem von Minderheiten und Armut und die Auswirkungen, wenn die Förderungen eingestellt würden, wurde in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt. Insofern sehe ich es auch als kritisch, wenn Christiani und Scheelen auf diesen Faktor ebensowenig eingehen. Sie betonen oft, dass es nicht salonreif sei, bzw. dass man schnell als political incorrect eingestuft werde, wenn man von angeborenen Intelligenzen spricht. Aber es ist nun mal eine Tatsache, dass der Faktor "reiche Eltern" ein weit größerer Vorteil im Leben ist, als jedes Talent - von ganz wenigen Spitzentalenten einmal abgesehen. Und es bedarf eines Sozialstaates wie z.B. in Österreich, damit auch Kinder aus ärmeren Schichten überhaupt eine Chance bekommen, ihre Talente entsprechend entwickeln zu können. Und das beste musikalische Talent ist wenig wert, wenn man nicht die entsprechende Förderung hat. Ein Wolfgang Amadeus Mozart wäre nie berühmt geworden, wenn er der Sohn von Bauern gewesen wäre. Erst die Verbindung seines musikalischen Talents mit der strengen musikalischen Ausbildung durch seinen Vater hat den Mozart hervorgebracht. So finde ich es durchaus bedenklich, wenn in einem Buch über Talente und Intelligenzen keine ethischen Überlegungen gemacht werden. Nichtsdestoweniger zeigen die beiden Autoren aber eine Fülle von Vorteilen auf, wenn auf Talente Rücksicht genommen wird.

Im zweiten Teil des Buches geht es um die Vielfalt der menschlichen Intelligenzen. Während die klassischen psychologischen Intelligenztests und -faktoren eher beiseite gelassen werden, wird ausführlich das Modell des amerikanischen Psychologen Howard Gardner in seinem Buch "Abschied vom IQ. Die Rahmentheorie der vielfachen Intelligenz" vorgestellt. Dieser Theorie entsprechend verfügen wir Menschen über zehn Grundintelligenzen: 1. Die sprachliche Intelligenz, die sich durch Sensibilität für die geschriebene und die gesprochene Sprache, durch die Fähigkeit zum zweckbestimmten Einsatz und durch die Fähigkeit zum Sprachenlernen auszeichnet, 2. Die logisch-mathematische Intelligenz, mit deren Hilfe wir Probleme logisch analysieren, mathematische Operationen durchführen und Fragestellungen wissenschaftlich untersuchen können, 3. Die assoziativ-kreative Intelligenz, mit deren Hilfe wir Gedanken in beliebiger - nicht logischer und nicht kausaler - Weise verbinden, Bedeutungen geben, entdecken, kreieren und etikettenfrei beobachten können, 4. Die räumliche Intelligenz, die den theoretischen und praktischen Sinn für große und kleine Räume darstellt, 5. Die musikalische Intelligenz, die Begabung zum Musizieren, Komponieren und der Sinn für musikalische Prinzipien, 6. Die körperlich-kinästhetische Intelligenz, durch die wir einzelne Körperteile oder den ganzen Körper für Bewegungsabläufe präzise einsetzen können (die Frage bleibt, ob durch den Test von Kniebeugen nicht eher die bereits erworbene Fitness, als das tatsächliche Talent gemessen werden kann), 7. Die naturkundliche Intelligenz, die die Fähigkeit, die kulturelle und natürliche Umwelt zu erkennen und zu klassifizieren, darstellt, 8. Die intrapersonale Intelligenz, mit deren Hilfe wir uns selbst verstehen, ein realitätsnahes Bild der eigenen Person entwickeln und dieses Wissen im Alltag nutzen können, 9. Die interpersonale Intelligenz - besser bekannt unter dem Begriff der emotionalen Intelligenz, die die Fähigkeit darstellt, die Absichten, Wünsche und Motive anderer Menschen zu verstehen und die uns in die Lage versetzt, mit ihnen erfolgreich zu kooperieren, und 10. Die spirituelle Intelligenz, die uns befähigt, Dinge zu erkennen und zu verstehen, die sich hinter den Erkenntnisgrenzen unserer Welt befinden.

Im dritten Teil stellen die Autoren der Leserschaft einen Test vor, der die ersten sechs Grundintelligenzen tendenziell zu messen vorgibt. Ferner zeigen sie, wie man mittels diverser Techniken seine eigenen Stärken und Talente entdecken kann. Wir begeben uns in die Vergangenheit und durchleben dort die Highlights, die uns damals emotional bewegt haben, oder wir bleiben in der Gegenwart und achten auf die Dinge, die wir am meisten genießen oder die uns die meiste Energie rauben. Ebenso ist es ein Hinweis auf ein Talent, wenn wir in diesem Bereich besonders schnell lernen und viel Enthusiasmus zeigen. Aber auch Wünsche können Vorboten unserer Talente sein.

Der vierte Teil beschäftigt sich mit der Entfaltung unserer emotionalen Talente, wobei sich diese aus affektionaler Intelligenz, Motivations- und Verhaltensintelligenz zusammensetzt. Affektionale Intelligenz steht dafür, wie sehr wir in der Lage sind mit unseren Gefühlen umzugehen. Sich emotional zurückzuziehen oder lieber doch zu kämpfen, die Fähigkeit, die eigenen Gefühle verstärken oder abschwächen, sie verstehen oder negative Gefühle transformieren zu können sind Themen dieser Intelligenz. Die Übungen, die zu diesem Thema vorgestellt werden, sind zwar an sich recht gut, jedoch sind sie viel zu ungenau dargestellt. Vor allem gibt es gerade auf diesem Gebiet Spezialisten - Psychologen, Psychotherapeuten - die mit Menschen arbeiten und über längere Zeit hinweg sehr gute Emotionsarbeit leisten können. Deshalb erwecken die dargestellten Übungen einerseits den Eindruck, man können mit diesen einfachen Übungen große Fortschritte erzielen, und andererseits überfordern sie zu schnell, da sie zu wenig ausführlich geschildert werden, und schrecken zu leicht ab, sich in einem geschützten Rahmen mit der Hilfe von Professionisten damit auseinanderzusetzen. Die Begabung, uns selbst zum Handeln zu bringen, wird als Motivationsintelligenz bezeichnet. Hier führen die Autoren eine Liste möglicher Motivationsfaktoren an, die dafür verantwortlich sein können, dass wir uns in der Vergangenheit aufraffen konnten, gewisse Handlungen zu setzen. Besonderes Augenmerk wird auf die Verhaltensintelligenz gelegt, mit deren Hilfe man das eigene Verhalten erkennen und zutreffend einschätzen kann. Da Werte und Überzeugungen wesentlich sind, stellen die Autoren hier sechs Werte nach der INSIGHTS-Werteanalyse dar: der theoretische, ökonomische, ästhetische, soziale, individuelle und der traditionelle Wert. Ebenso gibt es wieder einen kleinen Test, der unsere Ausprägung in diesen Faktoren erkennen lässt. Ferner arbeitet die genannte Methode acht Persönlichkeitstypen, ihre Stärken, Schwächen und Verhaltensmotivationen in der Arbeitswelt heraus und die Autoren gehen darauf ein, welche Berufe im Wesentlichen für den jeweiligen Typ ideal sein können. Ebenso kristallisieren sich 23 Kompetenzfelder aus der genannten Methode heraus, die als Soft Skills bezeichnet werden. Natürlich wird auch gezeigt, aus welchen Persönlichkeitstypen sich idealerweise Teams zusammensetzen und wie diese doch so unterschiedlichen Menschen gut miteinander kommunizieren können.

Im fünften und letzten Teil steht der Masterplan für das eigene stärkenzentrierte Leben im Mittelpunkt. Noch einmal führen die Autoren die ob der Vielfalt des Geschriebenen inzwischen wahrscheinlich schon recht verwirrte Leserschaft durch den gesamten Prozess der von ihnen beschriebenen Stärkefindung, wobei sich die im Anhang befindlichen und kurz dargestellten Übungen und Arbeitsblätter als recht hilfreich erweisen. Als besonderes "Zuckerl" werden zum Schluss noch drei Lerngewohnheiten, die anscheinend alle Genies verwendeten, präsentiert: das zwanghafte Aufschreiben, das geborgte Genie und das Image-Streaming nach Win Wenger.

Das Buch der Autoren Christiani und Scheelen ist durchaus gut zu lesen, wenn es auch etwa ab der Mitte sehr verwirrend wird, weil immer wieder neue Einzelheiten auftauchen und man leicht den Überblick verliert - vor allem wenn man unglücklicherweise nicht gerade in diesem Bereich seine Intelligenzstärke besitzt. Weiters erweckt das Buch stellenweise den Eindruck, dass es eine Werbung für die Tests der Autoren ist, die diese kostenpflichtig im Internet anbieten. Ebenso ist das Buch im Zeitgeist der frohlockenden Gewinner geschrieben: hart arbeiten und Spaß haben - viel Spaß haben ist die Devise. Faulenzer und Verlierer sind selber Schuld, wenn sie nichts aus sich machen. Aber es ist nun mal schwer, in Zeiten wie diesen so erfolgreich zu sein, dass einem das Herz hüpft und die Seele jubiliert. Wo ist da noch ein Platz für Depression und Melancholie - eine Wesensart, die sich gerade in Wien, dem Wohnort des Rezensenten, besonders kultiviert hat? Wenn man permanent die Begeisterung der Autoren vor Augen geführt bekommt, fühlt man sich klein und unbedeutend. Das Buch ist auch so komplex gestaltet, dass man eher angeregt wird, sich einen Talente-Coach zu suchen, als all diese Fülle selbst umzusetzen. Besser geeignet scheint es mir für aktive Coaches zu sein, die sich auf diesem Feld bewähren möchten. Für diese ist es ein besonders reichhaltiges Werk. Aber zum Abschluss sei die Leserschaft noch gewarnt. Entwickeln Sie sich nicht zu gut, bewahren Sie sich ein wenig das Mieselsüchtige, auf "dass Ihr jubelndes Herz vom vielen Hüpfen" keinen "Muskelkater bekommt".

(Ivan Kristianof; 07/2003)


Alexander Christiani, Frank M. Scheelen: "Stärken stärken"
Redline Wirtschaft, 2002. 346 Seiten. 
ISBN 3-478-31310-4.
ca. EUR 24,90.
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