Burkhard Spinnen: "Mehrkampf"
Ein
großartiger Roman über
das Männerbewusstsein der letzten zwanzig Jahre
Um es vorweg zu sagen: Burkhard Spinnens neuer Roman bereitet dem
begeisterten
Leser höchsten Lektüregenuss. Und das liegt nicht nur
an einem absolut ungewöhnlichen
Handlungsablauf, sondern auch an einer sprachlichen Umsetzung, die
erneut unter
Beweis stellt, dass dem Autor zahlreiche Auszeichnungen und
Literaturpreise
vollkommen zu Recht verliehen wurden.
Die ganze Geschichte von "Mehrkampf" beginnt mit dem 8. August 1984.
Roland Farwick aus Deutschland, seit einiger Zeit der weltbeste
Zehnkämpfer,
der einen fabelhaften Weltrekord vor sich her trägt, ist bei
den Olympischen
Spielen im Zehnkampf klarer Favorit. Er träumt vom idealen
Wettkampf,
vielleicht auch von einem neuen Fabelrekord (Bob Beamons 8,90 Meter im
Weitsprung sind da sein großes Vorbild), als er in der
Weitsprungdisziplin des
olympischen Endkampfes rätselhafterweise zwei Mal
übertritt, das zweite Mal,
als er so weit fliegt wie damals Bob Beamon, nur denkbar knapp - aber
der
Wettkampf ist für ihn beendet, und die sensationelle
Weite wird nie
gemessen und festgehalten.
Beendet ist damit auch sofort seine Karriere als Sportler. Seine
Popularität
nutzend schlägt Roland Farwick sich die nächsten 20
Jahre als Sportrepräsentant
durch. Es gelingt ihm auch deshalb so lange und nicht wenig
erfolgreich, weil über
Generationen seine Geschichte und sein tragisches Scheitern
weitererzählt
werden und sich so viele Menschen auch nach langer Zeit noch an ihn
erinnern.
Über zwanzig Jahre nach seinem letzten Sprung in die Sandgrube
schießt
auf einem Parkplatz jemand auf ihn. Roland Farwick
überlebt die zahlreichen
Schüsse und kann sich nicht erklären, wer es da auf
ihn abgesehen haben könnte.
Er verliebt sich in die ihn pflegende Krankenschwester,
gründet eine Familie
und will ab diesem Zeitpunkt seinem Leben eine andere Richtung geben.
Derweilen ist der Hauptkommissar Ludger Grambach mit den Ermittlungen
zu dem
versuchten Mord an Farwick beauftragt. Und er ist dabei nicht
ganz
unbefangen, was allerdings außer ihm selbst niemand
weiß. Zwar hat er damals
1984 so wie Millionen anderer Fernsehzuschauer das Scheitern Farwicks
beobachtet, aber seitdem hat er seine eigene Geschichte als
gescheitertes Genie,
das seit seiner Schulzeit immer weit unter seinen
Möglichkeiten geblieben ist,
eng mit dem Fehler des Zehnkämpfers verknüpft.
Auch in seiner privaten Beziehung strebt er nach Vollkommenheit, ohne
sich
wirklich entscheiden zu können:
"In Berlin würden sie zusammenziehen und heiraten und
Kinder bekommen.
Caroline ist vierunddreißig, genau das richtige Alter. Seit
Jahren will sie
Kinder. Und Grambach will auch. (...) Er hat auch keine Angst vor
Kindern; es
ist die natürlichste Sache der Welt. Angst hat Grambach nur
davor, dass alles
im seinem Leben einmal endgültig feststehen könnte.
Davor hat er Angst: dass
in Berlin die Hoffnung stirbt, irgendwann, von einem Tag auf den
anderen, könnte
sich noch einmal alles ändern. Könnte noch einmal neu
entschieden werden, was
letzten Endes aus ihm wird. Dabei hat Grambach keine Vorstellung von
einem
anderen Leben. Er hat nicht einmal einen Traum. Im Grunde ist er
völlig
wunschlos. Es würde ihm nichts ausmachen, wenn alles so
weiterginge wie bisher.
Aber ohne die Möglichkeit, es könnte noch vollkommen
anders kommen, kann er
nicht leben."
Als sich Roland Farwick und Ludger Grambach zum ersten Mal begegnen,
sieht es so
aus, als könnte sich hier eine Männerfreundschaft
aufbauen. Dann aber
entwickelt Burkhard Spinnen diese Beziehung meisterhaft zu einem Duell,
in dem
sich diese beiden Männer gegenüberstehen. Spinnen
nutzt hierbei genial das
Medium der Internet-Spiele, die sich seit einigen Jahren offenbar nicht
nur bei
Jugendlichen großer Beliebtheit erfreuen, um eine Spannung zu
erzeugen, die
beim Lesen fast unerträglich wird. Dabei nähert sich
der Leser dem unsäglichen
Verdacht, der Schütze des Anschlags auf Roland Farwick
könnte Grambach selbst
gewesen sein, während der Autor diesen der These nachgehen
lässt, Farwick hätte
die Schüsse auf dubiose Weise selbst in Auftrag gegeben.
Im Hintergrund dieser spannenden Kriminalgeschichte läuft aber
eine ganz andere
Geschichte ab, und um die geht es Spinnen letztlich. Zwei
Männer, die erst noch
welche werden müssen, klammern sich an eine längst
vergangene Jugend und die Möglichkeiten,
die sie damals nicht nutzten. Der Eine, der Zehnkämpfer, hat,
auch bedingt
durch die auf ihn abgegebenen Schüsse, quasi seinen Lebensgang
angehalten und
reflektiert permanent seine Geschichte mit zahlreichen
Rückblicken, deren
Zentrum und Angelpunkt jener berühmt gewordene Fehlversuch der
Olympiade ist.
Der Andere, ein ehemals hochbegabter Mensch mit großen
Ambitionen, ist
"nur" bei der Polizei gelandet und wartet nicht nur privat darauf, dass
er das Ziel und die Bestimmung seines Lebens noch erkennt.
Burkhard Spinnen ist ein großartiger Roman über das
Männerbewusstsein der
letzten zwanzig Jahre gelungen. Männer, die am Leben und in
ihren Beziehungen
scheitern, weil sie sich weigern, Verantwortung zu übernehmen,
weil sie einem
Traum von Erfolg nachhängen, der sie daran hindert, wirklich
erfolgreich und
mit Sinn erfüllt zu leben. Und so reiht sich Spinnens Roman
ein in die Reihe
aktueller Romane über Männer wie zum Beispiel
Tamminens
"Mein Onkel und ich" oder
Fargues'
"Nicht so schlimm", die diese Malaise nicht nur aufzeigen,
sondern
auch einen Impuls für deren Veränderung geben wollen.
(Winfried Stanzick; 08/2007)
Burkhard
Spinnen: "Mehrkampf"
Schöffling & Co., 2007. 392 Seiten.
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Burkhard
Spinnen wurde am 28.
Dezember 1956 in Mönchengladbach
geboren. Er studierte Germanistik, Publizistik und
Soziologie in
Münster und
schloss 1989 seine Promotion ab. Er war wissenschaftlicher Assistent am
Germanistischen Institut der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster und
lebt seit 1996 als freier Autor in Münster.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Kram und Würde"
Darf man Panda-Bären drollig finden? Hat das Unwort des Jahres
zu recht diesen
Titel bekommen? Was ist von der Bahnpreisreform zu halten? Sollen
Männer Hüte
tragen? Wie war Ihr schönster Tag? Und was war Ihr
schrecklichstes
Weihnachtsgeschenk? Die Redaktion hätte dazu gerne 3500 bis
4200 Zeichen bis übermorgen
um 11.
Ein Werbespruch für Beton lautete vor Jahren: "Es kommt drauf
an, was man
daraus macht." Ähnliches gilt für solche
wiederkehrenden Anfragen von
Zeitungen und Zeitschriften an den Schriftsteller: Er kann sie als
lästige Störungen
abtun; er kann sie nach dem Motto "Großer Ertrag bei kleinem
Aufwand"
professionell abarbeiten. Oder.
Oder er ist Burkhard Spinnen. Und der freut sich noch immer wahrhaft
diebisch über
Gelegenheiten, das allseits Bekannte höchst befremdlich und
das Dauergeräusch
des Aktuellen unerhört finden zu dürfen.
Schließlich sind es eine unstillbare
Neugier und ein ureigener Blick auf die Welt, die ihn haben
Schriftsteller
werden lassen.
"Kram und Würde" sammelt Spinnens Glossen und Feuilletons aus
zehn
Jahren, geordnet nach der Chronologie ihres Entstehens. "Bei dieser
Gelegenheit" könnte das Buch auch heißen, nach
Spinnens Lieblingsautor
der Kleinen Form, Alfred Polgar. "Kram und Würde"
heißt es, weil es
in den Texten so häufig darum geht, das eine im anderen zu
finden. (Schöffling
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"Der
Reservetorwart. Geschichten"
Ein Fußballprofi findet sich damit ab, nur Reserve zu sein.
Ein verheirateter
Mann simuliert den Ehebruch, ein Rockfan sucht halbherzig sein altes
Idol. Und
ein zu allem entschlossener Tyrannenmörder wartet noch auf ein
angemessenes
Opfer.
Burkhard Spinnens Helden sind Männer, die sich mit dem
Mittleren arrangiert
haben: mit mittleren Laufbahnen, mittlerem Erfolg, mittleren Malaisen
und
mittlerem Alter. Aber nur einen Schritt beiseite getreten, erscheint
das
mittlere Maß als das Mittelmaß; das
heißt: als etwas vollkommen Unerträgliches.
Und so drohen eine kleine Aufregung, ein überraschender
Jahrestag oder eine
harmlose Notlüge gleich furchtbare Katastrophen anzurichten.
Der Mittelweg ist
und bleibt der gefährlichste.
Burkhard Spinnens Geschichten sind darüber hinaus
Kalendergeschichten. Seine
Helden stammen aus den befriedeten Lebens- und Denkräumen der
alten
Bundesrepublik Deutschland, aus der man nach der Abschaffung von
Unterdrückung
und Armut auch noch das Schicksal hatte vertreiben wollen. Bei der
Veränderung
aller Verhältnisse sind sie zwar noch beinahe jung, aber bald
darauf müssen
sie schmerzhaft erfahren, wie sehr ihnen ihre schlaraffische
Vergangenheit noch
in den Knochen steckt. Gerade auf das Unabänderliche und das
Todsichere sind
sie am wenigsten vorbereitet.
Präzise, konzentriert, doch auch mit leicht hochgezogener
Augenbraue und dem
ihm eigenen, vertrackten Humor erzählt Spinnen zweierlei
zugleich: die
Geschichten einiger ziemlich durchschnittlicher Sonderlinge - und die
späte
Konfrontation altbundesrepublikanischer Geborgenheit mit dem Umstand,
dass es spätestens
ab der Mitte des Lebens etwas rau zugehen kann. (Schöffling
& Co.)
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Leseprobe:
Gegen drei verlässt Farwick das Bürogebäude
an der Stirnseite des
Marktplatzes. Er bleibt stehen, mit etwas Abstand von der Tür.
Ist es jetzt
warm oder nicht? Den leichten Sommermantel trägt er
über dem Arm. Mitte Mai,
das heißt ja, man weiß nie so richtig, was tun.
Manchmal fällt es ihm schwer,
einfache Entscheidungen zu treffen.
Das Bürogebäude ist erst kürzlich fertig
geworden. Es hat viel Aufsehen
erregt. Sechzig Jahre nach Kriegsende ein Schritt über die
historischen
Baugrenzen; Leserbriefe und Proteste in jede erdenkliche Richtung. Die
Männer,
mit denen Farwick eben gesprochen hat, haben es ihm
ausführlich erzählt. Der
meiste Büroraum stehe allerdings leider noch leer. Ach?, hat
Farwick gesagt.
Das übliche Geplänkel vor solchen Gesprächen.
In den Platz hinein ist das Pflaster aufgebrochen. Hier liegt frische
Erde in
unregelmäßigen Haufen. Farwick macht einen Schritt
zur Seite. Die Sorge,
niemandem im Weg zu stehen, ist immer noch da. Wer ihn anrempelte,
sprach ihn
auch an. Er klemmt seine Tasche zwischen die Beine. Es ist nicht warm
und nicht
kalt. Egal, was er tut, es wird das Falsche sein.
Der Mantel ist zerknittert. Farwick hätte ihn gerne elegant
über den Arm
gelegt, aber da hing etwas zur falschen Seite herunter, und er traute
sich
nicht, die Sache in Ordnung zu bringen. Man ruiniert damit leicht
seinen
Abschied. Jetzt will er den Mantel anziehen, aber er kommt nicht voran,
etwas
steckt in sich selbst. Er hebt den linken Arm und schüttelt
ihn, der Mantel
soll ihm entgegenfallen.
Kleidung kann so lächerlich sein, denkt Farwick. Arme und
Beine in solche Röhren
zu stecken. Vielleicht war das ein Anreiz, Sport zu treiben. Sportler
sind immer
richtig angezogen. Farwick lacht. Der Ärmel will noch immer
nicht. Da trifft
ihn etwas, links, an der Brust und so hart, dass es ihn von den
Füßen reißt.
Er kommt rücklings auf einen Haufen Erde zu liegen, den
Oberkörper unangenehm
verdreht, weil er immer noch in dem Ärmel steckt. Jemand
schreit auf, ziemlich
weit weg. Es klingt nicht, als würde ihm das gelten.
Farwick wälzt sich auf die Seite, das ist nicht leicht in
diesem Haufen, der überall
nachgibt. Endlich ist er wenigstens auf den Knien, er sieht
über den Marktplatz
hinweg zur Kirche auf der anderen Seite. Das muss ein Schuss gewesen
sein.
Komisch, denkt Farwick, wenn man getroffen wird, weiß man,
dass es ein Schuss
war. Dabei war nichts zu hören, und es ist niemand zu sehen,
der schießt. Auch
niemand, der läuft. Ein kleines, orangefarbenes
Auto
fährt langsam in Richtung
Kirche, wahrscheinlich die Straßenreinigung. Ein paar Leute
schauen her. Kein
Wunder, denkt Farwick, so wie er da in der Erde kniet.
Er versucht, auf die Beine zu kommen. Das würde besser gehen,
wenn nicht dieser
verdammte Mantel wäre. Endlich hat er ihn weggezogen, aber er
kommt nicht auf
die Füße, er ist zu schwach. Schmerzen hat er keine,
aber links, von der Brust
an aufwärts, ist alles nicht mehr da. Einen Fuß
bekommt Farwick auf den Boden,
mehr nicht. Jetzt kniet er, als warte er auf einen Ritterschlag.
Irgendeiner legt hier auf Passanten an! Farwick stützt sich
mit der rechten
Hand auf das rechte Knie, er beugt sich ein wenig nach vorne. So
könnte es
gehen. Ganz nah das Kopfsteinpflaster, in den Fugen ein Anflug von
Grün. Und
wen es trifft, der hat eben Pech. Da spricht ihn jemand an.
"Nein nein", sagt Farwick. Er kann den Sprecher nicht sehen, nur den
Schatten
spürt er. Und dass es ein Mann ist. Eigentlich ein gutes
Gefühl, eine Art
Deckung. Der Mann sagt wieder etwas. Dann läuft er davon.
"Nicht!", sagt
Farwick, vergebens. Jetzt, da der Schatten weg ist, hat er das
Gefühl,
vollkommen schutzlos zu sein. Und diese lächerlichen
Dreckhaufen sind auch
keine Deckung. Farwick dreht sich auf dem linken Knie, in diese
Richtung muss es
gehen, zurück. Endlich kann er sich aufrichten, aber da er
steht, tut das Atmen
schrecklich weh.
Hinter dem Stück schwarze Erde beginnt das
Bürogebäude mit einem schmalen
Fenster, so knapp über dem Boden, das muss eine Art Souterrain
sein. Scheiße,
denkt Farwick. Einem Irren vor den Lauf gekommen. Jetzt aber! Die
ersten beiden
Schritte schafft er ganz gut, da trifft es ihn lautlos am rechten Bein.
Als er schreit, spürt Farwick Erde im Mund. Die ganze
Mühe umsonst. Und wo ist
seine Aktentasche? Sein ständiger, lieber Begleiter auf
Reisen. Egal. "Bewegung",
sagt er in die Erde. Kunstfeld hätte gesagt: Roland, mein
schöner junger
Freund, jetzt muss ich etwas sehen!
Farwick holt das linke Bein heran und schiebt sich damit
vorwärts, Richtung
Fassade und Richtung Fenster, mit der rechten Hand gräbt er
sich in den Boden
und zieht. Man könnte Hilfe brauchen. Tatsächlich
ruft jemand. Nach der
Polizei.
Der Schmerz ist jetzt überall und laut und
unerträglich. Bloß gut, dass
Farwick sich auskennt mit unerträglichen Schmerzen. Die zeigen
nämlich an, wie
nahe man an seinen Trainingszielen ist. Oder besser: wie weit davon
entfernt.
Bei unerträglichen Schmerzen muss man aktiv werden. "Alles
bekannt!", sagt
Farwick in den Lehm. Und er steigert das Tempo, rechte Hand, linkes
Bein. Wie
weit noch? Drei Meter. Oder zwei? Falsch. Wie groß eine
Entfernung ist,
bestimmt die eigene Kraft.
Pause gefällig, Roland? Nein, danke, es geht noch.
Der dritte Schuss fällt wieder lautlos, eine
Erschütterung, als käme es von
unten. Farwick denkt sich den Knall hinzu, aber er spürt
keinen Schmerz. Wie
denn auch? Unerträgliche Schmerzen sind nicht zu steigern.
Vielleicht ging es
ja wieder ins rechte Bein, da hätte der andere aber gepatzt.
Denn das rechte
Bein wird nicht mehr gebraucht, das ist ausgeschieden. Mit anderen
Worten: Da
hat er einen richtigen Vorsprung. Und den wird er nutzen. Alle mal
hersehen!
Roland Farwick kriegt jetzt den zweiten Wind.
Er wird es schaffen. Dieses wunderbare und viel zu seltene
Gefühl, einmal
wirklich gut zu sein. Egal worin. Farwick kommt durch diesen Lehm voran
wie auf
Flügeln. Schon ist er vor dem Fenster. Hier liegt etwas
Metallisches am Boden;
jetzt bekommt er besser Luft, es schneidet ihm in die Stirn und hilft
ihm beim
Denken. Das muss ein Rost sein, über einem Schacht.
Der vierte Schuss schlägt neben Farwick in den Boden. Als
würde einer
getroffen, der ihm nahe ist. Erde spritzt hoch und gegen das Fenster.
Der andere
will also nachlegen. Aber Roland Farwick kann jetzt aus eigener Kraft
vorne
bleiben. Er zwängt die Finger der rechten Hand durch den Rost;
der Rost gibt
nach. Wohin damit? Farwick muss ihn sich seitlich über den
Kopf ziehen. Das tut
weh, er beißt die Zähne zusammen. Da packt ihn
jemand am linken Bein.
Hau ab!, will Farwick rufen. Aber er kann nicht, dafür fehlt
ihm die Luft. Und
es trifft ihn etwas am Kopf. Der Rost singt an seinem Ohr. Dahinter
schreit
einer. Am Ende der, der ihn angefasst hat. Geschieht ihm recht. Reifen
quietschten. Farwick bekommt das Gitter zur Seite, danach ist sein
rechter Arm
am Ende.
Ein Krampf natürlich. Farwick kennt das Gefühl, er
hat es nur lange nicht mehr
getroffen. "Hallo", sagt er. Muss er also jetzt kopfüber in
den Schacht. Oder
er rollt sich seitlich hinein, am besten über links, da ist ja
alles tot. Einen
Moment lang sieht er den Himmel, geteilt von einem gläsernen
Vordach, dann fällt
er, den Rücken voran, hinunter. Er kommt auf, hart und
schmerzhaft.
Gleichzeitig schlägt der fünfte Schuss in das
Fenster; jetzt endlich ist es
richtig laut, die Scheibe birst, Farwick schließt die Augen
so fest er kann,
der Splitter wegen, aber es fallen keine Splitter. Und dann ist erst
einmal
Ruhe. Zeit für eine Bestandsaufnahme.
Das Wichtigste ist immer der Kopf. Das sagt man tausendmal, und die
Leute nicken
und verstehen es nie. Farwicks Nicken, wenn Kunstfeld sprach. Roland,
du hast
nichts verstanden! Jetzt hat er verstanden, aber es gibt ein Problem.
Farwick
liegt auf seinem rechten Arm; selbst wenn der wieder wollte, er
könnte ihm
nicht helfen. Hat seine Schuldigkeit getan.
Und links ist alles weg. Farwick schließt die Augen und
konzentriert sich auf
seine linke Hand. "Antworte!", sagt er. Er ballt sie zur Faust, und aus
dem
Nichts antwortet ihm ein neuer Schmerz. Die Hand liegt ihm auf dem
Bauch.
Farwick wartet ein wenig, dann macht er, dass sie sich nach oben
arbeitet,
Richtung Kopf, am Stoff der Jacke zieht sie sich Stück
für Stück hinauf, den
Arm im Schlepptau. Als die Finger den Hals erreichen, melden sie eine
Flüssigkeit.
Sicher Blut, das war zu erwarten.
"Weiter." Die Finger bekommen sein rechtes Ohr zu fassen und ziehen
sich daran
den Schädel hinauf. Einmal rutschen sie ab, dann ist die
Stelle erreicht, zu
der Farwick will. Er sieht mit den tastenden Fingerspitzen, bis er
weiß: Der
Knochen ist heil. Da ist kein Loch in seinem Kopf. Es steckt ihm kein
Stück
Metall im Gehirn. Da ist höchstens ein Kratzer.
Farwick lacht. Über ihm das Viereck Himmel, teils heller,
teils dunkler blau,
links das zerschossene Fenster, darüber die Fassade, ein
dünner, rötlicher
Strich. Und dann schreit er, die Hand noch immer kraftlos auf der Wunde
am Kopf.
Es ist mehr ein Kreischen. Kannst du dich eigentlich niemals
anständig freuen?,
hat Kunstfeld einmal gesagt; es war nach seinem ersten Weltrekord. Was
liegst du
hier herum? Das ist doch keine richtige Freude. Du bist mir einer!
Aber jetzt kann Farwick sich freuen. Wenn er könnte,
würde er noch lauter
schreien. Denn wenn er nichts weiter sieht als den Himmel und die
Mauer, dann
sieht ihn auch der andere nicht. Und wenn der ihn nicht sieht, kann er
ihn auch
nicht treffen. Gibt keine Gewehre, die um die Ecke schießen.
"Arschloch", sagt Farwick.
Er schämt sich nicht. Besiegte Gegner verdienen jeden Spott.
Er will noch
andere Worte sagen, aber er verschluckt sich. Er müsste
husten, doch alles was
links ist will das nicht. Und dann schlägt der sechste Schuss
in die Fassade.
Splitter fallen herab und treffen ihn im Gesicht.
Wo ist der Fehler? Wo zum Teufel. Farwick drückt das Kinn auf
die Brust und
versucht den Kopf zu heben, dabei zittern seine Bauchmuskeln, als
hätte er seit
Jahren nicht trainiert. Ein erbärmlicher Zustand, aber er
sieht, worum es geht.
Seine Beine lehnen noch am Schachtrand, die Füße
ragen ein Stück ins Blaue.
Darauf zielt jetzt das Arschloch, und Farwick kann sie nicht bewegen.
Der Kopf fällt
ihm zurück, und jetzt kann er gar nichts mehr tun.
Nur sprechen kann er noch. Er sagt: "Hilfe!" Es ist nicht mehr als ein
Flüstern.
Wer sagt schon gern Hilfe! Er bereut es auch gleich und wartet auf den
nächsten
Schuss. Es hätte ein Sieg werden können, ein
wirklicher Sieg, einer, den man
nie vergisst, ein Ergebnis, das nie wieder erreicht wird.
"Hilfe", sagt er noch einmal. Da öffnet jemand das
zersplitterte Fenster und
zieht ihn aus dem Schacht.